Читать книгу Silvaplana Blue I - Auch ich war einst in Arkadien - Heide Fritsche - Страница 14
II.
ОглавлениеAls ich den ersten Tag frei hatte, stand meine Chefin in der Bar, um mich zu vertreten. Gegen Mittag kamen zwei Männer in die Bar, zu früh für mich, denn nach den langen Nächten in der Bar war ich noch nicht aufgewacht.
Die beiden Männer hatten polierte Lackschuhe an den Füssen. Sie hatten einen schwarzen Frack und ein blendend weißes Hemd an. Das Hemd hatte elegante Fältchen. Am Hals baumelte eine schwarze Fliege. Mafiabrüder? Frank Sinatra in zweifacher Ausführung? Hollywood in Silvaplana!
Mein Verstand setzte aus. Mein Verstand setzt immer aus, wenn ich eine Situation nicht rationell abschätzen und kontrollieren kann.
Meine Chefin runzelte die Stirne. Sie sagte irgendetwas: „Bitte seien Sie vorsichtig.“, oder so etwas Ähnliches, was ich nicht richtig verstand. Offensichtlich kannte sie die Herren. Ich kannte sie nicht.
Die Herren bestellten Getränke, Whisky und Cognac, auch für meine Chefin und für mich. Ich hatte noch keinen Kaffee getrunken. Ich hatte noch nichts gegessen. Ich hatte noch nie in meinem Leben Whisky oder Cognac getrunken. Jetzt sah ich vier Frank Sinatras. Die Bar drehte sich in grauen Schleiern. Wortfetzen schwebten in der Luft. Meine Chefin schwankte, mein Stuhl schwankte.
Immer, wenn der Boden unter mir zu schwanken anfängt, verschwinde ich, prinzipiell, automatisch. Das ist ein angeborener Fluchtinstinkt:
„Entschuldigen Sie bitte, ich muss was essen“, sagte ich. Ich segelte in Richtung Küche. Mit meinem Auszug aus der Bar verschwand mein Bewusstsein. Mehr weiß ich nicht.
Den Rest der Geschichte erzählte mir Angelo, der italienische Koch vom Hotel. Als ich in der Küche ankam, hatte ich einen Schuh an und einen Teller in der Hand. Auf dem Teller lag ein Fischkopf. Woher ich einen Teller und einen Fischkopf hatte, weiß ich nicht. Mit Teller und Fischkopf habe ich mich in meiner vollen Länge auf Angelos Küchentisch gelegt.
Der Hausknecht vom Engadiner Hof hatte einen Körper wie ein barocker Kleiderschrank, einen Intelligenz Quotienten wie ein Kind und ein Gemüt wie ein neugeborenes Lamm. Der hat mich wie einen Mehlsack über seine Schulter geschmissen und die vier Etagen hinauf in mein Zimmer transportiert.
Ich habe über vierundzwanzig Stunden lang bis zum nächsten Mittag geschlafen. Mit den acht Stunden Schlaf, aus dem ich gerade aufgewacht war, war das ein sechsunddreißig Stunden Marathon Schlaf. Und das von einem Whisky oder Cognac?
Meine sorglos überhebliche Selbstsicherheit hätte ich hier in Zweifel ziehen können. Habe ich aber nicht. Ich habe über derartige Episoden erst gar nicht nachgedacht. Das war eine Episode wie viele andere. Das war ein Tag wie jeder andere. Damit war ich fertig. Darüber nachdenken? Spekulieren? Das war Energieverschwendung.
Frank Sinatra und Kompagnon habe ich nie wieder gesehen. Um mich herum Schweigen. Das berühmte Schweigen von Silvaplana. Das sollte ich noch besser kennen lernen.
Meine Informationsquelle war die Küche vom Engadiner Hof. Ich habe in jedem Betrieb, in der Schule, auf den Hochschulen und Universitäten das Putzpersonal, die Küchen- und Kantinenangestellten geliebt. Die kannten jeden Klatsch, jede Gewohnheit, jede schwache Seite der Angestellten, Lehrer und Professoren. Das waren meine wichtigsten Kontaktpersonen für alle Auskünfte.
Von der Stadt Dortmund bekam ich ein Stipendium. Dafür musste ich in der Studierendenmitverwaltung vom Abendgymnasium mitarbeiten. Vor der Arbeit versammelten wir uns jeden Morgen in der Schulkantine um den Herd. Das war unser Frühstückklatsch. Hier waren Putzfrauen, Küchenhilfen und der Wachmeister versammelt. Jeder wusste alles über jeden. Jeder klatschte über alles und über jeden.
Der Wachmeister hatte ein besonderes Hobby: Alle neuen Gesichter, die zur Tür herein kamen, wurden registriert, abgeschätzt und kategorisiert:
„Bei jedem, der kommt und geht, weiß ich genau, wie ich den einschätzen kann.“
„Ach?“
„Ich kann genau sagen, wie lange jeder einzelne auf der Schule bleibt und wie schnell er wieder verschwindet.“
„Das stimmt hundertprozentig“, kommentierten die Küchenhilfen.
„Wo haben Sie mich eingestuft?“, fragte ich neugierig.
„Die ist als erste wieder weg. Zu dünn, zu schmächtig, zu nervös. Kein Durchhaltevermögen. Spinnewippe.“
Das fand ich herrlich. Wenn ich unterschätzt wurde, zündete das einen Funken in meiner Seele, denn ich wusste etwas, was die anderen nicht wussten. Dieses Wissen brauchte ich nicht zu erklären. Niemand fragte danach. Das ging niemanden etwas an. Dieses Wissen von dem Wissen, was die anderen nicht hatten, gab mir ein Gefühl der Überlegenheit. Ich hütete mich, solche Irrtümer aufzuklären oder dagegen zu protestieren, auch in Silvaplana.
In Silvaplana waren es der Koch vom Engadinerhof Angelo und seine Frau Annegret, die mich über jeden Klatsch und Tratsch von Silvaplana und Umgebung informierten. Sie machten Andeutungen, dass alle neuen Bar-Mädchen durch die Hände dieser beiden Frank Sinatras gegangen wären. Sie hätten alles Mögliche und Unmögliche mit ihnen gemacht.
Was dieses Mögliche und Unmögliche war, habe ich nicht begriffen. Ich habe gar nichts begriffen. Ich konnte nichts begreifen, weil ich kein Vorstellungsvermögen und keine relevanten Erfahrungen in sexuellen Fragen hatte, weder von dem Möglichen, noch von dem Unmöglichen. Über alles, was mit Fragen der Sexualität und der genetischen Verpflanzung zusammenhing, war ich nicht nur ein unbeschriebenes Blatt, es war mehr als das, ich hatte eine mentale Sperre.
Das ist ein Paradox, denn ich hatte eine Fachausbildung als Arztsekretärin und zwei Jahre Praxis im Krankenhaus hinter mir, unter anderem ein Jahr auf der gynäkologischen Abteilung des Knappschaftskrankenhauses. Ob aber die Ärzte auf der gynäkologischen Ambulanz den Frauen zwischen die Beine guckten oder ob die Zahnärzte den Frauen in den Hals guckten, war für mich eine Suppe. Am Knappschaftskrankenhaus in Dortmund sind in der Ambulanz pro Tag bis zu achtzig Frauen ohne Schlüpfer bei mir vorbei defiliert. Das war reine Anatomie. Das hatte mit dem Möglichen und Unmöglichen der beiden Frank Sinatras von Silvaplana nichts zu tun.
Ich hatte in Bezug auf sexuelle Funktionen und Probleme eine totale Blockade in mir, mental, psychisch und physisch. Der Grund hierfür lag in meiner makabren Kindheit.