Читать книгу Silvaplana Blue I - Auch ich war einst in Arkadien - Heide Fritsche - Страница 13

I.

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Ich habe in Silvaplana gearbeitet. Das war während meiner Sommerferien. Ich habe in allen Ferien gearbeitet. Es gab keinen Platz, wohin ich hätte fahren könne. Ich kannte keinen Menschen, zudem ich hätte gehen können.

Ferien als Luxus? Ferien als Erholung? Ferien als Amüsement und Freizeit? Was ist das? Ich musste arbeiten. Meine Schulausbildung und mein Studium habe ich selber finanziert.

Im Sommer 1967 hatte ich einen Sommerjob am Engadinerhof in Silvaplana. Was dieser Job beinhaltete, war zunächst unklar, das konnte alles sein, vom Tellerwaschen bis zum Zimmeraufräumen und Putzen. Dergleichen Jobs hatte ich während meiner ganzen Schulzeit gehabt. Ich habe bei der Bundesbahn im Speisewagen gearbeitet, am Bahnhof in Dortmund, in Hotels in Dortmund, in Privathaushalten, am Max-Planck-Institut in Dortmund, im Sommerlager der Lutheran Church in England und anderswo.

Bis auf die Hausdame und Chefin des Hotels, einen Koch und einen Hausknecht waren in Silvaplana während der Sommerzeit alle anderen Saisonangestellte. Alle waren junge Mädchen, ungefähr zwanzig Jahre alt. Alle diese Mädchen waren vor mir angekommen und hatten sich die Jobs ausgesucht, die ihnen am besten gefielen. Sie halfen in der Rezeption, sie halfen beim Servieren, sie räumten die Zimmer auf und putzten.

Keine von ihnen wollte in der Bar arbeiten. In der Bar mussten sie jede Nacht bis zwölf Uhr oder länger arbeiten. Sie waren jeden Abend an den Arbeitsplatz gebunden und konnten nicht ausgehen. Sie konnten keine Freunde treffen, sie konnten keine Männer kennen lernen, sie konnten nicht flirten, tanzen und sich amüsieren. Für einige war das der Hauptzweck ihres Aufenthaltes in Silvaplana.

Über tausendachthundert Meter hoch in die Berge zu fahren, um Männer kennen zu lernen und zu flirten, fand ich absurd. Hier gab es prozentual mehr Bäume, Sträucher und Steine als Männer. Auch Logik hat individuelle Varianten.

Welche Arbeit ich verrichten sollte, war mir egal. Ich hatte zwei Berufsausbildungen abgeschlossen, ich hatte unzählige Jobs übernommen, ich hatte als Fotograf, Fotolaborant, Verkäuferin, technische Hilfsassistenten in der Histologie, Arzthelferin, Hilfskrankenschwester, Buchhalterin, Tellerwäscherin, Kellnerin und Putzfrau gearbeitet. Ich war ein Hans Dampf in allen Gassen.

In einer Bar hatte ich noch nie gearbeitet, aber es war offensichtlich kein Kunststück, Getränke einzuschenken, für Musik zu sorgen, Gläser zu waschen, die Bar in Ordnung zu halten, zu servieren, Gäste zu unterhalten und andere Banalitäten.

Die ersten Tage waren in der Bar turbulent. Die männliche Bevölkerung der gesamten Umgebung gab sich am Engadinerhof ein Rendezvous.

Silvaplana hat sich verändert. Seit 1967 sind neue Häuser und Hotels hinzugekommen. Hinter der Kirche, vor dem Engadinerhof und um den Engadinerhof herum ist das gesamte Areal ausgebaut. An diesen baulichen Veränderungen gemessen scheint sich die Einwohnerzahl des Dorfes verdoppelt zu haben.

Laut „Engadiner Post“ vom Januar 2012 hatte Silvaplana 2011 einhundert und zwei feste Einwohner. 2012 kamen acht neue Einwohner hinzu. 1967 kann es darum in Silvaplana kaum achtzig Einwohner gegeben haben.

Schätzungsweise waren von diesen achtzig Einwohnern dreißig Prozent Kinder, vierzig Prozent Frauen und dreißig Prozent Männer. Zehn Prozent der Männer können Greise gewesen sein. Wenn an einem Abend in einer Bar in Silvaplana fünfzig bis siebzig Männer mit einem Durchschnittsalter von vierzig Jahren auftauchen, darf man sich wundern, woher die angeströmt kamen.

Ich wunderte mich nicht. Das gehörte nicht zu meinem Job. Für Überflüssigkeiten hatte ich keine Zeit. Außerdem hatte ich keine Vorstellungen von Silvaplana, von der Umgebung oder von der Schweiz ganz allgemein. Aber in der Bar und im Hotel wurde geklatscht.

In der Wintersaison gäbe es viele Touristen im Engadin, wurde mir gesagt. Da wäre die Bar genauso voll. In diesem Sommer war aber nur eine Familie aus Italien zu einem längeren Aufenthalt am Engadiner Hof. Die habe ich nie in der Bar gesehen. Der Rest waren Durchreisende, die eine Nacht blieben, vielleicht zwei oder drei Nächte. Das waren sporadische Besucher, ohne Resonanz.

In der Turbulenz dieser ersten Tage und Wochen haben sich bei mir nur zwei Gesichter eingeprägt. Das eine war der alte Dorfpolizist. Er kam jeden Abend, bekam auf Kosten des Hauses einen Grappa - auf ausdrücklichen Befehl meiner Chefin -, hörte sich die Musik von „Dr. Schivago“ an, setzte sich sein Käppi wieder auf, grinste, grüßte und verschwand. Das war die Demonstration der Ruhe und Ordnung von Silvaplana. Der Dorfpolizist hatte seine Pflicht erfüllt, alles war kontrolliert. Damit war der Tag beendet.

Um zwölf Uhr nachts war ich dafür verantwortlich, dass alle die Bar verließen und dass alle Türen im Hotel abgeschlossen wurden. Nach zwölf Uhr war ich auch für den Empfang spät ankommender Gäste zuständig.

Die ersten Tage waren in der Bar so hektisch, dass ich weder Zeit zum Mittagessen noch für einen Abendimbiss hatte. Der Koch, Italiener, genauso gutmütig wie rund, mit Frau und Kind, hatte mir vorsorglich eine Platte mit diversen Delikatessen zur Seite gestellt. Ausgehungert fiel ich darüber her.

Alles war stille. Kein Auto auf der Straße, keine Schritte auf dem Parkplatz vor dem Hotel, keine Menschen draußen, kein Laut im Hotel. Silvaplana á la Nachtlager von Granada: „wenn die Welt im Schlummer liegt“.

Plötzlich ging die Tür zur Bar auf. Ein Gast, der sich verirrt hatte oder durstig war? Ein Mondsüchtiger?

An Einbrecher und Überfall glaubte ich nicht. Silvaplana ist ein Dorf. In einem Dorf passt jeder auf jeden auf, auch im Dunkeln. Das ist kein Milieu für Einbrecher. Die Dorfmentalität lag mir vom Bauernhof meines Vaters her im Blut. Solches Gesindel bekam die Mistgabel ins Gesicht, einen Biss vom Hund ins Bein und einen Tritt in den Hintern.

Ein Mann kam herein, lächelte höflich, setzte sich ohne Aufforderung an meinen Tisch und stellte sich vor. Es war der Polizeichef von Chur.

Großes Staunen: „Wie kommen Sie hier rein? Alles ist abgeschlossen. Wenn ich kontrolliere, so kontrolliere ich. Da gibt es keine Hintertüren.“

Er käme überall rein, sagte er mir.

Überall? Wo überall? Was heißt überall? In hunderten von Häusern, Hotels, Geschäften? Ein riesengroßes Schlüsselbund an der Hüfte – klirr – klirr - …? wie eine Märchenfigur, die nachts durch zugige Schlösser streift und mit Gespenstern kämpft? Ich war imponiert. So was gab es also auch! Ich fragte nicht, ich staunte.

Er kam öfters. Ich gewöhnte mich daran.

Alle anderen fünfzig bis hundert Männer unterschieden sich für mich nur darin, ob sie klein, groß, dick oder dünn waren, elegant, grau, lässig, banal. Gesichter, Namen, Personen, Positionen, nichts blieb haften.

Ich schnatterte drauflos, gedankenlos, ziellos, mit allen und mit niemanden, über alle Welt und über gar nichts. Das war eine Eine-Frau-Show, ein Mädchen gegen vierzig, fünfzig Männer. Jeder sprach mit jedem, jeder widersprach jedem. Rufe, Zwischenrufe. Ich hatte keine Zeit für Diskussionen. Ich hatte keine Zeit für intime Gespräche, ich hatte einen Job zu verrichten, ich war hier für alle und alles verantwortlich. Doch von allen Seiten prasselten Fragen auf mich ein:

Was machen Sie in ihrer Freizeit?“

Wann haben sie frei?“

Kennen sie Pontresina“?

Celerina?“

Soglio?“

Ich kannte gar nichts. Ich war das erste Mal in der Schweiz. Ich hatte keine Ahnung, wo das eine oder das andere war. Ich wusste nicht, was das eine oder andere war.

Ich sagte: „Danke schön!“, mal nach rechts, mal nach links, zu allen und zu jedem. Wer? Was? Wo? Wann? Warum? Nichts! Ich fragte nicht. Ich hatte keine Zeit zum Fragen. Ich hatte keine Zeit zum Überlegen. Ich merkte mir keine Namen, Gesichter und Verabredungen. In der Bar war eine Kakophonie von Stimmen und Geräuschen, die wie ein Wasserfall über mir niederstürzten. Ich lächelte, nickte, schenkte ein, servierte, räumte auf, räumte ab, sagte „ja“ hier und „ja“ da, „Guten Tag“, „Guten Abend“, „Auf Wiedersehen“, „Gute Nacht“ und im nächsten Augenblick hatte ich alles wieder vergessen.

Dann kam ein Skandal nach dem anderen.

Silvaplana Blue I - Auch ich war einst in Arkadien

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