Читать книгу Advent, Advent, der Christbaum brennt! - Heike Abidi - Страница 9
Die Weihnachtstaube
ОглавлениеNoch glaubten die beiden an den Weihnachtsmann.
Noch.
Der Aufwand, den wir betreiben mussten, wurde allerdings jedes Jahr größer. Zum Beispiel kam bis zum letzten Jahr der Weihnachtsmann stets singend in unserem Wohnzimmer an. Das übertönte nämlich locker die üblichen Weihnachtsgeräusche »Scharren«, »Rascheln« und sogar »Fluchen«, die auftreten, wenn man versucht, einen widerspenstigen Baum wiederaufzurichten oder eindeutig zu große Geschenke unter seine Äste zu schieben.
Unser Weihnachtsmann sang auf Englisch, das verstanden die lieben Kleinen nicht und hielten es für »Weihnachtsmannisch«.
Unser Weihnachtsmann sang auf Englisch, das verstanden die lieben Kleinen nicht und hielten es für »Weihnachtsmannisch«. Er sang das alte englische Lied vom guten König Wenzeslaus, weil das in unserem Umfeld niemand kannte oder hörte. In irischem Englisch. Auf Endlosschleife. Von YouTube geklaut, auf einen Stick gebannt.
Wir nahmen in Kauf, dass unsere Kinder vermutlich den Rest ihres Lebens denken würden, der Weihnachtsmann stamme aus der Republik Irland. Das, fanden wir, hat Irland in all seiner Nettigkeit durchaus verdient.
Alles ging gut. Bis zum letzten Jahr. Da fand der schlaue, kleine Lukas den Stick. Und der noch schlauere, etwas größere Jonas steckte ihn in meinen Computer.
Danach hatte ich ein Problem. Ich löste es, indem ich den Kindern sagte, der Weihnachtsmann hätte uns letztes Jahr erlaubt, ihn aufzunehmen, weil wir seine Stimme so schön fänden. Aber der Zweifel war gesät und fing an zu keimen und zu wachsen, zumal es Kinder im Kindergarten gab wie die entzückende, kleine, hochbegabte Lucia, die, kaum pirschte sich das Jahr an Weihnachten heran, lauthals behauptete, den Weihnachtsmann gäbe es nicht. Leider war Lukas derzeit in Lucia verliebt.
Wir begannen, uns vorzubereiten: Albert, mein Mann, installierte ein Programm auf seinem Computer, womit er die Stimme des irischen »Wenzeslaus«-Sängers verdoppelte, sodass wir den Kindern erzählen konnten, der Weihnachtsmann würde jetzt zu seinem eigenen Playback singen.
Ich kaufte goldenen Glitzerstaub in einem kleinen Fläschchen, verteilte ihn zart auf den Fensterbrettern, hub an, den lieben Kleinen etwas von »Weihnachtsstaub« aus dem Mantel des Weihnachtsmannes zu erzählen, und – »Mama, Lucia hat genau den gleichen Glitzer, da hat sie Weihnachtskarten mit gemacht!« – saugte ihn wieder auf.
Eine Weile überlegte Albert, unseren Kindern den Absolutknaller zu servieren: einen echten Weihnachtsmann!
Zu diesem Zweck wollte er seinen Freund Tobias verpflichten. Tobias ist der einzige seiner Freunde, der einen geeigneten Bart besitzt, dicht und auf Zug sehr stabil. Wir waren beide von dem Gedanken geradezu euphorisiert.
Tobias weniger.
»Wer weiß, vielleicht steckt in dir ein hollywoodwürdiger Weihnachtsmann.«
Er behauptete, ein lausiger Schauspieler zu sein.
»Das kannst du nicht sagen, wenn du es noch nie versucht hast«, konterte Albert. »Wer weiß, vielleicht steckt in dir ein hollywoodwürdiger Weihnachtsmann. Mann, Alter: Danach heuerst du bei Disney an und wirst endlich reich!«
Tobias änderte seine Taktik. Jetzt lehnte er ab, sich seinen Bart weiß zu färben, sogar als wir ihm anboten, das Bleichmittel zu bezahlen; er versicherte uns, dass der Bart mit Haarbleichmittel bestenfalls blond werden würde.
»Ich weigere mich, monatelang mit einem blonden Bart herumzulaufen, nur damit eure Kinder an den Weihnachtsmann glauben, bis sie erwachsen sind und ausziehen«, sagte Tobias und rollte mit den Augen. »Und im Übrigen riechen eure Kinder sowieso Lunte, wenn sie mich nach Weihnachten mit einem hellen Bart sehen!«
»Du könntest ihn doch wieder dunkel färben«, schlug Albert vor. »Sag einfach, welche Farbe du möchtest – Ebenholz, Mahagoni, Teak –, ich besorge sie dir.«
Tobias stand auf und sagte: »Wisst ihr eigentlich, dass Marie, schon seit sie vier Jahre alt ist, nicht mehr an den Weihnachtsmann glaubt?«
Marie ist seine Tochter und ein entzückendes Kind, aber sie leidet an einem gewissen Mangel an Fantasie, das müsste man schon einmal sagen dürfen. Und jetzt wüsste man ja auch endlich, woher das kommt, erläuterte Albert ihm.
Tobias murmelte etwas von »Kinder nicht belügen« in seinen prächtigen schwarzen Bart und holte sich ein weiteres Bier.
Also musste der Weihnachtsmann virtuell bleiben.
Kurz vor Weihnachten malte ich vormittags einige Klinken golden an. Der Weihnachtsmann hatte dort, als er unsere Wohnung schon mal vorbereitend inspiziert hatte, seinen güldenen Glanz hinterlassen, wollte ich den Kindern erzählen. Natürlich war der güldene Glanz ungiftig, sie war also notfalls ess- und trinkbar, diese Farbe. Leider gehen solche Eigenschaften meistens mit Wasserlöslichkeit einher und leider vergaß ich im Laufe des Vormittags komplett, dass ich eine halbe Stunde lang Türklinken angepinselt hatte, weil ich eine schwierige Rolle auswendig lernen musste.
Zu diesem Zweck spaziere ich gern ausführlich durch unsere Altbauwohnung, weswegen mich unsere Kinder, als ich sie von Kindergarten und Grundschule abholte, fragten: »Mama, warum hast du goldene Wasserfarbe an den Händen?«
Jonas sprach sogar von meinen »Handflächen«.
Zum Glück verfügen wir Erwachsenen ja über jede Menge Fantasie. Das braucht man heutzutage zur Kinderaufzucht.
»Ich wollte einfach mal ausprobieren, wie sich eine goldhändige Fee wohl so fühlt«, erklärte ich den beiden.
»Ich finde das cool, dass du so ein bisschen verrückt bist«, gab Lukas zurück. »Und was kriege ich zu Weihnachten?«
»Keine Ahnung. Musst du den Weihnachtsmann fragen!«
Die beiden Jungen sahen sich an, dann grinsten sie.
Schließlich kam der Weihnachtsabend.
Den Baum schmückten wir noch gemeinsam. Dann aber kam der große Auftritt des virtuellen Weihnachtsmannes. Zu diesem Zweck scheuchen wir die Kinder immer in Jonas’ Zimmer. Das liegt am weitesten entfernt vom Wohnzimmer, weswegen uns eine Weile blieb, bis sie sich schließlich vor die Tür geschlichen hatten.
Sie werden jedes Jahr schneller.
»Jetzt sind sie vor der Badezimmertür«, flüsterte Albert und warf den Verstärker an. Fast volle Lautstärke. Leider hörten wir dann die Kinder auch nicht mehr.
Ich bemühte mich, das Preisschild von der Lego-Star-Wars-Packung zu entfernen – das eine von den auf den letzten Drücker besorgten Notgeschenken zwecks absolut gerechter Geschenkeverteilung –, und bedeutete Albert gleichzeitig: »Halt das Schlüsselloch zu, eins, zwei, drei, jetzt stehen sie davor.«
Ich bin inzwischen nahezu perfekt in Englisch und Pantomime, notfalls auch gleichzeitig.
Albert grinste und fummelte stattdessen an seinem Handy herum. Dann presste er es vor das Schlüsselloch.
»Manno, Papa!«, schrie jemand Kleines von draußen, »ich kann gar nichts mehr sehen!«
»Das ist das Weihnachtslicht um den Weihnachtsmann, das hier so hell leuchtet!«, brüllte Albert über den doppelten »König Wenzeslaus« hinweg und presste sein Handy weiter gegen das Schlüsselloch. »Schau da auf gar keinen Fall hinein, das ist schlecht für die Augen!«
»Warum leuchtet der Weihnachtsmann denn mit LED-Licht?«, wollte einer von den beiden wissen.
»Keine Ahnung!«, brüllte Albert zurück, während ich in die Verpackung biss. Irgendwie musste das verflixte Preisschild doch abzubekommen sein.
»Warum leuchtet der Weihnachtsmann denn mit LED-Licht?«
»Warum sieht man das Licht denn dann nicht durch die Türritze unten?«
Mist, verflixter!
Albert schlüpfte einhändig aus seinem Pullover und schmiss ihn vor die Türritze.
»Warum liegt dein Pullover jetzt vor der Türritze? Wo ist der Weihnachtsmann? Und warum hat Mama gerade an einem Paket herumgekaut?«
Das ist der Nachteil von Altbauten. Ritzen und Spalten überall. Türen mit verlorenen Schlüsseln. Derlei weihnachtserschwerende Dinge.
Letztes Jahr waren sie noch ehrfürchtiger gewesen. Letztes Weihnachten hatten sie sich noch nicht getraut, durch das Schlüsselloch zu schauen. Weil wir ihnen gesagt hatten, dass der Weihnachtsmann mitsamt den Geschenken dann schneller verschwinden würde als die Schokolade aus der Süßigkeitenschublade, wenn ich nicht in der Küche bin.
Preisschild ab. Nächstes Paket. Da ich das Spiel secondhand erstanden hatte, musste es wenigstens in schönes Papier eingewickelt werden. Vor der Tür klang es vage, als würden die Kinder die Wohnung umbauen.
Ich sah, wie Albert die Augenbrauen erst hob, dann kräuselte.
Die Tür vibrierte.
Albert straffte sich. Er nahm sein Handy vom Schlüsselloch und drückte die Klinke herab, um zu sehen, was da draußen vor sich ging. Das war ein Fehler.
In diesem Moment platzte die Tür auf und zwei kleine Jungen stürmten ins Wohnzimmer. Albert und mir fiel der Unterkiefer herunter. Ich schob die Pakete blitzschnell unter den Baum. Der ließ seufzend ein paar Nadeln.
Die Jungen sahen sich um, dann rannten sie zum Fenster, das Albert vorhin, nachdem wir laut fluchend versucht hatten, den Baum einigermaßen gerade in seinem Baumfuß zu versenken, auf Kipp gestellt hatte.
»Siehst du ihn, Joni? Siehst du den Weihnachtsmann?«
Beide pressten die Nasen gegen die dunkle Scheibe. Draußen hatte die Heilige Nacht begonnen. Vielleicht hatte Tobias doch recht und man sollte die Kinder nicht anlügen.
Aber dann würden sie Beamte oder Programmierer werden müssen und konnten wir das verantworten?
»Weg«, schnaubte Albert, als er sich von dem Schreck erholt hatte. »Der Weihnachtsmann ist jetzt weg und kommt nicht wieder!«
»Warum singt er dann immer noch?«, fragte Jonas und drehte sich um. Im Hintergrund brüllte der gute König Wenzeslaus zweistimmig: »Mark my footsteps, good my page, tread thou in them boldly, thou shalt find the winter’s rage freeze thy blood less coldly …«
Es gibt so Momente, da fällt auch dem erfindungsreichsten Elternteil einfach nichts mehr ein. Wir starrten.
Um Jonas Lippen spielte ein leises »Gotcha«-Lächeln.
Er drehte sich wieder um zur Heiligen Nacht und plötzlich:
»Papa, Papa, auf dem Fensterbrett sitzt eine Taube. Der Weihnachtsmann hat sich in eine Taube verwandelt!«
Da sah ich Licht. Weihnachtslicht. Möglicherweise direkt von irgendwoher weit über den Wolken.
Manchmal reagiert mein Mann wirklich schnell. Ich war noch dabei, meine Gedanken zu frisieren, da schnaubte Albert schon: »Ja … Was hast du denn gedacht?«
Da sah ich Licht. Weihnachtslicht. Möglicherweise direkt von irgendwoher weit über den Wolken.
»Manchmal verwandelt er sich in eine Taube«, sagte ich mit meiner sanftesten Stimme. »Manchmal verwandelt er sich auch in etwas anderes, wenn man ihn so überrascht, zum Beispiel …«
Beide Kinder starrten mich begeistert an.
»In eine Wurst?«, schlug Lukas vor.
Ich runzelte Stirn und Brauen. »In eine Weihnachtsbaumkugel. Oder in …« Ich sah mich schnell im Zimmer um. »In eine Kerze«, sagte ich dann mit fester Stimme. »In eine Flamme. Ja, in fast alles. Deshalb muss man auch seeehr aufpassen, wenn man Kerzen ausbläst, siehst du, Luki. Weil es sein könnte, dass man den Weihnachtsmann wegpustet. Und er dann nie wiederkommt.« Luki blies derzeit jede erreichbare Kerze sofort aus. Zwei Fliegen mit einer Klappe.
Luki und Joni blickten zu mir auf.
»Keine Geschenke«, seufzte Jonas traurig und schüttelte langsam den Kopf.
»Du sagst es«, sprach Albert und schob seine Söhne aus dem Weihnachtszimmer. »Die Geschenke werden dann gleich mitausgepustet. Und wenn man ihn überrascht, sodass er sich in eine … Taube verwandeln muss oder eine Kerzenflamme oder was war das noch gleich, Julia? … Dann ist er anschließend beleidigt. Deshalb müsst ihr ihm jetzt einen Brief schreiben.«
Die beiden Jungen sahen ihren Vater ungläubig an.
Er sie ebenfalls. Weniger ungläubig und direkt in die Augen.
»Einen schönen und sehr langen Brief. Am besten gereimt, damit er wiederkommt.«
»Papa, aber ich kann noch nicht richtig schreiben«, erinnerte Lukas ihn.
»Aber malen«, sagte Albert unerbittlich. »Sehr schön malen. Und das werdet ihr jetzt in Jonas’ Zimmer auch tun. Und es wird lange dauern. Und ihr werdet die ganze Zeit hoffen, dass der Weihnachtsmann mit euren Geschenken überhaupt zurückkommt, hört ihr?«
Weihnachten wurde dann sehr schön und friedlich. Keine Kerze wurde ausgepustet, die Jungen freuten sich wie verrückt über ihre Geschenke. Sogar der Weihnachtsmann kam noch einmal vorbei, um zu schauen, ob alles in Ordnung war … Entschuldigung, ich meine natürlich die Taube.
Und dann lagen unsere Schätze im Bett und Albert und ich tranken unseren wohlverdienten Nachbescherungswein und sahen in die Kerzenflammen und ich beschloss, noch einmal nach den beiden zu sehen und …
Das war ein Fehler.
Vor der Tür von Jonas’ Zimmer, in dem sie beschlossen hatten, heute Nacht zusammen zu schlafen, blieb ich stehen. Ich schaute durchs Schlüsselloch. Vorschriftsmäßige Dunkelheit. Da drinnen flüsterte es.
Ich presste mein rechtes Ohr gegen die Tür …
»Das mit dem Weihnachtsmann war cool, nicht?«
»Ja, voll krass.«
»Gut, dass dir das eingefallen ist. Das mit der Taube.«
»Ja. Weißt du, Luki, die tun mir manchmal eeecht leid.«
»Warum?«
»Weil: Die glauben doch echt alles. Ich meine: ein Weihnachtsmann als Weihnachtsbaumkugel. Als ob der sich verwandeln könnte …«
»Ja. Hihihi.«
»Echt jetzt. Denen kann man alles erzählen.«
»Pfrgnihihi.«
»Weißt du, die glauben bestimmt noch an den Weihnachtsmann, wenn wir mal groß sind und ausziehen.«
»Weißt du, die glauben bestimmt noch an den Weihnachtsmann, wenn wir mal groß sind und ausziehen. Aber wir passen auf, dass die das nicht merken, dass es den nicht gibt, okay, Luki?«
»Klaaar.«
Ich nahm mein Ohr von der Tür.
Ich hatte genug gehört.
Pffrgnihihi.
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