Читать книгу Gefühlslooping - Heidi Dahlsen - Страница 4
2.
ОглавлениеNach dem Mittagessen, legt sich Lydia auf ihr Bett.
„Das Mittagsschläfchen werde ich vermissen“, sagt Elfi.
„Wirst du bald entlassen?“, fragt Lydia.
„Leider“, antwortet Elfi. „Dann ist es mit meiner Ruhe wieder vorbei.“
„Bist du nicht froh, endlich nach Hause zu können?“
„Einerseits schon, aber … lassen wir das jetzt. Versuche einfach, etwas zu schlafen. Das tut wirklich gut.“
Elfi nimmt sich ein Buch und liest. Lydia starrt an die Decke. Die Informationen, die sie über die anderen Patienten erhalten hat, haben ihre Neugier geweckt. Trotzdem ist ihr unbehaglich zumute, und sie sehnt sich in ihre Wohnung und zu ihren Freunden zurück. Wehmütig denkt sie an ihre Freundin Christine und nimmt sich vor, sie am Abend anzurufen.
Als ein leiser Signalton ertönt, steht Elfi auf und macht sich für die Entspannungstherapie fertig. Entschuldigend sieht sie Lydia an. „Ohne mein Handy wäre ich aufgeschmissen und würde alle Termine verpassen.“
Sie winkt Lydia kurz zu und verlässt das Zimmer. Lydia fühlt sich allein etwas unbehaglich und ist zufrieden darüber, nicht auf einem Einzelzimmer bestanden zu haben. Sie ist jetzt überzeugt davon, dass Elfis Anwesenheit ihr die Eingewöhnung etwas erleichtern wird. Bevor sie weiter ins Grübeln verfallen kann, klopft es. Lydia erfasst Panik. Ihr Herz beginnt zu hämmern.
„Ja, bitte“, sagt sie, worauf Frau Doktor Lachmann-Friedrich das Zimmer betritt.
„Frau Bach, ich würde Sie gern kurz sprechen“, sagt die Ärztin.
Voller Unruhe und bemüht, sich diese nicht anmerken zu lassen, setzt Lydia sich an den Tisch.
Die Ärztin nimmt neben ihr Platz und gibt ihr eine Einführung in den Klinikablauf, erklärt die verschiedenen Therapieangebote, an denen sie teilnehmen kann, und händigt ihr die Hausordnung aus. Zum Abschluss erklärt sie Lydia, wann das erste Gespräch und in welchen Abständen die weiteren stattfinden sollten. Sie verabreden sich für den Nachmittag des nächsten Tages.
Als Lydia bewusst wird, dass mit diesem Termin ihre Behandlung beginnen wird, durchströmen Hitzewellen ihren Körper. Sie kann sich nicht vorstellen, über ihre Probleme mit einer fremden Person zu sprechen, und überlegt krampfhaft, wie viel sie überhaupt preisgeben möchte. Schon wieder zweifelt sie an der Richtigkeit ihres Entschlusses. Einerseits sagt sie sich, dass das schreckliche Erlebnis doch schon so lange her ist und eigentlich bald in Vergessenheit geraten müsste. Ein vernünftigerer Gedanke signalisiert ihr jedoch, dass das garantiert nicht der Fall sein wird, denn dann hätte sich ja schon längst alles in Wohlgefallen aufgelöst, anstatt immer wieder durch ihr Hirn zu spuken.
Als Elfi zurückkommt, mustert sie Lydia und stellt fest: „Du guckst, als würdest du die Vollstreckung deines Todesurteils erwarten.“
„So fühle ich mich auch.“
„Quatsch. Niemand wird über dich ein Urteil fällen. In LF habe ich das erste Mal jemanden gefunden, der mir in Ruhe zugehört und mir Ratschläge gegeben hat, mit denen ich etwas anfangen konnte. Nun sehe ich etwas gelassener in die Zukunft.“
„Irgendwo in meinem Innersten ist mir das auch bewusst, aber …“
„Bald hast du genug Gelegenheit, dein Innerstes nach außen zu krempeln“, unterbricht Elfi sie. „Ich möchte nicht wissen, welche absurden Geschichten LF ständig zu hören bekommt. Und die sind fast alle real.“
„Darum beneide ich sie“, sagt Lydia. Elfi schaut sie fragend an, sodass Lydia ihr erklärt: „Na ja. Dann müsste ich mir nicht so viele Gedanken über den Inhalt meiner nächsten Romane machen.“
„Du schreibst Bücher?“, fragt Elfi erstaunt. „Und deine einzige Sorge besteht darin, dass dir irgendwann nichts mehr einfallen könnte? Wollen wir tauschen?“
Lydia schüttelt den Kopf. „Nein. Ganz so einfach ist es bei mir auch nicht.“
„Jetzt bin ich etwas beruhigt“, sagt Elfi. „Ich dachte schon … LF ist wirklich verständnisvoll, fast mütterlich. Außerdem verlangt sie nicht, dass du in drei Tagen vor deines Rätsels Lösung stehst. Lass dir einfach Zeit. Den Rat kann ich dir mit ruhigem Gewissen geben. So angenehm und friedlich, wie es sich hier leben lässt, bekommst du es zu Hause nicht so schnell wieder.“
„Bist du verheiratet? Hast du Kinder?“, fragt Lydia, weil sie gern etwas über Elfi erfahren möchte.
„Ja. Ich hatte vergangenes Jahr Silberhochzeit und habe einen Sohn, eine Tochter und vier Enkelkinder. Mein Sohn ist mit seiner ersten großen Liebe verheiratet und sehr darauf bedacht, seine Frau glücklich zu machen. Bei ihr bin ich mir nicht so sicher, dass die Gefühle für ihn überwältigend sind, aber das kann ich nicht beeinflussen. Ihr ältester Sohn Shawn ist sechs Jahre alt, Ethan ist vier und bereits elf Monate nach ihm wurde Bella-Shirin geboren. Der Sohn meiner Tochter heißt Raphael und ist sieben Jahre alt.“
„Da geht es bei euch sicher rund“, stellt Lydia fest.
„Oh ja. Meine Enkelkinder sind sehr oft bei mir.“ Elfi macht eine Pause und seufzt. „Eigentlich sollte ich mich darüber freuen … aber … allzu viel ist ungesund, sagt ein Sprichwort. Ich komme einfach nicht zur Ruhe, denn die Jungs wachen morgens mit dem ersten Sonnenstrahl auf und machen schon lange keinen Mittagsschlaf mehr. Sie sind demzufolge total überdreht, sodass die Kleine ebenfalls nicht schlafen kann. Somit kann ich mich auch mittags nicht mal ein Weilchen ausruhen. Und abends sieht Ethan nicht ein, dass Shawn etwas länger aufbleiben darf als er, und tobt im Bett herum. Außerdem kennen die Kinder weder geregelte Mahlzeiten noch gesunde Nahrung. Wenn sie hungrig werden, naschen sie unkontrolliert Süßigkeiten oder bedienen sich im Kühlschrank. Ich bin nur auf der Hut, dass sie das bei mir nicht tun, und versuche, ihnen mit kleinen Ritualen Tischmanieren beizubringen. Das ist nicht einfach, weil sie bei ihren Eltern ja doch wieder tun und lassen können, was sie wollen. Ständig machen sich die Jungs einen Spaß daraus, ihre kleine Schwester zu ärgern, und mit Vorliebe kleben sie ihr Kaugummi in die Haare. Du kannst dir sicher vorstellen, wie anstrengend das ist. Ich verstehe meine Schwiegertochter gut, dass sie sich überlastet fühlt, aber dass sie die Kinder ständig bei mir ablädt, ist …“ Sie macht eine Pause und überlegt, wie sie sich ausdrücken soll.
„… eigentlich unverschämt und eine Frechheit“, ergänzt Lydia.
Elfi schaut traurig vor sich hin und nickt. „Es so zu sehen, habe ich erst hier gelernt.“ Sie seufzt. „Ich wollte immer, dass es meinen Enkelkindern gut geht. Die merken doch, dass sie ihre Eltern nerven und ständig abgeschoben werden.“
„Das wäre ein Fall für die Super-Nanny“, sagt Lydia. „Die biegt das im Nu wieder hin.“
„Meine Schwiegertochter würde sich niemals darauf einlassen“, erwidert Elfi kopfschüttelnd. „Sie lässt sich oft genug von ihren Kindern bestätigen, dass sie die beste Mami der Welt ist. Die Kleinen sind fest davon überzeugt, dass es wirklich so ist … obwohl … Shawn scheint sie durchschaut zu haben. Ihm kann sie nicht mehr so leicht etwas vormachen. Er hat letztens die Augen verdreht und gefordert, dass sie ihn damit in Ruhe lassen soll. Sie hat sich auf ein Machtspiel mit ihm eingelassen und dermaßen fest seinen Arm umklammert, bis er zu weinen anfing. Erst da hat sie von ihm abgelassen, ihm jedoch einen dermaßen wütenden Blick zugeworfen, der sogar mir durch Mark und Bein ging. Wie muss sich da erst so ein kleiner Junge fühlen? Als Oma steht man hilflos daneben. Einmal habe ich versucht, mit ihr darüber zu reden. Sie hatte zur Antwort nur einen Satz für mich übrig: `Hättest du deinen Sohn besser erzogen, hätte er vielleicht eine Frau geheiratet, die dir recht ist.´ Als würde es mir nur darauf ankommen.“
Lydia ist erschüttert und gleichzeitig froh, bisher keine Kinder bekommen zu haben. Sie wüsste nicht, wie sie sich mit so einer Schwiegertochter auseinandersetzen sollte und wie sie diesem Sohn klarmachen könnte, dass es so nicht weitergeht, ohne dass er gleich beleidigt ist. Als ihr ihre Freunde Christine und Olli in den Sinn kommen, muss sie wehmütig lächeln und kann sich nicht vorstellen, dass die beiden mit ihren Kindern irgendwann einmal solche Probleme bekommen werden.
„Aber Elfi hat sich das sicher früher auch nicht träumen lassen, als ihr Sohn noch klein war“, denkt sie.
„Was war eigentlich der Auslöser, dass du in Therapie musstest?“, fragt Lydia.
„Über die Jahre wurde die Belastung immer stärker. Zuerst hat mein Körper gestreikt und bald darauf mein Geist … und dann war beinahe alles zu spät.“
„Warum hast du nicht eher die Notbremse gezogen?“
Elfi überlegt kurz. „Weil es nur langsam immer schlimmer wurde. Das fühlt sich genauso an, als würdest du auf einem Fluss in einem Boot sitzen und gegen die Strömung, die stärker und stärker wird, rudern müssen. Du paddelst und paddelst und musst dich immer mehr anstrengen. Irgendwann kannst du einfach nicht mehr und lässt dich treiben.“
Lydia nickt. „Vor diesem Problem stand ich auch schon. Aber bei mir hat sich das nicht über Jahre angestaut. Ich hatte das Glück, dass meine Freundin für mich da war. Sie macht sich immer um alles und jeden Sorgen und hat mich sozusagen vor dem Sumpf bewahrt. Außerdem habe ich bei unserem Klassentreffen eine Schulkameradin, die Ärztin ist, wiedergetroffen. Sie hat mir die Therapie empfohlen und mich hier eingewiesen.“
„Hast du ein Problem damit, in der Psychiatrie zu sein?“, fragt Elfi.
„Wer hat das nicht?“, stellt Lydia die Gegenfrage.
Elfi schmunzelt. „Warst du auch erleichtert, als du feststellen konntest, hier niemanden Bekanntes zu treffen?“
Lydia hat sich genau aus diesem Grund seit ihrer Ankunft immer wieder verstohlen umgeschaut und nickt. „Stimmt. Das ist schon ungemein beruhigend.“
„Mit Fremden spricht es sich leichter über Probleme, weil man weiß, dass man die sowieso nicht wiedertrifft.“
„Da kann man sich sehr täuschen“, sagt Lydia. „Als ich vergangenen Herbst Urlaub gemacht habe, wohnte im Bungalow neben mir ein Ehepaar, die dachten das auch. Jetzt sind wir ganz gut befreundet, und ich konnte ein Buch über ihr Leben veröffentlichen.“
„Oh. Da muss ich wohl aufpassen, was ich erzähle“, sagt Elfi. Sie schlägt sich auf den Mund und zieht übermütig lächelnd den Kopf ein.
„Nein. Ich würde nur darüber schreiben, wenn du mir dein Einverständnis gibst. Und dann würde ich alles anonym verfassen.“
„Gott sei Dank. Ich dachte schon, du lässt ein Tonband mitlaufen oder so.“
„Ich habe morgen mein erstes Gespräch“, sagt Lydia und zieht ihre Stirn in Falten.
„Es wird dir nichts weiter übrig bleiben, als alles frisch von der Leber weg auszuplaudern. Einen Rat kann ich dir geben, je eher du damit beginnst, je eher geht es dir besser.“
„Das ist mir schon bewusst, aber …“
„Nichts aber“, wird sie von Elfi unterbrochen. „Hol einfach tief Luft und dann raus mit dem ganzen Schlamassel.“