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8. Kapitel - Lisa

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»Haben Sie zufällig ein dreijähriges Mädchen gesehen?«, fragt mich ein älterer Herr, der über den Hof gelaufen kommt.

»Meinen Sie Zoey?«

»Ja, woher wissen Sie das?«

»Die Kleine ist mir zugelaufen, als ich im Verkaufsraum gewartet habe.«

»Wirklich? Wo ist sie jetzt?«

»Bei ihrem Vater. Ich glaube, er wollte sie zu ihrer Oma bringen.«

»Gut. Da fällt mir ein Stein vom Herzen. Vielen Dank, junge Frau!«

»Sie müssen sich nicht bedanken. Ich habe gern auf die süße Maus aufgepasst.«

»Trotzdem. Wenn mein Sohn immer daran denken würde, die Tür zum Wohnhaus zu schließen, wäre das nicht passiert.«

»Es ist ja noch mal gut gegangen.«

»Ja, zum Glück.«

»Sie sind also Zoeys Opa?«

»Ja, der bin ich. Wilfried Brand ist mein Name. Und Sie sind?«

»Mein Name ist Lisa Röhringer.«

»Angenehm«, antwortet er und streckt mir seine Hand entgegen. Ich ergreife sie und nicke ihm zu.

»Was kann ich für Sie tun?«

»Mein Wagen macht so quietschende Geräusche. Bevor irgendetwas kaputtgeht, wollte ich lieber jemanden nachschauen lassen, der sich damit auskennt.«

»Das ist vernünftig. Ein Quietschen sagen Sie? Das kann vieles sein.«

»Ich hoffe, es ist nichts Schlimmes.«

»Um das herauszufinden, wäre eine Probefahrt sinnvoll.«

»Okay.«

»Na Papa, guckst du schon, wo das Problem liegt?«, fragt Zoeys Vater, dessen Vornamen ich immer noch nicht kenne, als er auf uns zugelaufen kommt.

»Ja, ich würde sagen, wir sollten eine Probefahrt machen, um das Geräusch zu lokalisieren.«

»Gut, willst du oder soll ich?«

»Mach du ruhig! Ich trinke mit der Retterin meiner Enkelin so lange einen Kaffee«, sagt Brand Senior und zwinkert mir zu.

»Alles klar. Dann bräuchte ich nur noch den Schlüssel«, wendet sich der Junior mir zu.

»Ja, natürlich«, antworte ich und ziehe meinen Schlüsselbund, an dem sich der Autoschlüssel befindet, aus der Jackentasche. Ich halte Zoeys Vater den Schlüssel entgegen und er lacht laut los. Dann greift er nach dem Bund und sagt: »Mir reicht der Fahrzeugschlüssel. Mit so einer Schlüsselbatterie möchte ich nur ungern fahren.«

Der Mechaniker streift den Autoschlüssel vom Schlüsselring und übergibt mir grinsend die restlichen Schlüssel.

Mir ist die Situation peinlich. Ich spüre, wie ich ein bisschen erröte. Hastig senke ich den Blick, damit niemand meine gesunde Gesichtsfarbe sehen kann.

Als Brand Junior in den Wagen steigt und ihn startet, ertönt wieder dieses quietschende Geräusch. Statt unter die Haube zu schauen, dreht er eine Runde. Ich bete, dass mein altes Auto die Spritztour überlebt und unterwegs nicht aufgibt. Es würde mir in der Seele wehtun, es verschrotten zu müssen. Immerhin handelt es sich um meinen ersten eigenen fahrbaren Untersatz, von dem ich mich nur ungern trennen möchte.

Nachdem der Junior den Hof verlassen hat, spüre ich Brand Seniors Hand auf meinen Schultern. »Kommen Sie! Adrian macht das schon.«

Adrian heißt Zoeys Vater also. Was für ein schöner Name und so passend zu diesem gut aussehenden Mann.

In Gedanken seufze ich und lasse mich von Wilfried Brand erneut in die Verkaufshalle führen.

»Setzen Sie sich! Soll ich uns einen Kaffee aus dem Automaten holen?«

»Gerne.«

Nun stehe ich wieder vor der Sitzecke und überlege, auf welchen Platz ich mich dieses Mal setzen soll. Dann entscheide ich mich für den Sessel, auf dem ich am Anfang, bevor Zoey auftauchte, saß.

Brand Senior kommt mit zwei Kaffeebechern zu mir, stellt sie auf den Tisch und nimmt auf dem Sofa Platz.

»Woher sind Sie denn, Frau Röhringer?«

»Sie können mich gern Lisa nennen. Ich komme aus dem Harz, genau genommen aus Wernigerode.«

»Oh schön. Im Harz habe ich vor Jahren mit meiner Frau Urlaub gemacht. Das waren zwei wunderschöne Wochen. Und was führt sie zu uns nach Potsdam?«

»Meine Cousine. Sie lebt hier und ich will sie endlich wieder besuchen.«

»Ach so. Das ist ja nett.«

»Ja, ich habe sie schon länger nicht mehr gesehen.«

»Hm. Und hier in der Halle ist Ihnen also unsere Zoey zugelaufen?«

»Ja, ich saß genau hier, als die Kleine um die Ecke schielte.«

»Ach ja, die Zoey. Sie hat es ziemlich schwer.«

»Darf ich fragen warum?«

»Ich möchte sie keinesfalls mit unseren Familiengeschichten langweilen.«

»Ach quatsch. Ich glaube kaum, dass sie mich langweilen.«

»Ach, ich weiß nicht.«

»Sie können mir gern ein bisschen erzählen. Warum hat es Zoey denn so schwer?«

Wie ich es hasse, erst Andeutungen machen und dann nichts sagen wollen.

»Gut, wenn Sie meinen. Na ja, Zoeys Mutter hat sie und unseren Sohn verlassen, da war sie noch keine zwei Jahre alt.«

Heißt das, Adrian ist Single?, frage ich mich gedanklich und muss mich anstrengen, ein Grinsen zu unterdrücken.

»Oh, das tut mir leid! Sie besucht ihre Tochter doch regelmäßig, oder?«

»Nein, wo denken Sie hin? Die Madam hält es für unnötig, sich um Zoey zu kümmern. Seit sie weg ist, hat sie sich nie mehr gemeldet.«

»Was? Das kann ich mir nicht vorstellen. Wie kann man so ein kleines süßes Mädchen einfach im Stich lassen?«

»Da sagen Sie was. Sie ist sang- und klanglos mit einem dahergelaufenen Kerl durchgebrannt und kümmert sich einen Dreck darum, was aus ihrer Tochter wird.«

»Dann hat Ihr Sohn es auch alles andere als leicht, oder?«

»Nein. Wenn meine Frau und ich nicht für ihn und unsere Enkelin da wären, hätte er die Werkstatt aufgeben können. Vor vierzig Jahren habe ich den Laden hier aufgemacht. Als Adrian Vater geworden ist, ging ich in Rente und überließ ihm das Geschäft. Natürlich helfe ich ab und zu noch mit. Den ganzen Tag still in der Ecke zu sitzen, ist nicht mein Ding. Ich muss immer etwas zu tun haben, sonst drehe ich durch.«

»Das glaube ich gern.«

»Wenn wir Adrian nicht unter die Arme greifen würden, wäre er aufgeschmissen. Wo sollte er auch hin mit Zoey?«

»Na ja, es gibt Kindergärten, wo die Kleinen von morgens bis abends betreut werden.«

»Das mag sein, aber so einen winzigen Wurm kann man doch nicht stundenlang zu fremden Leuten geben.«

»Das stimmt schon. Manche Eltern haben nur keine andere Wahl. Da sind solche Kinderbetreuungsstätten hilfreich.«

»Haben Sie Kinder?«

»Nein, aber meine Cousine ist letztes Jahr Mutter geworden.«

»Ach, junge Frau, woher wollen sie ohne eigene Kinder wissen, wie es ist? Ohne uns wäre Adrian eindeutig aufgeschmissen. Sie haben keine Ahnung, wie schüchtern unsere Zoey ist. So ein Kind können Sie nicht einfach in fremde Hände geben!«

»Komisch, mir gegenüber war ihre Enkelin alles andere als schüchtern. Sie kam direkt auf mich zu gelaufen«, flunkere ich. Es dauerte schon eine Weile, bis die Kleine zu mir kam. Das muss Brand Senior aber nicht wissen.

»Was? Das kann ich kaum glauben!«

Ich schweige. Mir fehlen die Worte. Adrians Vater erwartet sicher das Bundesverdienstkreuz, weil er hin und wieder auf seine Enkelin aufpasst. Wenn er es überhaupt macht. Die meiste Zeit wird Zoeys Oma mit ihr beschäftigt sein. Das kann ich natürlich nicht laut sagen. Schließlich will ich den Herrn keinesfalls verärgern. Dafür bin ich froh über die Informationen, die er mir mitgeteilt hat. Ohne ihn hätte ich in der kurzen Zeit kaum so viel über Adrian und Zoey erfahren.

Schweigend sitzen wir da. Brand Senior macht keine Anstalten, das Gespräch fortzuführen.

Hoffentlich habe ich ihn nicht verärgert, aber er kann schlecht davon ausgehen, dass jeder seine Meinung teilt.

Mein Herz macht Luftsprünge, als die Tür aufgeht und Adrian hereinkommt und ich mit seinem Vater nicht mehr alleine sein muss.

»Und?«, frage ich.

»Die Lichtmaschine ist hinüber, das habe ich schon während der Probefahrt bemerkt. Der Blick unter die Haube hat meinen Verdacht bestätigt.«

»Oh je. Was bedeutet das? Ich muss den Wagen stehen lassen, oder?«

»Ich würde Ihnen raten mit dem Auto so keinen Meter mehr zu fahren. Ich kann eine neue Lichtmaschine einbauen. Die muss aber erst bestellt werden und wird vor Dienstag nicht hier sein.«

»Oh nein, was mache ich jetzt? Wie komme ich zu meiner Cousine?«

»Wo wollen Sie denn hin?«

»Nicht weit. Sie wohnt hier in Potsdam. Dann werde ich mir ein Taxi bestellen und mein Gepäck umladen müssen.«

»Wenn es hier in der Stadt ist, kann ich Sie gern hinbringen«, bietet Adrian an.

»Wirklich? Das ist echt nett von Ihnen. Danke!«

»Kein Problem. Ich habe sowieso noch etwas gut zu machen, so rührend, wie Sie sich vorhin um Zoey gekümmert haben.«

»Ach, das war doch nichts.«

»Na doch. Wer weiß, was die Kleine ohne Sie angestellt hätte.« Adrian schenkt mir ein Lächeln, was mich zum Schmelzen bringt und dafür sorgt, dass ich erröte.

»Wollen wir los?«, fragt er.

»Ja, von mir aus gerne.«

»Gut, dann lassen Sie uns aufbrechen!«

»Okay. Ich muss wie gesagt nur meine Sachen aus dem Auto holen.«

»Das kriegen wir schon hin«, sagt Adrian und macht Anstalten das Gebäude zu verlassen.

Ich erhebe mich und strecke Brand Senior meine Hand entgegen. Als er sie nimmt, sage ich: »Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen. Auf Wiedersehen!«

»Auf Wiedersehen, junge Frau!«, antwortet er grimmig.

Puh, geschafft, denke ich, als ich draußen vor der Tür stehe und den alten Mann los bin. Bei der Verabschiedung sah er mich so komisch an. Das machte mir ein bisschen Angst. Ich bin mir sicher, ihn mit meinen Ansichten verärgert zu haben, aber das ist mir momentan gleichgültig. Mit etwas Glück sehe ich ihn nie wieder und brauche mir keine Gedanken mehr darüber zu machen.

Mit kleinen Schritten gehe ich um das Gebäude auf den Hof. Adrian steht an seinem Wagen, der direkt neben meinem parkt, und hat bereits den Kofferraum geöffnet. Lässig lehnt er an der Fahrertür und wartet. Der Anblick gefällt mir. Ich schaffe es kaum, den Blick von ihm abzuwenden.

»Ich bin schon da!«, rufe ich und erhöhe mein Tempo.

Ich haste zum Heck meines Autos. Erst hole ich den Koffer und dann die Tüten heraus, um sie in Adrians Wagen zu verstauen. Er macht keine Anstalten mir zu helfen. Stattdessen beobachtet er mich, wie ich die Gepäckstücke umschichte.

Als ich die letzte Tüte verstaut habe, fragt er: »Fertig?«

»Ja. Ich muss nur noch meinen Wagen abschließen. Sie haben noch den Schlüssel, oder?«

Adrian wühlt in der Brusttasche seines Blaumanns und zieht den Autoschlüssel hervor.

»Moment, ich muss noch die Kofferraumklappe schließen«, sage ich, während ich zu meinem Fahrzeug gehe und die Klappe herunterdrücke. »So, jetzt können Sie abschließen!«

»Gut.« Adrian verschließt mit der Fernbedienung meinen Wagen und steigt in seinen ein.

Ich eile auf die Beifahrerseite und steige ebenfalls ein.

»Wo soll es genau hingehen?«

Mist, wo habe ich Maries Adresse? Vor der Abreise habe ich sie eingesteckt, da bin ich sicher.

Ich denke einige Sekunden nach und kann aus den Augenwinkeln sehen, dass Adrian ungeduldig auf eine Antwort wartet.

In der Hosentasche!

»Ähm, Moment. Ich habe die Adresse in der Tasche.«

Statt auszusteigen, wühle ich sitzend in meiner viel zu engen Hosentasche, bis ich den Zettel zwischen den Fingern spüre und rausziehe. Ich reiche die zerknautschte Notiz an Adrian weiter. Er schaut drauf und sagt: »Ah ja. In weniger als zehn Minuten sind wir da.«

Dann gibt er mir das Stück Papier zurück, startet seinen Wagen und fährt los.

Adrian starrt voll konzentriert auf die Straße, ohne mich zu beachten. Heimlich beobachte ich ihn aus den Augenwinkeln. Ich muss zugeben, er gefällt mir. Nur traue ich mich nicht, ein Gespräch mit ihm anzufangen. Mir fällt kein geeignetes Thema ein, über das ich mit ihm sprechen kann. Es ist aber nicht unangenehm. Ich fühle mich wohl in Adrians Nähe und wünsche mir, die Fahrt geht nie zu Ende. Ich könnte stundenlang so sitzen und mit ihm durch die Gegend fahren.

Sehnsucht

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