Читать книгу Advent, Advent, der Christbaum brennt! - Heike Abidi - Страница 7
ОглавлениеHoher Besuch
Eine Ente muss nicht immer Pech haben, dachte ich, ohne es zu wollen, während ich mich ins Waschbecken erbrach. Vielleicht lag es an meinen hämmernden Kopfschmerzen, vielleicht aber auch an den lauten Entrüstungsäußerungen meiner besseren Hälfte, bei der ich seit meiner frühmorgendlichen Heimkehr zugegebenermaßen einen schlechten Stand hatte, dass ich das Klingeln zunächst nicht realisierte. Ich hatte einen großartigen Abend gehabt, beste Gesellschaft, herausragende Geistesblitze, und es ernüchterte mich zutiefst, dass die Weltformel, die die Kneipenrunde zu spätester Stunde aus dem alkoholgetränkten Nichts heraus gebar, am nächsten Tag so gar keinen Sinn mehr ergeben wollte – »eine Ente muss nicht immer Pech haben ...« Ein erneuter Schwall Erbrochenes ergoss sich in die weihnachtlich gewienerte Keramikschüssel.
Ja, es war Heiligabend, wahrscheinlich schon gar nicht mehr so früh, die Kinder würden in Kürze auf den Plan treten und ihr Recht fordern, die Laune meiner Lebensgefährtin musste wiederhergestellt werden – wohl eine unlösbare Aufgabe – und ich befand mich in einem derart jämmerlichen Zustand, dass selbst mein Bett kein geeigneter Ort für mich gewesen wäre. Da klingelte es und erst Evas barsche Frage, ob ich nicht endlich einmal aufmachen wolle, ließ in mir den Gedanken herandämmern, dass es wohl schon öfter geklingelt haben musste. Bleiern schleppte ich mich zur Tür und öffnete.
Krampfhaft überlegte ich, ob es womöglich der Alkohol war, der mir ein sinnvolles Kommunizieren erschwerte.
Das Gesicht, das mir, umweht von dünnen Schneeflocken, aus dem schalen Winterlicht entgegenblickte, aktivierte in mir den Wunsch, mich zu erinnern, woher ich es wohl kannte. Ein Mann, zweifellos, und offenbar keiner, der Small Talk liebte: »Ihr Gartenteich ist zugefroren«, schmetterte er mir grußlos entgegen und sah mich herausfordernd an. Tatsächlich sprach der Mann die Wahrheit aus, kein Wunder, bei den knackigen minus zehn Grad, die unsere Gegend seit Tagen im Griff hatten und den Gedanken an Klimawandel und grüne Weihnachten so fern erscheinen ließen wie die Logik hinter den ersten Worten des unerwarteten Besuchers. Krampfhaft überlegte ich, ob es womöglich der Alkohol war, der mir ein sinnvolles Kommunizieren erschwerte, hörte aus dumpfer Ferne Eva fragen, wer da wohl gekommen sei, und beschloss, die Tür ohne weitere Erläuterungen zu schließen. Gedacht, getan.
Ein Fuß verhinderte das Einrasten des Schlosses und zu meinem Erschrecken musste ich feststellen, dass der Fuß keine Schuhe trug. »Ihr Teich ist zugefroren, verdammte Hacke, wie soll ich darauf wandeln?« Der Mann hatte sich vor mir aufgebaut und obschon er nicht besonders groß war, ging doch eine gewisse Autorität von ihm aus. Er trug einen seltsamen Mantel, eher ein Hemd, das seine besten Jahre wohl hinter sich hatte, und funkelte mich zornig an. Auf einmal wusste ich, woher ich das Gesicht kannte: Es gehörte zweifellos zu dem Schauspieler Jürgen Vogel.
»Herr Vogel?«, hörte ich mich fragen, doch der Mann öffnete die Tür nun ganz und trat über die Schwelle.
»Quatsch, ich bin der Messias.« Mit wenigen Sätzen stand er im Wohnzimmer und machte sich an unserem Weihnachtsbaum zu schaffen. »Was soll denn der Scheiß?« Provozierend hielt er mir eine Christbaumkugel unter die Nase. »Dafür tötet ihr Bäume?«
Erneut klingelte es. Eva öffnete. Es war Ruth, die die Kinder brachte. Ruth wollte über die Feiertage mit ihrem Freund in Skiurlaub fahren. An Weihnachten hatte sie noch nie etwas gehabt. Und da sie jedes Jahr einen neuen Freund hatte, konnte sie immer wieder an denselben Urlaubsort verreisen, ohne langweilig zu wirken. Ruth schien immer ein wenig verlegen, wenn sie zu uns nach Hause kam. In erster Linie wohl deshalb, weil sie wusste, dass ich sie ihrer Oberflächlichkeit wegen verlassen hätte, hätte sie es nicht vorher meiner eigenen Charakterfehler wegen getan. Und natürlich wusste sie auch, dass ich wusste, wie egoistisch glücklich sie sich schätzte, wenn sie unsere Kinder mal wieder für die Dauer eines Urlaubs bei mir parken konnte.
»Komm rein, Ruth«, hörte ich Eva sagen – Nicolas und Mathieu waren es längst – und wunderte mich, wie so oft schon, über Evas Fähigkeit, ihren gerade noch auflodernden Zorn in Freundlichkeit denen gegenüber umzuwandeln, die sie doch viel weniger verdient gehabt hätten als ich.
Momente später standen wir zu fünft um den Tannenbaum und sahen Jürgen Vogel dabei zu, wie er ihn gewissenhaft abschmückte.
Momente später standen wir zu fünft um den Tannenbaum und sahen Jürgen Vogel dabei zu, wie er ihn gewissenhaft abschmückte.
Geschlagene sieben Sekunden dauerte es, bis Nicolas als Erster das Wort ergriff: »Wer bist du?«, und damit zum Ausdruck brachte, was alle anderen ebenfalls dachten.
Jürgen Vogel drehte sich um. »Hat dir das dein Vater, die alte Saufnase, noch nicht erklärt?«
Nicolas schaute mich fragend an. Gewiss wäre nun der richtige Moment gekommen, um sich als Vater zu beweisen, indem man den ungebetenen Besucher freundlich, aber bestimmt zur Tür brachte. Doch irgendetwas hielt mich davon ab. Ich setzte mich auf unsere sündhaft teure Wohnlandschaft und hieß die anderen, es mir gleichzutun.
»Na ja, ich geh dann mal«, meinte Ruth. Draußen wartete der Skiurlaub, wahrscheinlich saß sogar der Freund im Auto, verständlich, dass es sie nicht lange im Hause ihres Ex-Lebensgefährten hielt. Auch den Kindern schien klar zu sein, dass lange Abschiedsprozeduren nicht gefragt waren, so sagten sie nur ein paar matte Floskeln zu ihrer immer noch viel zu jungen Mutter. Bevor diese aber ihren Fuß auf die Straße setzen konnte, hatte Jürgen Vogel sie am Handgelenk gepackt.
»Komm herein, Weib, auch du bist mir willkommen, gerade du, und wir werden speisen im Angesicht unserer selbst bei Kerzenschein und der Herr wird uns bewirten mit einer Freundlichkeit, die du noch nicht gekannt.«
»Wer, ich?«, fragte ich.
»Der Herr, du Penner!«
Langsam verfestigte sich in mir der Eindruck, Jürgen Vogel könne mich nicht leiden.
Langsam verfestigte sich in mir der Eindruck, Jürgen Vogel könne mich nicht leiden.
»Lass nur«, meinte Eva und verschwand, eine Wolke aus Güte aufwirbelnd, in der Küche.
»Na also, geht doch.« Jürgen Vogel wandte sich wieder dem Weihnachtsbaum zu. Offenbar war ihm das gewissenhafte Abschmücken nun doch nicht mehr wichtig, denn er riss den Baum aus dem Ständer und warf ihn durch das geschlossene Wohnzimmerfenster.
»Ich ruf mal eben den Glaser an«, erbot sich Mathieu, mit seinen 15 Jahren schon zu außerordentlicher Vernunft gekommen, doch das war nicht nötig, denn der Glaser musste schon da gewesen sein und eine neue Scheibe eingesetzt haben, während ich kurz weggenickt war. Ich würde in der nächsten Zeit keinen Alkohol mehr trinken.
Unter normalen Umständen wäre ich wütend geworden, hätte spätestens jetzt den Vollidioten vor die Tür gezerrt, ihn mit einem Arschtritt versehen und in die Nacht gejagt.
Erst als das Abendessen schon in vollem Gange war, kam ich wieder richtig zu mir. Erstaunt bemerkte ich, dass Ruth am Tisch saß, direkt gegenüber von Jürgen Vogel, wie Eva und die beiden Jungs, gebannt den Reden des Messias lauschend. Unter normalen Umständen wäre ich wütend geworden, hätte spätestens jetzt den Vollidioten vor die Tür gezerrt, ihn mit einem Arschtritt versehen und in die Nacht gejagt, aber eine sanfte Wohligkeit hatte sich in mir breitgemacht. Fasziniert beobachtete ich, wie Vogel mit einem Glas Rotwein in der Hand weit ausholend referierte:
»Seht dies Weinglas – blutrot ist der Lebenssaft, den es zu unserer Erquickung bereithält, und schon ...«, er leerte es in einem Zug, »... ist da nichts mehr, außer einer gläsernen Leere. Dennoch wirkt der Saft des Lebens in mir fort, rauscht mir durch die Venen und bereichert meinen Geist, der, beseelt von der Magie des Weines, nach neuerlichem Weinblut Ausschau hält.« Vogel streckte den Arm mit dem Glas nach vorn und bekam wie selbstverständlich von Ruth, die ihn auf unangenehme Weise anhimmelte, nachgeschenkt. Er wandte sich nun direkt an sie: »Wenn ein Schaf sich von der Herde entfernt und in Gefahr gerät – was würdest du von einem Schäfer halten, der sich nicht darum schert? Wäre das ein guter Hirte?«
»Wer bist du?«, fragte Nicolas aufs Neue.
»Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben«, entgegnete der Fremde, der auf einmal so gar keine Ähnlichkeit mit Jürgen Vogel mehr aufzuweisen schien. »Und wenn ich euch einen guten Rat geben darf: Interessiert euch füreinander! Öffnet eure Herzen! Bleibt Menschen und hört auf, permanent um euch selbst zu kreisen! Meinem Vater ist nicht wichtig, dass ihr ihn anbetet. Aber er bekommt Depressionen, wenn er sieht, wie ihr eure Smartphones, eure Tablets und eure Instagramprofile anbetet.«
»Ich besitze überhaupt kein Smartphone«, entrüstete sich Eva, aber der Mann legte ihr beschwichtigend seine Hand auf die Schulter:
»Ich spreche nicht zu dir allein, sondern zu der gesamten Menschheit. Zu der gesamten kaputten Menschheit, die nicht einmal in der Lage ist zu erkennen, dass ihre Probleme nur gemeinsam zu lösen sind.«
»Probleme gemeinsam lösen« – da hatte der Messias ein wahres Wort gesprochen. Wie oft schon waren mir die großen Fragen der Menschheit durch das Hirn gewabert und hatten dann doch ihren Platz für sinnlose Alltagsdinge geräumt. Als ob es wichtiger wäre, ein Auto zu polieren, als Kriege zu vermeiden.
Eine Ente muss nicht immer Pech haben. Merk dir das.
Plötzlich spürte ich Vogels stechenden Blick: »Und dir möchte ich auch etwas auf den Weg geben: Eine Ente muss nicht immer Pech haben. Merk dir das. Nicht immer. Aber eben doch fast immer ...«
Ich erwachte. Sonnenlicht brach durch die Ritzen im Rollladen. Ruth schlief neben mir. Wie immer. Ich grübelte, wer genau Eva gewesen sein könnte, aber ich hatte kein Bild mehr vor Augen. Aus den unteren Stockwerken hörte ich, dass Nils und Maren schon spielten. Schön, dass sie noch so klein waren und auf das Christkind warteten. Viel zu schnell würde sich alles ändern. Ruth schnarchte. Sie hatte gestern wohl zu lange mit ihrer Freundin geklönt. Für mich war es nun Zeit, aufzustehen. Ich überlegte, mit den Kindern gemeinsam den Baum aufzustellen. Bäume gehörten einfach dazu. Oder doch nicht? An der Haustür klingelte es.