Читать книгу Silvaplana Blue I - Auch ich war einst in Arkadien - Heide Fritsche - Страница 10
V.
ОглавлениеDeine Todesanzeige war vom Januar 2012. Da fing ich an zu träumen, da bist Du in meinen Träumen erschienen. Von da an hast Du mich verfolgt, Tag und Nacht. Du bist so gegenwärtig wie eine anwesende Person, wie ein lebender Mensch.
Zuerst, als ich die Daten im Internett fand, verschwanden meine Träume. Der Schmerz schrie in mir. Der Schmerz schreit in mir in der Nacht.
Diese Todesanzeige ist ein elektrischer Schock. Der Schock foltert mich. Ein lähmendes Gefühl der Ohnmacht verkrampft mein Denken. Wenn diese Verkrampfung sich löst, weine ich. Meine Tränen kristallisieren zu Salz.
Tränen sind die Tropfen, die Lots Frau vergaß, als sie sich umschaute. Sie sah nichts, sie hörte nichts, sie schrie im Schweigen, sie erstarrte im Schweigen.
Ich habe ein ganzes Leben lang versucht, mich umzudrehen und zu sehen und jedes Mal bin ich aufs Neue versteinert. Ich vergaß meine Tränen und meine Seele wurde zur Salzsäule.
Wenn ich versuchte, mich umzudrehen, wenn ich versuchte, mich zu erinnern, sah ich nichts als die zu Salz erstarrten Tränen. Gestorbene Seelen können nicht reden.
Der Schmerz hat keine Worte, er schreit in sich selbst, er schreit nur sich selbst. Der Tod hat keine Worte. Er schweigt in sich selber. Meine Worte verlieren sich im Traum und im Schweigen.
Ich versuche, das Nicht-Mehr-Konkrete ins Konkrete zu transportieren. Ich versuche, im Nicht-Mehr-Wirklichen Wirklichkeit zu finden. Ich versuche, die Realität Deiner Wirklichkeit im Traum zu erfassen.
Der Traum ist das Fenster zu unserer Seele über unser Bewusstsein hinaus. Das Undenkbare können wir nicht denken, aber wir können es träumen.
Wir gehen in unseren Träumen über uns selber hinaus. Unsere Träume sind Sehnsucht und Vision. In unseren Träumen erfahren wir die Ahnung einer anderen Welt.
Wirklichkeit, als das Konkrete haftet nur an sich selbst. Wirklichkeit ist gefangen in den Grenzen ihres eigenen Konkret-Seins. Wirklichkeit träumt sich nicht selbst, Wirklichkeit ist im Traum aufgehoben. Das Konkrete geht nicht über sich selbst hinaus. Das Konkrete ist im Unkonkreten annulliert.
In Silvaplana träumte ich nicht. Ich träumte keine Zukunft, ich suchte kein Darüber-Hinaus. Erst in der Zerstörung meines Seins lernte ich, mich neu zu finden. Erst als mein Leben und meine Lebensgrundlage vernichtet wurden, lernte ich, mich neu zu erfinden. Erst in der Eliminierung meines Seins, im Nicht-Mehr-Sein wurde der Traum meine Rettung, erst hier konnte ich ein neues Sein aus dem Nichts schaffen.
Wenn wir alles haben, sind wir uns selber genug. Wenn wir alles verlieren, müssen wir uns in unserer Vorstellung und Imagination neu träumen. Ich bin ein ganzes Leben lang von einem Tod zum anderen gegangen, um mich immer wieder in meinen Träumen neu zu finden und neu zu erfinden.
Mit Deinem Tod verlor ich Arkadien. Mit Deinem Tod verlor ich meine Jugend. Mit Deinem Tod starb die Hoffnung. Mit Deinem Tod kamst Du zu mir. Nach Deinem Tod sah ich Dich wieder.
Ich versuche, Vergangenes wieder zu finden. Scherbenlese! Das sind Erinnerungen wie Seifenblasen, die mich umgaukeln und zerplatzen. Nur der Schmerz bleibt, die Unmöglichkeit zurück zu gehen, die Unmöglichkeit, Dich wieder zu sehen. Ich finde nichts als Dein Grab.
Du warst an die Berge gebunden. Du warst in den Bergen verhaftet. Du hattest im Engadin Deine Wurzeln. Ich suchte immer das Unmögliche. Ich wollte immer über mich hinauswachsen, ich wollte immer weiter gehen. Ich verlor mich ins Weite, ins Licht, das blendet.
Du lehrtest mich, das Licht vom Engadin zu sehen und zu begreifen. Dieses Licht kreiert Farbpartikeln. Diese Farbpartikel formen sich zu Bildern und Visionen in uns. Das Licht gebiert als Vorstellung und Imagination eine glitzernde Wirklichkeit in uns.
Ich begriff das Licht des Engadins, diese physisch gegebenen Bedingungen, die sich im Cluster meiner Nervensysteme zu Innenwelt konstituieren und im reflexiven Erfassen meines Bewusstseins als Außenwelt kreiert und gemeint werden. Ich begriff Innenwelt als reflexives Erfassen und Transformieren von Außenwelt, als eine Umwandlung physikalischer Gesetze in imaginierte Landschaften.
Aber dieser Prozess war mir verbal nicht zugänglich. Der Prozess der Erkenntnis erstarrte in meiner traumatisierten Seele. Ich musste Arkadien verlassen, um mein Trauma aufzulösen. Ich musste lernen, mein Trauma zu verbalisieren.
„Am Anfang war das Wort …“, steht im Johannis Evangelium. Das Wort ist auch der sich selbst begreifende Mensch. Der Mensch sagt „Ich“ und setzt dieses Ich als Ding in die Welt. Das Wort kreiert den Menschen. Es konstituiert Sein. Das ist der Anfang jeder individuellen Welt.
In meiner Sehnsucht tanze ich auf dem Licht des Engadins. In meiner Sehnsucht tanze ich mit den Lichtpartikeln über mein Alter, über alle Zeiten und über alle Tränen hinweg. Auch meine Sehnsucht ist konkret. Aber die Sehnsucht geht im Konkret-Werden über sich selbst hinaus. Das Konkret-Sein der Sehnsucht, die sich im Über-sich-Hinausgehen konkret erfüllt, ist das Paradox unseres Seins.