Читать книгу Advent, Advent, der Christbaum brennt! - Heike Abidi - Страница 6

Die Kipferl des Grauens

Оглавление

»Ich kann nicht! Ich schaffe das dieses Jahr einfach nicht. Mitte November ist unser Kater gestorben, zehn Tage später hat sich mein Schwiegervater den Oberschenkelhals gebrochen und dann bekamen meine Jungs vor zwei Wochen auch noch das Norovirus. Ich habe wochenlang nur Taschentücher an heulende Kinder verteilt, mit meiner Schwiegermutter Krankenhausbesuche bei deren jammerndem Mann gemacht und die letzte Woche dann permanent vollgekotzte Bettwäsche gewechselt. Wenn ich jetzt auch nur ein einziges Plätzchen backen soll, drehe ich durch und bringe meine Familie um!«

Meine Freundin Merle klang am Telefon, als meinte sie es verdammt ernst. Unwillkürlich fiel mir der Kinderreim »Lizzie Borden mit dem Beile, hackt Papa in Einzelteile …« ein und ich schluckte.

»Gibt es bei eurem Bäcker keine Fertigplätzchen?«, wagte ich zu fragen.

Als Antwort drang ein gereiztes Schnauben durch den Hörer. »Da solltest du mal meine Familie hören. ›Merle, Liebes – du wirst es doch wohl neben deinem Halbtagsjob noch schaffen, ein paar Plätzchen selbst zu backen. Schon den Kindern zuliebe‹«, verfiel sie in einen glockenhellen Sopran, der verdächtig nach ihrer Schwiegermutter Gisela klang. »Und Patrick hält mir einen Vortrag über misshandelte Käfighühner, deren degenerierte Eier sich im Teig der Vanillekipferl befinden, die unsere Kinder essen«, fuhr sie fort. »Nein, mit irgendwelchen Fertigprodukten brauche ich erst gar nicht ankommen.«

Als Mutter dreier Söhne im Alter von sieben, neuneinhalb und zwölf Jahren hatte Merle es sowieso schon nicht leicht. Dazu kam noch ein Ehemann, der zwar ganz nett, aber in seinem früheren Leben wahrscheinlich das Alphatier irgendeiner Pavianherde gewesen war, denn er war dominant und wusste grundsätzlich, wie die Dinge zu laufen hatten.

Als kinderloser Single sah ich meistens fasziniert auf dieses Familienleben, das mir wie das Praxisbeispiel des Darwinismus erschien (Survival of the fittest, Sie wissen schon). Jetzt aber tat Merle mir aufrichtig leid. Und weil sie erstens meine allerbeste Freundin ist – und das bereits seit zwanzig Jahren – und ich zweitens gern backe, purzelten mir die Worte aus dem Mund, ehe ich nur eine Sekunde über die Konsequenzen nachdenken konnte: »Wenn du willst, komme ich nächste Woche zu euch und backe mit deinen Jungs.«

»Das würdest du tun?« Merle klang wie Maria kurz vor der Niederkunft, die unvermittelt von Donald Trump ins Weiße Haus zur Entbindung eingeladen worden war. Ihr Tonfall hätte mich aufhorchen lassen sollen, aber in diesem Moment war ich Trump – und geblendet vom Glanz meiner eigenen Großzügigkeit bejahte ich milde und erklärte mich darüber hinaus auch noch bereit, sämtliche Zutaten mitzubringen.

»Du kannst in Ruhe Weihnachtsgeschenke kaufen gehen, während ich mit deinen Kindern in der Küche Spaß habe. Kein Problem.«

»Meine Güte, du bist wirklich ein Engel«, sagte Merle.

Dadurch im wahrsten Sinne des Wortes beflügelt, schwebte ich am folgenden Samstag bei ihr zu Hause ein, bepackt mit zwei Kilo Mehl, mehreren Päckchen Butter und Zucker, einem Glas Himbeergelee sowie diversen Tütchen mit Nelken- und Lebkuchengewürz.


»In Deckung – hier kommt der Rosinenbomber.«

»In Deckung – hier kommt der Rosinenbomber«, witzelte Patrick, als er mir die Haustür öffnete, und hätte ich nicht beide Arme voll mit diversen Kalorienbomben gehabt, hätte ich ihm wahrscheinlich zur Begrüßung eine geknallt. Ich bin empfindlich, was meine Figur oder mein Gewicht angeht, und bei Merles Ehemann wusste man nie, ob sein Humor Absicht oder Versehen war. Doch weil es stark auf Weihnachten, das Fest der Liebe und des Friedens, zuging, schenkte ich ihm nur ein Saccharin-Lächeln.

»Möchtest du vielleicht mit deinen Kindern backen? Als Ausgleich für deine dreimal nicht in Anspruch genommene Elternzeit als Vater?«, fragte ich freundlich.

Prompt verschwand Patrick mit einem gemurmelten »Hab noch was zu erledigen« in seinem sogenannten Arbeitszimmer, das – wie ich nach einem heimlichen Blick durch den Türspalt vor ein paar Monaten gesehen hatte – von einem Vierzig-Zoll-Monitor beherrscht wurde. »Wenn die Kinder im Bett sind, verkriecht er sich hier drin und schaut oft eine ganze Staffel von The Walking Dead«, hatte mir Merle unter vier Augen anvertraut. Ich bezweifelte, dass Patrick sich des Nachts wirklich ausschließlich herumtaumelnde Zombies in zerschlissenen Klamotten ansah oder nicht doch etwas Appetitlicheres, Leichtbekleidetes, aber das war nicht mein Problem.

»Menno, glotzt Papa wieder diese Zombie-Filme, die wir nicht dürfen?« Auftritt des Erstgeborenen, der proportional zur Pubertät auf immer mehr Vollverben verzichtete.

»Hi, Lucca. Na, alles klar?«, sagte ich betont munter und tröstete mich, dass ein knappes »Joooh« besser war als gar keine Antwort. Immerhin begrüßten Felix, der Mittlere, und Nesthäkchen Tim mich deutlich euphorischer, wobei ihre begehrlichen Blicke den drei Tafeln Schokolade galten, die sich an der Spitze der Ernährungspyramide aus Fett und Zucker auf meinem Arm türmten.

»Die sind zum Backen«, machte ich gleich jeglichen Annäherungsversuchen den Garaus. »Ich hoffe, ihr seid bereit für die große Plätzchenschlacht.«

»Nope, ich bin raus«, verkündete Lucca. »Ich geh zu ’nem Kumpel zocken.«


Ich atmete die Negativität aus, wie meine Yogalehrerin es uns neulich gezeigt hatte.

Ein erster Anflug von Gereiztheit legte sich über meine Samariter-Stimmung, aber ich atmete die Negativität aus, wie meine Yogalehrerin es uns neulich gezeigt hatte. »Gut, kein Thema. Aber du weißt ja – ohne Backen keine Plätzchen. Dann können wenigstens deine Brüder mehr davon essen.«

Damit ließ ich den Zwölfjährigen stehen, dessen Zahnspange jetzt gut sichtbar war, da ihm der Mund offen stand.

Siegesgewiss steuerte ich die Küche an, während Tim und Felix eifrig hinter mir herwieselten – offenbar hatte meine Drohung wenigstens bei den Jüngeren gewirkt. Vor dem Backofen kniete fluchend Merle und kratzte an einer schwarzen Kruste im Inneren herum. »Wenn ich denjenigen erwische, der als Letzter hier drin Pizza gemacht hat«, zischte sie und schabte eine verkohlte Salamischeibe vom Ofenboden.

»Der Papa!«

»Der Lucca!«, ertönte es unisono von Tim und Felix und Merle verdrehte die Augen.

»Wieso frage ich eigentlich noch«, seufzte sie, ehe sie sich erhob und mich umarmte. »Schön, dass du da bist. Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll …«

»Ach, vergiss es. Die zwei Jungs und ich werden Spaß haben, nicht wahr?«

Tim und Felix nickten auf Merles drohenden Blick hin artig, aber sie sahen aus wie zwei Sträflinge, die man zur Arbeit im Steinbruch abkommandiert hatte. Mein pädagogischer Ehrgeiz erwachte. Man muss die Kinder da abholen, wo sie stehen. »Kommt schon! Das wird lustig. Ihr dürft auch die Plätzchen verzieren, wie ihr wollt«, startete ich Teil eins des Motivationsprogramms. Lustlos schlurften Tim und Felix zur Arbeitsplatte und blieben mit hängenden Armen davor stehen wie zwei abgeschaltete Haushaltsroboter.

»Und jetzt?«

»Jetzt machen wir erst mal den Teig«, trällerte ich und schob Merle nachdrücklich aus der Küchentür. »Du gehst shoppen und lässt dich erst in drei Stunden wieder hier blicken, klar?«

Stolz darauf, nicht auf die blödsinnige Idee gekommen zu sein, das Abwiegen der Zutaten mit allerlei pseudolustigen Matheaufgaben zu verbinden, legte ich eine Stunde später zwei Teigkugeln für Engelsaugen und Vanillekipferl in den Kühlschrank. »Halbe Stunde Pause, danach geht es ans Ausstechen«, erklärte ich. Felix und Tim hatten sich jedoch schon beim Wort »Pause« wieselflink davongemacht und ich fragte mich, ob es vielleicht ein Fehler gewesen war, die beiden nicht einfach in die Küche einzusperren, bis der Teig fertig gekühlt war.


Ich spürte, wie meine Sympathie für die Waldorfpädagogik schwand.

Zwei Tassen Kaffee später (zum Glück wusste ich, wie Merles Espressomaschine funktionierte) und nach mehreren pseudo-optimistischen WhatsApps an Merle kostete es mich tatsächlich einige Mühe, die zwei Jungs aus ihren Zimmern zu holen und wieder in die Küche zu lotsen. Ich spürte, wie meine Sympathie für die Waldorfpädagogik schwand und einem Kasernenhofton Platz zu machen drohte, doch ich riss mich zusammen. »So, als Erstes machen wir Engelsaugen.« Ich versuchte so freudig zu klingen, als sei ich der Engel der Verkündigung persönlich.

Statt der ehrfürchtigen Hirten sahen mich zwei Augenpaare voller Verachtung an. »En-gels-au-gen?«, fragte Felix gedehnt.

»Ey, wie uncool«, vervollständigte Tim.

Na prima, dachte ich verbittert. Das kommt davon, wenn der Vater Untoten-Filme glotzt, statt seinen Kindern Gutenachtgeschichten vom Sandmann vorzulesen. Aber weil mich die Geringschätzung im Gesicht des Mittleren empfindlich in meiner Bäckerehre traf und der Jüngste bereits zu Fluchtbewegungen neigte, fasste ich einen Entschluss. »Gut, dann machen wir eben Zyklopenaugen.«

Felix starrte mich verblüfft an, während Tim krähte: »Was ist ein Zyklop?«

Aha, in dem Punkt hatte Zombie-Papi offenbar keine Aufklärungsarbeit geleistet. Oder er war der griechischen Mythologie nicht mächtig. »Ein Zyklop ist ein menschenfressender Riese mit nur einem Auge. Mitten auf der Stirn. Wer ihm begegnet, der wird mit Haut und Haaren von ihm verschluckt.«

Drei Sekunden Stille. »Geil«, sagte Felix dann ehrfürchtig und Tim hüpfte begierig auf und ab.

»Gib mir Teig, gib mir Teig! Ich mache das erste Zü-Klo-Auge«, schrie er ungeduldig.

»Aber mit viel Blut«, fügte sein Bruder hinzu und schielte begehrlich auf die rote Himbeermarmelade.

»Sowieso«, sagte ich lässig und kam mir vor wie im alten Rom. Die Menge verlangte nach Brot und Spielen.

Eine Stunde später glich die Küche einem Horrorkabinett. Überall klebte Marmelade. Felix hatte seine Technik perfektioniert und um den roten Klecks in der Mitte des ausgestochenen Plätzchenkreises herum kunstvolle Schlieren fabriziert. Zitat: »Dem Zyklopen läuft Blut aus’m Auge, während er Menschen frisst.«

Tim dagegen hatte darauf bestanden, aus einem Teil des Teiges Totenköpfe zu formen. »Die sind von denen, die der Menschenfresser schon totgemacht hat.«


Meine Versuche, die Teigknochen als harmlosen Ausdruck kindlicher Kreativität zu interpretieren, wurden von den beiden Mini-Kannibalen zunichtegemacht.

Ich ließ die Jungs sich austoben, denn die Alternative wäre gewesen, stundenlang in der Küche zu stehen und einsam Engelsaugen auszustechen oder öde Halbmonde zu formen.

Selbstredend, dass auch aus dem zweiten Teig, der verführerisch nach Vanille duftete, keine Kipferl wurden, sondern Teufelshörner. Jedenfalls was Tim anging. Felix zog es vor, kleine Teighäufchen zu nehmen und daraus mehr oder weniger kunstvoll Knochen zu formen, während er lauthals In der Weihnachtsbäckerei gibt es manche Leckerei mitsang, das im CD-Player lief. Meine Versuche, die Teigknochen als harmlosen Ausdruck kindlicher Kreativität zu interpretieren, wurden von den beiden Mini-Kannibalen zunichtegemacht.

»Los, ab ins Feuer mit dem Zyklopen«, schrie Felix und rammte das Blech mit den Marmeladenplätzchen in den vorgeheizten Backofen.

»Danach kommen die Leichenteile rein«, kreischte Tim und bepinselte einen der Vanilleknochen mit Himbeermarmelade. Kinder im Blutrausch.

Gerade als ich das zweite Blech in den Ofen schob, hörte ich das Geräusch eines Schlüssels im Haustürschloss und gleich darauf eine Frauenstimme: »Oh, das riecht ja wirklich wundervoll nach weihnachtlichen Köstlichkeiten!«

Ich erstarrte. Das war nicht Merles raues, von einigen Zigaretten pro Tag immer leicht heiser klingendes Organ. Dieser glockenreine Sopran gehörte …

»Oma!«, schrie Tim begeistert und schnappte sich eins der runden Himbeerplätzchen. Er hielt es vor seine Stirn und stürmte in den Flur. »Wir haben Zyklopenaugen gebacken! Guck mal – ganz blutig von der vielen Menschenfresserei!«

»Die Knochen sind gerade im Ofen«, überschrie Felix seinen kleinen Bruder und rannte ebenfalls in den Flur. Ich schloss die Augen und wünschte in diesem Moment, ich wäre Odysseus. Der Kampf gegen den einäugigen Riesen schien mir ein Klacks gegen das, was mir wahrscheinlich gleich von Merles Schwiegermutter Gisela drohte. Die Frau hatte mich damals schon nicht leiden können, als ich Merles Trauzeugin war. Bei der Hochzeit hatte ich den Fehler gemacht zu erzählen, dass mein dunkelrotes, geschlitztes Samtkleid aus einem Laden namens Lack ’n’ Roll stammte. Es war zwar mit dem Slipdress aus cremefarbener Seide darunter durchaus elegant, aber beim Namen des Ladens ließ Gisela den Schwiegertiger aus dem Tank – und ich war fortan Persona non grata.

Meine Plätzchenback-Aktion würde die Sache nicht besser machen, das hatte ich im Gefühl. Kurz darauf tauchte Gisela in der Küche auf und musterte fassungslos unser Werk, während Rolf Zuckowski in Dauerschleife aus dem CD-Player schepperte.

Ich versuchte zu retten, was zu retten war. »Hallo, Frau Peters, schön, Sie zu sehen. Wie geht’s Ihrem Mann im Krankenhaus?«

Doch meine Mühe war vergeblich.

»Zyklopen-Plätzchen, also wirklich! Und was sind das da für Gebilde?«, fragte Gisela, während Merle, die hinter ihrer Schwiegermutter aufgetaucht war, eine Grimasse schnitt und die Schultern zuckte.

»Na, Totenschädel! Die von den aufgegessenen Menschen«, plärrte Tim, noch ehe ich eine kreative Ausrede fand.


»Boah! Voll Foodporn, ey!«

»Ich muss mich sehr wundern. Welche Folgen das für ein kindliches Gemüt hat, will ich mir gar nicht ausmalen!« Giselas Blick erinnerte mich an den des Polizisten aus M – eine Stadt sucht einen Mörder: Die reinste Verachtung in Gestalt einer Frau im blaugrauen Twinset mit Perlenkette, während ich mit mehlbestäubten Jeans und klebrigen Marmeladenfingern dastand.

Zu allem Überfluss kam just in dem Moment Lucca, der Älteste, nach Hause und fasste die vorweihnachtliche Veranstaltung in drei Worte: »Boah! Voll Foodporn, ey!«

Mir kam eine Idee. »Gehen Sie doch mal zu Patrick rein, Frau Peters. Er hat vorhin schon von Ihnen gesprochen«, sagte ich scheinheilig.

»Das mache ich. Merle, ich rate dir dringend, die Küche aufzuräumen, damit nicht noch mehr … Schaden bei deinen Kindern angerichtet wird«, schnaubte die Schwiegermutter meiner besten Freundin und gleich darauf hörte ich die Absätze ihrer Stiefeletten auf dem Flurboden klackern.

»Drei, zwei, eins …«, zählte ich und tatsächlich hörte man nach einem kurzen Klopfen das Öffnen einer Tür und gleich darauf drangen knurrende Laute und schrille Schreie an unsere Ohren. »Ich tippe auf Staffel drei von The Walking Dead«, sagte ich.

Merle legte den Kopf schief. »Oder … Die Nacht der lebenden Toten. Das hat Patrick erst neulich gestreamt.« Wir blickten uns an und prusteten los.

»Hier stinkt’s nach verbranntem Zyklop«, ertönte es auf einmal vorwurfsvoll von Tim.

»Oh, Sch…«, rief Merle und riss die Ofentür auf. Auf dem Backblech lagen nur mehr schwarze Brocken.

»Unsere Teufelshörner! Jetzt haben sie die richtige Farbe«, jubelte Felix.

Obwohl Gisela konsterniert das Haus verlassen hatte, war Merle am Ende des Tages ziemlich zufrieden, denn Patrick hatte versprochen, darüber nachzudenken, ob er nicht sein Netflix-Abo zum Jahresende kündigte.

»Aber weißt du, was das Beste ist?«, sagte Merle. »Jetzt kann ich jedes Jahr Plätzchen vom Bäcker kaufen – und meine Schwiegermutter wird keinen Ton mehr darüber verlieren!«

Advent, Advent, der Christbaum brennt!

Подняться наверх