Читать книгу Silvaplana Blue I - Auch ich war einst in Arkadien - Heide Fritsche - Страница 9

IV.

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Ich träumte, wieder und wieder. Die Träume verfolgten mich. Das sind Träume ohne Gesichter. Das sind Ahnungen und Fetzen von Emotionen. Das sind Bilder, die sich überlagern, die einander auslöschen, die aufeinander folgen. Das sind Bilder, die zerbröckeln. Das sind Visionen der Nacht, die sprechen ohne Sprache. Das sind Masken im Schweigen, das sich schweigt. Das ist das Vergessen, das lebendig wird. Das ist Vergessen ohne Worte. Worte schmerzen. Bilder liebkosen und umgaukeln mich. Das sind Almosen der Erinnerung von einem zerbrochenen Leben. Das sind Bilder von Wünschen und Sehnsucht. Das sind Wahn und Phantasmagorien. Das sind Träume wie Blei.

Ich wollte wissen. Ich wollte den Bildern einen Namen geben. Ich kramte in meinen Büchern, in alten Fotos, Dias und Erinnerungen. Ich hätte Dir schreiben sollen. Das war ich Dir schuldig. Die Scham machte mich stumm.

Dann kam die Angst, unmotiviert, ein Klumpen in der Seele. Wo warst Du? Was machst Du?

Ich googlete. Die Informationen, die wir heute durch Google, Wikipedia, Facebook, Twitter, Instagram, Yous Tub und alle mehr oder weniger bezahlten und professionellen Informationsquellen im Internett zusammen sammeln, twittern, bloggen, googlen, trommeln und pfeifen können, gehen auf keine Kuhhaut. Das Problem ist die Informationsverarbeitung. Was ist angemessen? Was ist relevant? Was ist richtig? Was ist wahr? Was ist ethisch und moralisch verantwortlich? Denn, wie viele Männer mit Deinem Namen gibt es?

Ich fand Bilder von Männern, die Deinen Namen haben. Das sind Männer von Zürich. Das passt zur Dir, aber sonst gar nichts. Kein Erkennen und keine Erinnerungen werden lebendig, kein Funken springt über.

Ein Man sieht aus wie eine ältere Ausgabe von Dir, wie eine ältere Ausgabe vom siebzehn Jahre alten Gian von Silvaplana, aber die Körperhaltung ist anders und auch in den Augen ist etwas, was mir fremd ist. Nach seinen Lebensdaten könnte es Dein Sohn sein, aber das bist nicht Du.

Es gibt im Internett auch Bilder von einem anderen Mann mit Deinem Namen. Bist Du das? In mir ist nichts als Zweifel. Dieser Mann hat auf dem Bild im Internett die Muskelpakete der Arme vor der Brust verschränkt. Signal: Bis hierhin und nicht weiter! Oder: Na und? Na bitte? Lässige Nonchalance. Er repräsentiert was? Die Ausstrahlung einer Erfolgsstory?

Meine Zweifel werden zur Abwehr und Selbstverteidigung. Das kannst Du nicht sein. Auch wenn siebenundvierzig Jahre vergangen sind, kann ein Mensch sich nicht so verändern, ein Kern bleibt. Die Seele des Menschen liegt in den Augen. Dieser Mann hat fremde Augen.

Auf allen Bildern, die ich von Dir habe, sind Deine Augen ernsthaft, zu ernsthaft für Dein Alter, ruhig, zu ruhig für die Hektik um Dich, fragend. Wonach? Deine Augen sind jung und unschuldig. Du schaust mich nachdenklich an, traurig. Resigniert? Schon mit siebzehn Jahren? Warum?

Du lächelst nicht. Du lächelst niemals. Du flirtest nicht. Du flirtest niemals. Und trotzdem ... Du warst da, immer, jeden Tag, jeden Abend, jede Nacht. Du warst kein Traum, keine Phantasie, Du warst Du. Wusstest Du es? Ich wusste es nicht.

Der Mann im Internett mit Deinem Namen hat spöttische Augen, leicht ironisch und leicht zynisch. Das sind nicht Deine Augen. Du warst niemals zynisch. Zynismus ist ein tödlicher Bumerang: er tötet den anderen, er tötet uns selber. Auch daraus hätte ich wachsen können, vielleicht. Aber auf wie viele Arten müssen wir sterben, um leben zu können?

Es gibt noch andere Daten mit Deinem Namen, Hinweise auf Silvaplana. Das sind Hinweise ohne Bilder und ohne Adresse. Auch stimmen die Namen nicht, da sind Zwischennamen und Doppelnamen, die ich nicht kannte und nicht kenne.

Dann kam der Schock. Ich habe die „Engadiner Post“ gelesen. Da fand ich Deine Todesanzeige.

NEIN!

Das kann nicht wahr sein, das darf nicht wahr sein. Du warst viel jünger als ich. Du bist zu jung, um zu sterben.

Du warst sechs Jahre, vier Monte und zwei Tage jünger als ich. Darum bin ich vor Dir weggelaufen. In meinem Kopf spukte das abgestandene Klischee von Jokaste. Das passte nicht zu mir. Das passte nicht zu Silvaplana.

In Silvaplana wurde getuschelt. In Silvaplana wurde geklatscht, ich gäbe mich mit kleinen Jungen ab. Die kleinen Jungen, das ward Ihr, das war Dein Freund Peter und das warst Du.

Alle Informationen kamen in Silvaplana in der Bar zu mir. Alle gaben sich in der Bar am Engadinerhof ein Stelldichein. Jeder klatschte mit jedem, jeder klatschte über jeden. Manchmal amüsierte mich der Klatsch, meistens war er mir gleichgültig. Ich hatte kein Begriffsvermögen und keine Kenntnisse von diesem Netzwerk von Verwandtschaften, Freundschaften, Feindschaften, Beziehungen, Boshaftigkeiten und sozialer Abhängigkeit, wie es sich im Klatsch, in den Erzählungen, Informationen, Gerüchten und Skandalen von Silvaplana präsentierte. Ich hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, ich musste arbeiten. Ich war in Silvaplana, um Geld zu verdienen. Alles andere interessierte mich nicht.

Das Dorf interessierte mich nicht. Das Dorf existierte nicht in meiner Vorstellungswelt. Das Oberengadin war für mich ein Bilderbuch mit Geschichten, die man liest und wieder vergisst. Ich habe gleichgültig alles von mir abgeschüttelt, glaubte ich.

Doch die Wirklichkeit lief auf Schritt und Tritt hinter mir her und verfolgte mich. Wir kreieren Wirklichkeit aus unserem Vorstellungsvermögen. Aber unser Vorstellungsvermögen ist ein Wahn, der geboren wurde als Projektion unserer Umwelt. Er entsteht in Abhängigkeit von der Wirklichkeit aller anderen Menschen um uns herum.

Silvaplana Blue I - Auch ich war einst in Arkadien

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