Читать книгу Silvaplana Blue II - Wir Kinder des Grauens - Heide Fritsche - Страница 27

III.

Оглавление

Der Großvater von Ingeborg hatte vier Kinder, drei Mädchen und einen Jungen. Der Sohn war schon im neunzehnten Jahrhundert nach Amerika ausgewandert. Er hatte dort Fabriken gegründet und eine steinreiche Frau geheiratet. Das war der Millionär der Familie. Er hatte keine Kinder.

Dann wurden beide, der Onkel von Ingeborg und seine amerikanische Frau krebskrank. Sie kamen nach Deutschland zurück und kauften sich in Bodenwerder in der Nähe von Göttingen ein großes Eigentum. Dieses Eigentum wurde in der Familie das „Schloss“ genannt. Beide wurden bis zu ihrem Tod von der Universitätsklinik in Göttingen betreut.

Als Dank für diese Fürsorge, wurde die Villa oder das „Schloss“ in Bodenwerder an die Universität von Göttingen vermacht. Sie sollte als Erholungs- und Ferienort für die Ärzte der Universitätsklinik von Göttingen dienen, weil diese sich so aufopfernd um sie gekümmert hätten.

Die Universitätsklinik konnte die Unterhaltskosten für die große Villa und die Parkanlagen nicht bezahlen und verkaufte sie in den siebziger Jahren.

Bis dahin hatten die Schwestern von Herrn Schultz und ihre Familien das Recht, gratis ihre Ferien in Bodenwerder zu verbringen. Dann wurde das gesamte Vermögen aufgelöst. Jede der drei Schwestern erbte mehrere hundert Tausend Mark zur Absicherung ihres Lebensunterhalts.

Das Vermögen von Ingeborgs Mutter Olga sollten Ingeborg und ihr Bruder erben. Bertha, die drittälteste der Geschwister, war verheiratet, hatte aber auch keine Kinder. Als sie an Krebs starb, erbten ihre Schwestern Olga und Clara ihr Vermögen.

Clara, die jüngste der Geschwister, hat niemals geheiratet. Sie pflegte ihre Eltern bis zu deren Tod und erbte danach deren Vermögen. Nach ihrem Tod sollte ihr Vermögen an Ingeborg und ihren Bruder gehen. Allerdings bestand zwischen Clara und Ingeborg keine direkte Erbfolge. Clara konnte prinzipiell mit ihrem Geld machen, was sie wollte.

Sechzehn Jahre später tat Clara das auch. 1967 konnte mein Vater das noch nicht ahnen. Die Tatsachen, die er damals erfuhr, waren, dass er vier ältere Damen kennen gelernt hatte, die alle potentiell dicke Erbschaften machten, die aber alle nicht mit Geld umgehen konnten und die er alle beerben konnte.

Mein Vater war in seinem Element. Er fand Zugang in die feine Bremer Gesellschaft und gleichzeitig konnte er sein finanzielles Talent voll ausschöpfen. Die Frau wurde dabei als das geringste Übel aufgefasst.

Es kam anders, denn Ingeborg hatte einen speziellen Charakter: Sie war mit Lust und Freude ein boshafter Mensch. Intrigen, Lügen und Betrügen waren ihre Elemente.

Es gibt Psychopathen und es gibt lustvoll boshafte Menschen, lustvolle Lügner, lustvolle Diebe, lustvolle Mörder, lustvolle Betrüger. Gemein ist ihnen allen, dass das Unglück des anderen für sie lebensnotwendig ist, denn das beweist ihre eigene Überlegenheit, das erhöht ihren eigenen Wert und ihr eigenes Selbstwertgefühl. Theodor gehört auch in diese Kategorie.

Ob Ingeborg einen neurotischen Charakter hatte oder nicht, ist völlig unwesentlich, denn sie hatte viel zu lustvoll andere Menschen beleidigt und anderen geschadet, als dass sie sich hierüber jemals angelogen hätte. Unter Verdrängungen leiden solche Menschen niemals. Psychosen können lustvoll boshafte Menschen erst gar nicht entwickeln, weil es ihre größte Lebensfreude ist, sich an ihre Boshaftigkeiten und Gemeinheiten zu erinnern.

Dieses psychische System funktioniert so lange, wie diese Menschen jemanden haben, den sie treten können, auf den sie spucken können, den sie schaden können und auf den sie mitleidig hinunter sehen können. Darum sind diese Menschen notorisch geizig oder geldgierig oder machtgierig oder alles zusammen. Das sichert ihnen den Zugang auf und die Kontrolle über die, die von ihnen abhängen.

Ingeborg ist vierundneunzig Jahre alt geworden. Als ich sie kurz vor ihrem Tod besuchte, habe ich noch einmal die Höhepunkte ihres Lebens zu hören bekommen. Sie kramte aus ihren Erinnerungen ihre schönsten Geschichten hervor. Einer dieser Höhepunkte war ihre Reise nach Frankreich.

Meine Schwester wohnte mit einem Franzosen in der Nähe von Paris zusammen. Mein Vater und Ingeborg besuchten sie in den achtziger Jahren. Bei diesem Besuch nörgelten sie an allem herum.

Sie beschwerten sich über das Essen. Der Mann meiner Schwester war ein Gourmet. Essen war für ihn keine Ernährung, das war für ihn ein Kult, ein „savoir vivre“, das war die Kunst zu leben. Dann kamen diese germanischen Banausen und nörgelten an seinen Essensgewohnheiten herum. Der Hieb saß.

Ingeborg und mein Vater sprachen herablassend über die Franzosen. Der Mann meiner Schwester war Patriot. Der Hieb war tödlich.

Meine Schwester und ihr Mann lebten im Westen vom Großraum von Paris. In Frankreich gibt es Franzosen und Pariser. Ein Pariser ist die Inkarnation eines Franzosen, aber ein Franzose ist noch lange kein Pariser. Wer diesen Unterschied nicht zu würdigen weiß, ist ein Babar.

Ingeborg und mein Vater wussten nichts und verstanden gar nichts. Sie langweilten sich. Die Umgebung von Paris? Totlangweilig! Hier gab es nichts, was einen gebildeten Menschen interessieren könnte. Wieso meine Schwester ausgerechnet nach Frankreich umgezogen war, konnten sie überhaupt nicht verstehen. Dann lebte sie auch noch mit einem Franzosen zusammen … also, ich hatte wenigstens noch einen Norweger geheiratet, aber ein Franzose? Wie konnte sie bloß mit einem Franzosen zusammen leben? Der Mann meiner Schwester explodierte vor Wut, aber er konnte die Eltern seiner Frau nicht einfach rausschmeißen.

Ingeborg lachte wiehernd, als sie mir das erzählte. Da war sie vierundneunzig Jahre alt: „Dein Vater und ich, wir haben Tränen gelacht. Das war herrlich.“ Das war das letzte Mal in ihrem Leben, wo sie schallend gelacht hat. Danach starb sie.

Diese Erzählung hat mich weder überrascht, noch aufgeregt. Das war für mich nichts Neues. Wenn sie nach Norwegen kam, hat sie sich genauso benommen. Unter ihren Forderungen, Ansprüchen und Boshaftigkeiten bin ich körperlich zusammengebrochen. Das war eine rein physische Überanstrengung, psychisch hat sie mich nicht erschüttern können, ich habe die Frau zu tief verachtet.

Ihre letzten Worte vor ihrem Tod waren: „Heidi, kannst du mir noch einmal verzeihen?

Ich habe ihr daraufhin hoch und heilig versichert: „Tante Ingeborg, ich habe Dir nichts zu verzeihen.

Das war die Wahrheit, für mich gab es nichts zu verzeihen. Die Frau war mir zu gleichgültig, als dass sie mich hätte treffen können. Auf das Niveau habe ich mich nicht eingelassen. Ich bin weggegangen oder weggefahren, wenn sie bösartig wurde. Ich habe den Hörer aufgelegt oder das Gespräch unterbrochen, wenn sie am Telefon zu sticheln anfing.

Militärisch gesagt: Ich bin in Deckung gegangen, wenn Angriffe kamen. Ich bin ausgewichen, wenn Ingeborg mit Boshaftigkeiten um sich schoss. .Bei mir hat sie in die leere Luft geschossen. Das wusste sie. Das konnte sie aber nicht begreifen. Sie hatte alle terrorisiert, auch meinen Vater. Sie hatte über alle Kontrolle.

Ihre Seele war nicht von traumatischen Erlebnissen deformiert wie die meiner Mutter, Ingeborg war von Hochmut und Dummheit deformiert. Mit ihren Bosheiten war sie genauso stereotyp und rigide wie der verrückte Sexualverbrecher mit seinem Fahrrad.

Als mein Vater starb, wurde der liebe Gott ihr „Papi“, der ihr alles verzeihen musste, ganz automatisch. Das war sein Job. Aber ganz traute sie ihm doch nicht, ich sollte auch noch ein gutes Wort einlegen: „Heidi, kannst du mir noch einmal verzeihen?

Außerdem hatte sie noch die Tochter eines Pfarrers engagiert. Man kann nie wissen, besser ist besser. Irgendwie wird sich Gott wohl breitschlagen lassen.

Sie hat nicht begriffen, dass sie ihre Boshaftigkeiten mit sich selber hätte abmachen müssen. Sie hätte sich selber verzeihen müssen. Doch die Einsicht in ihre eigene Seele war ihr durch Hochmut und Dummheit versperrt. Das konnte sie nicht begreifen.

Dennoch hatten ihre Boshaftigkeiten weit reichende Konsequenzen für mein Leben.

Silvaplana Blue II - Wir Kinder des Grauens

Подняться наверх