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Zum Kinderkriegen

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»Es gibt Tage, da möchte man einfach die Decke übern Kopf ziehen«, brummelte Schwester Heidelinde in Richtung ihrer Kollegin Jana. »Heiligabend auf der Entbindungsstation zum Beispiel. Alle Jahre wieder.«

Jana riss die Augen auf. »Ist es immer so schlimm wie letztes Jahr?«, fragte sie ihre erfahrene Kollegin. »Ich dachte, ich hätte da einfach nur Pech gehabt.«

»Nee. Hier kann man diesen Tag immer in der Pfeife rauchen. Von wegen: Fest der Liebe!« Heidelinde deutete vielsagend in Richtung der Eingangstüre, durch die nun eine Dame im Pelzmantel kam, die resoluten Schritts auf sie zu- und grußlos an ihnen vorbeilief. Ihr hinterher trottete ein Herr, die Jacke ebenso zerknittert wie das Gesicht. Er nickte den Krankenschwestern immerhin freundlich zu. Von seinen Schultern baumelten schwere Taschen. »Das ist das eine Problem«, betonte Heidelinde. »An Heiligabend fallen nicht nur nette, sondern auch schwierige Großeltern hier ein. Mit all ihren Ratschlägen, Forderungen und unbrauchbaren Geschenken. Und wir dürfen hinterher den Kleinen die Fläschchen geben, wenn den Mamas vor lauter Stress die Milch wegbleibt.«

»Oje.« Jana seufzte. »Aber wenigstens die jungen Eltern selbst sind zufrieden und nett, oder?«

»Mitnichten!« Heidelinde schnaubte. »Wie viele Fehlalarme die Ärzte oben immer reinkriegen! Manche werdenden Mütter denken, so vor den Feiertagen, da lässt man besser doch noch mal nachschauen, ob alles in Ordnung ist. Was es fast immer ist. Wenn dann wirklich mal ein Baby raus will und die Mutter in den Kreißsaal oder OP muss, sind die Ärzte entweder total im Stress oder aber fix und fertig. Das überträgt sich natürlich auf die Eltern. Und dann gibt es auch junge Eltern, bei denen alles gut gelaufen ist, die aber gerade jetzt ziemlich herumzicken. Unsere Weihnachtsgans sei nicht so lecker wie die der Oma, unser Kuchen zu trocken und überhaupt sei Weihnachten im Krankenhaus das Letzte. Hallo? Hätten sie halt wann anders die Verhütung schleifen lassen! Ich sag immer: Wer an Ostern die Eier sucht, hat an Weihnachten die Bescherung. Mathe für Anfänger!«


Wer an Ostern die Eier sucht, hat an Weihnachten die Bescherung.

»Und die Hebammen? Sind die wenigstens gut drauf?«, fragte Jana zaghaft.

»Na ja«, gab Heidelinde zurück. »Schon. Doch die haben meistens Ärger daheim – Mann und Kinder finden es nie toll, wenn eine arbeiten geht, statt den Gabentisch vorzubereiten.«

»Ich dachte, im 21. Jahrhundert übernehmen die Kerle das ganz selbstverständlich«, merkte Jana an.

»Schön wär’s«, gab Heidelinde zurück. »Was meinst du, warum ich schon zweimal geschieden …?«

Da flog die Tür auf und ein junges Paar trat hindurch. Der Mantel der Frau bedeckte mit Mühe ihren prallen Bauch. Der Mann hielt links ihre Hand, rechts eine kleine Reisetasche. Beide lächelten den Krankenschwestern zu.

»Guten Tag, wir sind Carina und Andreas Schmidt«, stellte die Frau sich vor, »und wir werden heute Nacht zum ersten Mal Eltern. Das behauptete zumindest die Frauenärztin vorhin. Wo krieg ich denn hier meine PDA?« Sogleich verzog sich Carinas Gesicht, sie stützte sich auf ihren Mann und begann, schwer zu atmen. Eineinhalb Minuten später strahlte sie wieder: »Puh, immer diese Wehen. Aber das Schlimmste hab ich ja gleich hinter mir.«

Während Jana die Schmidts ins Wehenzimmer geleitete, rief Heidelinde den Arzt und die Hebamme auf die Station.

Auf dem Weg hörten sie Gekeife aus einem der Mütterzimmer. »Du bist sogar zum Wickeln zu blöd!« Eine reife Frauenstimme. Die Dame im Pelz, ahnten die Krankenschwestern.

Thordis hatte den Weihnachtsdienst nur unwillig übernommen. Es sollte das erste Fest mit ihrem Freund werden. Romantisch und verschmust. Doch nun lagen gleich zwei Kolleginnen mit Grippe im Bett – da hatte sie ihre Schichten übernehmen müssen, es ging nicht anders. Und natürlich wurde sie angepiepst, als sie gerade mit ihrem Liebsten im Bett lag.

Als Thordis die Entbindungsstation betrat, sah sie Schwester Heidelinde gerade ein älteres Paar aus einem Zimmer bugsieren.

»Ja, es ist gefährlich, wenn Frauen im Wochenbett zu sehr gestresst werden. Noch nie von Wochenbettdepression gehört?«, fragte sie. »Oder von Milchstau? Also. Wollen Sie, dass Ihr Enkel als Halbwaise aufwächst?«

Der Mann lenkte zuerst ein, schob seine bepelzte Gattin in Richtung Ausgang und sie verschwanden.

Andreas hätte sich eher die Zunge abgebissen, als zuzugeben, dass es ihm mulmig war angesichts der großen Aufgabe, die da auf ihn zurollte. Vater werden … seine Kolleginnen und Kollegen hatten ihm einige Horrorgeschichten aufs Auge gedrückt in den letzten Monaten. »Deine Frau wird auseinander gehen wie Hefeteig und vergessen, sich die Haare zu waschen – für Monate.« – »Während der Entbindung wird sie schreien, fluchen und dir schwören, dass sie dich nie mehr in ihr Bett lässt.« – »Wenn das Kleine erst mal da ist, beginnt ein entbehrungsreiches Leben.«

Ja, danke. Er war sich sicher, dass es bei Carina und ihm ganz anders laufen würde. Aber Garantien gab es keine. Dazu kam, dass er kein Blut sehen konnte. Nun, jetzt war vielleicht der falsche Zeitpunkt, so etwas anzusprechen. Carina war mit Wehen-Veratmen beschäftigt und diskutierte zwischendrin mit der Hebamme, die gerade bei ihr eingetroffen war.

»Ihr Muttermund ist auf dreieinhalb Zentimeter. Noch sechseinhalb, dann passt das Köpfchen hindurch. Ihr Entbindungstermin wäre wann?«

»In einer Woche genau.«


Wenn alles gut läuft, sind Sie bis zur Silvesterparty wieder fit.

»Wenn alles gut läuft, sind Sie bis zur Silvesterparty wieder fit. Und alle werden Sie loben, weil Sie so toll abgenommen haben.«

Die Frauen grinsten sich an. Dann verzog Carina ihr Gesicht – wieder eine Wehe, wusste Andreas und streichelte seiner Frau über den Arm. Sie hatte ihm die Wehen beschrieben wie die Krämpfe bei einer heftigen Lebensmittelvergiftung.

»Bekomme ich jetzt bitte meine PDA?«, fragte Carina, sobald sie wieder sprechen konnte.

»Wir warten, bis der Arzt Sie umfassend untersucht hat. Ich glaube ja, dass Sie das gut ohne schaffen können. Sie haben so viel Kraft …«

»Aber keine Lust mehr.«

»Was würden Sie denn jetzt machen, wenn Sie nicht gerade ein Kind bekämen? Hätten Sie dazu Lust?«

Wider Erwarten musste Carina lachen. Das Bild ihrer eigenen und ihrer angeheirateten Verwandtschaft zog vor ihrem inneren Auge auf. Sie hatten sich gegenseitig überboten, um Carina und Andreas die Weihnacht zu versau… äh, zu verschönern.

»Vormittags kauft ihr nett mit uns ein und dann kochen wir alle gemeinsam für die Feiertage.« Das war es, was ihre Eltern unter einem gemütlichen Fest verstanden.

»Kannst du mir zwischendrin schnell noch den Computer reparieren, Andi? Sonst kann ich keine Weihnachtsgrüße versenden, dann sind alle meine Freunde sauer.« Das hatte Andreas’ kleiner Bruder gefordert.

»Könntet ihr Oma noch eine Tanne kaufen, sie ihr vorbeibringen und dort auch gleich mit ihr schmücken? Sie hat es sich in letzter Minute anders überlegt und es wäre doch traurig, wenn sie keine mehr bekäme.« Das war ihre Schwiegermutter gewesen.

»Sag mal, ich kann am Nachmittag doch die Kleinen zwei Stunden bei dir abladen?« Was für eine super Idee ihrer Schwester! »Da kannst du gleich mal üben!«

»Und abends dann zum veganen Eintopf zu uns, die Kinder machen Hausmusik«, hatte ihre älteste Schwägerin sie eingeladen.

Wobei Carinas Eltern sie eigentlich zur Gans erwarteten. Und Andreas’ Eltern hofften, sie würden mit ihnen zur Kirche gehen.

Carina hatte sich nicht getraut, allen zu sagen, dass sie eigentlich nur vom Herumhängen träumte. Mit niemandem außer Andreas.

»Eigentlich«, meinte sie nun zu Thordis, die sie sofort gemocht hatte, »habe ich ja jetzt genau das Fest, das ich wollte. Ich liege herum, mein Mann ist bei mir. Keine Verwandtschaft da, keine Termine. Jetzt noch die PDA und alles ist perfekt.«

»Na, schauen wir mal. Es geht übrigens besser voran, wenn Sie sich bewegen – da drüben steht ein Rhönrad, da vorn ist eine Stange zum Turnen, der Vierfüßlerstand tut auch oft gut«, meinte die Hebamme. Also wuchtete sich Carina vom Bett hoch, wobei sie sich vorkam wie ein gestrandeter Wal.


»Wie kann man nur die Geschenke vergessen?«

Als Hagen den Gang zum Wehenzimmer entlanglief, hörte er lautes Geschimpfe. Eine junge Frau im Morgenmantel faltete einen Mann zusammen, der an jeder Hand ein Kleinkind hielt. »Wie kann man nur die Geschenke vergessen? Habe ich es dir nicht vor der Narkose gesagt? Du bist doch wirklich …«

Schön, Single zu sein, dachte der Anästhesist und ging weiter seines Wegs.

Für ihn war sein Feiertagsdienst eine willkommene Gelegenheit, dem Glitzer-Konsum-Zirkus der Außenwelt zu entkommen. Der Anästhesist hielt nicht viel von Religionen und ebenso wenig von den Massenkundgebungen, die diverse Kirchen veranstalteten. »Lassen Sie sich ruhig Zeit«, versicherte er Carina, die im Rhönrad hängend ihre Wehen veratmete. »Ich habe heute Abend nichts Besseres vor, als hier zu sein.«

»Wir auch nicht«, sagten Andreas und seine Frau wie aus einem Munde.

»Also, ich … ähm, natürlich auch nicht«, log Thordis.

»Die Wehen kommen wie oft?«, fragte der Arzt.

»Alle neunzig Sekunden«, antwortete Carina. »Und ich mache seit zwei Stunden damit rum. Mir reicht’s! Ich habe nur noch einen Wunsch zum Fest der Liebe: eine PDA.«

»Na, dann schauen wir doch mal, was wir für Sie tun können. Wenn Ihre Hebamme mir gleich ihr Okay gibt …«

Thordis versuchte auszublenden, dass es vom Gang her sehr laut wurde. Immer diese Festtagshysterie, dachte sie. Gegen die sollte es auch eine Art Betäubung geben. Sie bat Carina, die Beine zu spreizen, damit sie prüfen konnte, wie weit der Muttermund bereits geöffnet war.

»Oh! Das ist ja himmlisch! Ich werde pünktlich nach Hause kommen«, jubelte die Hebamme und strahlte Carina an. »Kommen Sie, rauf aufs Bett und dann schnell mit mir rüber in den Kreißsaal. Sie dürfen gleich lospressen!«

»Und meine PDA?«, japste Carina.

Hagen lachte: »Da müssen Sie bis zur nächsten Entbindung warten, sorry. Ich hätte Ihnen gern eine gegeben, aber bis die wirkt, ist Ihr Kind dreimal draußen.«

»Was? Aber ich bin Erstgebärende, die Frauenärztin hat gesagt, das dauert locker bis morgen früh!«

»Hellsehen kann die auch nicht«, meinte Hagen entspannt und schlurfte in Richtung Ausgang.

»Verstehst du nicht?«, meldete sich Andreas zu Wort. »Unser Kleines will raus, Schatz! Jetzt sofort!«

»Erste Presswehe gut überstanden. Habe das Köpfchen gesehen. Ganz viele dunkle Haare!«, rief Thordis, als die Gynäkologin um die Ecke gejoggt kam.

»Was mach ich jetzt?«, keuchte Carina.

»Alles weiter wie gehabt: Wenn es richtig fies zieht, dann pressen. Sie machen es Ihrem Baby ganz leicht«, lobte Thordis.

»Ich bin in Position«, sagte die Gynäkologin, »sieht alles gut aus.«

Andreas drückte die Hand seiner Frau und flüsterte: »Ich liebe dich.«

Eine neue Wehe flutete Carinas Körper und dann fehlten allen erst mal die Worte.


»Uäääh! Uäääh!«

Für Andreas war es das schönste Geräusch der Welt. Adrenalin schoss durch seinen Körper. War da Blut? Wenn, sah er keins – nicht in diesem roten Schummerlicht des Kreißsaals. Alles, was er sah, war das kleine Wesen, das da auf Carinas Bauch lag und seine ersten Schreie absonderte. Wie filigran die Händchen und Füßchen waren! Diese Stupsnase, das runde Gesicht, drum herum der dichte, dunkle Schopf! Unbeschreiblich zauberhaft.

Andreas wusste gleich, dass sein Kind ihm ähnlich sah – er hatte genug Babyfotos gesehen. Nur war er natürlich nicht so perfekt gewesen. Die vollen Lippen, die hatte das Baby ja auch von seiner Mutter. Von Carina, die ihr Kind zärtlich streichelte.

Das Baby wurde ruhig und öffnete seine Augen. Wunderschöne, dunkel glänzende Augen. Carina drehte den Kopf, strahlte ihn an – und er lächelte zurück. Seine Familie! Ihm wurde ganz schwindelig vor Liebe.

»Ich werde Ihr Baby jetzt wiegen und kurz untersuchen«, meldete sich Thordis sanft zu Wort. »Ach ja, interessiert Sie eigentlich, was es ist? Sie haben eine Tochter.«

»Eine Tochter!«, hauchte Carina. »Besser geht es nicht.«

»Gestern hast du dir doch noch einen Jungen gewünscht«, meinte Andreas.

»Tja. Gestern wog ich auch noch neunzig Kilo und dachte, wir würden heute Abend veganen Eintopf schlürfen.«

Womit sie recht hatte. Da fiel Andreas ein, dass ein wichtiges Detail noch nicht geklärt war. »Ehrlich gesagt, hatten wir uns nur auf einen Jungennamen geeinigt«, wandte er sich an die Geburtshelferinnen. »Es gibt zu viele schöne Mädchennamen. Wie heißen Sie beide eigentlich?«

»Thordis.«

»Gertraud.«

Andreas schluckte. »Ähm. Ja. Das passt nicht so … zu unserem Nachnamen. Carina, was meinst du?«

Carina zuckte mit den Schultern. »Kein Name ist so schön wie sie«, meinte sie schließlich.

»Wie wäre es mit Natalie oder Noelle?«, schlug Thordis vor. »Das heißt: an Weihnachten geboren. Und passt zu süßen Mädchen und tollen Frauen.«

»Was sagst du dazu, Baby?«, fragte Carina sanft. »Natalie Schmidt? Magst du so heißen?« Die Augen der Kleinen glänzten. Spielte da nicht ein Lächeln um ihren Mund?

Die Untersuchungen bestätigten: Mutter und Kind waren wohlauf. Carina fühlte sich, als könne sie die ganze Welt umarmen. All meine Wünsche sind wahr geworden, dachte sie. Ich liege gemütlich herum und an meiner Brust trinkt das niedlichste Kind aller Zeiten. Ich habe keine Schmerzen mehr. Und Andreas schaut mich an, als sei ich Superwoman und er bereit, Tausende von Windeln zu wechseln. Halleluja!

Sie wusste, sie beide würden von nun an stark genug sein, Entscheidungen zu treffen. Für so wichtige Dinge wie Kindesnamen und halbwichtige wie die, wie man Weihnachten entspannt feiert. Was Verwandte, Freunde und Chefs forderten, war ab jetzt zweitrangig. Eine neue Geschichte wurde geschrieben: die der Familie Andreas, Carina und Natalie Schmidt. Wie himmlisch einfach alles war!


Schräge Blasmusiktöne. Streitende Stimmen. Schreie aus dem Wehenzimmer.

Kaum hatte sie auf ihrem fahrbaren Bett den Kreißsaal verlassen, das schlafende Baby im Arm, wurde Carina in die Wirklichkeit zurückkatapultiert. Auf Station war es laut. Sehr laut. Schräge Blasmusiktöne. Streitende Stimmen. Schreie aus dem Wehenzimmer.

»Der ganz normale Weihnachtswahnsinn«, versicherte ihr Schwester Heidelinde und lächelte ihr ermutigend zu. »Morgen wird’s besser. Wir können Sie leider noch nicht in Ihr Zimmer schieben, denn auf dem Weg dorthin gibt die Kapelle ihr Weihnachtskonzert. Und bevor Sie fragen: Wir haben wirklich keine bessere Kapelle finden können. Das gibt der Etat nicht her. Aber wer eine Geburt ohne Schmerzmittel übersteht, überlebt auch etwas Katzenmusik.«

»Komm, wir singen mit«, meinte Andreas, »falsche Töne können wir doch auch.«

Und dann stimmten sie ein. Stille NachtO du fröhlicheGroßer Gott, wir loben dich. Immer wieder fielen ihre Blicke auf ihr Neugeborenes. Und anders als sonst war es den beiden beim Singen kein bisschen ironisch zumute.

Advent, Advent, der Christbaum brennt!

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