Читать книгу Silvaplana Blue I - Auch ich war einst in Arkadien - Heide Fritsche - Страница 7
II.
ОглавлениеWir waren jeden Tag zusammen, in der Bar, in Silvaplana, in Museen und Ausstellungen in St. Moritz. Wir schlenderten herum, ziellos, zeitlos, weltvergessen. Wir atmeten im gleichen Rhythmus, wir gingen im gleichen Rhythmus, wir tanzten im gleichen Rhythmus, wir schwiegen im gleichen Rhythmus. Wir interessierten uns für die gleichen Dinge. Wir diskutierten und sprachen zusammen, stundenlang, tagelang, nächtelang, wochenlang, von der Schweiz, von den Rätoromanen, vom Engadin, vom Tourismus, von der Schweizer Geschichte und Politik, von Organisationen, Verfassungen, von Eurem Militärdienst und von den täglichen Problemen, die ihr bewältigen musstet.
Du erzähltest von Dir und von Deinem Leben. Aber wir sprachen nicht von mir und meinem Leben. Mein Leben existierte in Silvaplana nicht, meine Vergangenheit existierte nicht, nicht für mich, nicht für Euch, für niemanden.
Du warst jung. Du warst zurückhaltend. Du warst diskret. Du fragtest mich nicht. Niemand fragte mich.
Warum dann sprechen? Worüber? Mein Leben war kein Gesprächsthema, nicht für mich. Ich hatte kein Leben, über das es sich zu sprechen lohnte, glaubte ich.
Ich lebte, um zu überleben. Wie? Danach fragte keiner. Darum kümmerte sich keiner. Die Menschen wechselten, denen ich begegnete. Die Umstände wechselten, die ich bewältigen musste. Die Orte wechselten, wo ich überleben konnte. Ich war hier, ich war da, ich war nirgendwo. Eine Episode nach der anderen verschwand hinter mir. Was blieb, war Vergessen.
Schmerzen? Hunger? Einsamkeit? Tod? Das hat er nie gegeben. Ich drehte mich um und vergaß, einen Tag nach dem anderen, eine Episode nach der anderen, einen Menschen nach dem anderen. Die Menschen, die mich verließen und die ich verlassen musste, schob ich gleichgültig zur Seite, ich vergaß. Die Menschen, die mich schlugen, die mich hungern ließen und die mich ausnutzten, lies ich hinter mir liegen. Diese Menschen hatte es für mich niemals gegeben. Das Hinter-mir-Lassen, das Vergessen wurde zur Gewohnheit, es wurde Routine. Auch das Engadin habe ich hinter mir gelassen und vergessen, glaubte ich. Ich habe mich getäuscht, das Verdrängte kam wieder, in der Nacht als Traum, Vision und Phantasmagorie.
In Silvaplana hatte ich keine Zeit, in Nostalgien zu verweilen. Ich lebte im Hier und Heute, nicht im Gestern. Ich verspürte kein Verlangen, in Erinnerungen zu schwelgen. Erinnerungen schmerzten. Ich vergaß einen Tag nach dem anderen. Ich vergaß das Gestern, ich vergaß jedes Gestern, je schneller, umso besser. Ich schüttelte meine Vergangenheit von mir ab, ich schüttelte jede Vergangenheit von mir ab.
Ein Mensch nach dem anderen verschwand aus meinem Leben. Mit jedem Menschen verschwand ein Teil meines gelebten Lebens. Kein Mensch interessierte sich dafür. Darum interessierte es mich nicht. Keiner fragte mich danach. Warum dann sprechen? Mit wem? Über was?
Ich lebte von einem Tag zum anderen. Ich überlebte. Ich überlebte eine Kindheit, die keine war. Ich überlebte eine Jugend, die keine war. Ich lebte trotz alledem. Ich lebte im Trotz. Ich hatte nur meinen Trotz. Ich handelte im Trotz und aus dem Trotz heraus: Wenn mich alle Menschen wie einen Gegenstand behandelten, ausnutzten und wegschmissen, konnte auch ich alle Menschen wegschmeißen. Wenn mich alle Menschen verließen, konnte auch ich alle Menschen verlassen.
Kinder sind die schwächsten Glieder einer Gesellschaft. Kinder, die alleine überleben müssen, werden von allen ausgenutzt, sie werden von allen herumgeschubst und herumgestoßen.
Ich wurde herumgeschubst. Das akzeptierte ich nicht. Ich lernte, dagegen zu kämpfen. Ich wurde von allen verlassen. Das akzeptierte ich nicht. Ich ließ alle und alles hinter mir. Ich wurde geschlagen. Das akzeptierte ich nicht, ich wehrte mich. Meine Mutter schrie und wütete. Das akzeptierte ich nicht, ich drehte mich um, ließ sie schreien und ging weg. Sie versuchte zweimal, mich umzubringen. Das akzeptierte ich nicht, ich schob sie, ich schob die Ereignisse als Alpträume zur Seite. Ich vergaß und verdrängte. Ich kämpfte weiter, alleine, trotz alledem.
Ich verlor den Kontakt mit meiner Mutter. Ihren Mann akzeptierte ich nicht. Ich sprach nicht mit ihm. Ich gab ihm nicht die Hand. Ich grüßte ihn nicht. Ich setzte mich nicht an denselben Tisch mit ihm. Ich wollte lieber hungern. Meine Mutter schrie mich an. Meine Mutter tobte. Meine Mutter prügelte mich. Bei meiner Mutter durfte ich mich nicht mehr sehen lassen. Ich lebte trotz alledem.
Ich verlor den Kontakt mit meinem Vater. Mein Vater heiratete zum dritten Mal. Seine neue Frau wollte mich nicht in ihrem Haus sehen. Sie hatte genug Probleme mit sich selber. Dann eben nicht, ich hatte genug Probleme mit mir selber. Meine Eltern lebten ihr eigenes Leben. Ich lebte mein eigenes Leben.
Ich war alleine für mich verantwortlich. Das war mein Status quo als ich nach Silvaplana kam. Ich versorgte mich alleine. Ich war unabhängig. Ich brauchte bei niemanden zu betteln. Ich fühlte mich stark. Ich war niemals schwach, glaubte ich. Ich fühlte mich allmächtig. Ich wurde arrogant. Diese Arroganz war blind. Ein Blinder kann seine Zukunft nicht sehend projizieren. Daran bin ich zerbrochen.
Denn dieses Nicht-Akzeptieren meiner Verlassenheit, der Kampf gegen die Gleichgültigkeit der Menschen, gegen ihren Egoismus, ihre Unbeherrschtheit und Brutalität war Aufruhr gegen, ja! aber es war auch Flucht davor, es war auch Verdrängung. Diese Menschen waren nicht wahr, nicht für mich. Ihr Schreien und Toben waren nicht wahr, das konnte nicht wahr sein. Mein Hunger und meine Verlassenheit waren nicht wahr. Das hat es niemals gegeben. Sowas konnte es nicht geben. Mein ganzes gelebtes Leben hatte es niemals gegeben. Ich löschte jede Erinnerung in mir.
Im Vergessen verschwand meine Vergangenheit. Ohne Vergangenheit wusste ich nicht, woher ich kam. Darum wusste ich auch nicht, wohin ich ging. Meine Seele versandete in Orientierungslosigkeit.
Mein Trotz, mein Widerstand halfen mir zu überleben. Bei jeder Gefahr, die ich witterte, verschwand ich. Ich wehrte mich mit allen Tricks und allen Finten, skrupellos. Aber ich überlebte in der Verdrängung, ich überlebte in der Verblendung und Versteinerung meiner Seele.
Ich fühlte mich klug. Ich fühlte mich nüchtern denkend. Warum sollte ich in Erinnerungen verweilen, wenn jede Erinnerung schmerzte? Warum sollte ich über eine Vergangenheit sprechen, die ich hasste und die mich anwiderte? Ich wollte nicht im Dreck meiner Kindheit und Jugend hängen bleiben. Daran und dafür arbeitete ich jeden Tag bis zu achtzehn Stunden. Da blieb keine Zeit für ein überflüssiges Verweilen in den Schmerzen von Gestern. Ich hatte wichtigere Dinge zu tun. Ich musste leben, überleben und weiterkommen. Meine nüchtern kalkulierenden Überlegungen waren eine nüchtern kalkulierende Verdrängungen.
Die Verdrängung löscht das Bewusstsein vom menschlichen Geworden-Sein. Das fand ich genial. Das empfand ich als wohltuend. Das Vergessen war für mich ein Narkotikum. Das war mein Fluchtweg. Das war meine Rettung, glaubte ich.
Es war genau das Gegenteil. Denn was es nicht gibt, kann nicht reflexiv erfasst, begriffen, verbalisiert, bearbeitet und verarbeitet werden.
Die Verdrängung hat keine Sprache. Das wusste ich nicht. Nicht einmal das Wissen um die Verdrängung war mir begrifflich zugänglich.
Doch mein gelebtes Leben lief als Grauen, Entsetzen, Alptraum und Angst hinter mir her. Diese Angst beherrschte mich und meine Entscheidungen. Ich wusste nicht, was in mir schmerzte. Mein Schmerz war mir reflexiv nicht zugänglich. Ich konnte weder mich noch meine Schmerzen reflexiv begreifen. Darum konnte ich meine Verlassenheit, meine Angst und Einsamkeit nicht objektivieren. Ohne Objektivierung dieser Angst und Verlassenheit wurde ich zum Opfer eben dieser Angst und Verlassenheit. Das war mein unbewältigtes Trauma.
Ich begriff meine Angst, Verlassenheit und Einsamkeit nicht, darum beherrschte ich mein Trauma nicht, darum beherrschte mein Trauma mich.
Das war eine Psychose. Meine Psychose diktierte meine Entscheidungen. Aus der Verdrängung meines Traumas folgten meine Fehlentscheidungen und Irrtümern. Wegen der Verdrängung dieses Traumas wurde ich das Opfer von Psychopathen.
Jetzt muss ich den Weg in den Schmerz zurückgehen. Ich muss wieder an den Ort meines Traumas ankommen, um von hier aus neu starten zu können.
Dieser Dialog mit Dir ist mein Weg zurück in die Zerstörung meines Lebens, es ist Trauerarbeit. Ich muss mir Rechenschaft über meine Irrtümer und Fehlentscheidungen ablegen. Ich muss meine Erniedrigung und mein Versagen als mein Leben anerkennen. Ich muss meine Fallhöhe ausloten. Dieser Dialog entsteht im Schmerz der menschlichen Hilflosigkeit, er entsteht im Schmerz des menschlichen Unvermögens und der Vergänglichkeit.