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VORWORT Vom Himmel, der Hölle und dem wahren Glück
ОглавлениеAls ich meine erste Liebe kennenlernte, war ich sechs Jahre alt. Wir waren beide in der ersten Klasse und ich weiß noch, wie wir uns bei einem Klassenausflug die ganze Zeit an den Händen hielten. Für mich war sofort klar, dass ich verliebt war, auch wenn die Phase damals nicht lange andauerte. Aber das Gefühl war urvertraut, so sehr, dass es mir vorkam, als sei es schon da gewesen, bevor ich auf die Welt kam. Und ich wurde ein Teil davon.
Erstmals bewusst aufgefallen ist mir das durch einen Film; ich muss ungefähr vier Jahre alt gewesen sein. Er hieß Der Teufel mit den drei goldenen Haaren, ein alter deutscher Film von 1955, und er lief in zwei Teilen auf dem Schwarz-Weiß-Röhrengerät meiner Großeltern. Der Müllerssohn, einst von einem dunklen Schurken seinen Eltern geraubt, aber von einer Fee stets beschützt, kommt, ganz wie es das Schicksal vorgesehen hat, an das königliche Schloss, wo er auf Prinzessin Adelheid trifft. Adelheid! Für mich war dieser Name seitdem die Verkörperung von allem Wundervollen auf dieser Welt. Im Film hatte sie dunkle, lange Haare, fast schwarze Augen und ein wundervolles Lachen – hach! Sie war unwiderstehlich. Ihre Schönheit schien makellos, ihr Wesen ohne jeden Fehler und in ihrer Gegenwart musste alles andere in Bedeutungslosigkeit versinken.
Adelheid war schwer krank und nur die drei goldenen Haare des Teufels konnten sie heilen. Sie im Krankenbett zu sehen, brach mir fast das Herz. Der Held, dem geweissagt worden war, dass er sie sowieso einst heiraten würde, machte sich daraufhin auf den Weg in die Hölle. Ich selbst hätte es nicht anders gemacht. Er traf dort auf den Teufel persönlich, raubte unter Einsatz seines Lebens die Haare und kehrte ins Schloss zurück. Adelheid wurde gesund. Ein nur unter Tränen zu genießendes Glück.
Zu meinem Kummer ist es mir nie gelungen, den Film wieder ausfindig zu machen; er scheint verschollen zu sein.
Bei meiner »realen« Liebe war es insofern anders, als dass mir eine Zeitlang, so etwa bis zu meinem 14. Lebensjahr, alle zwei bis drei Jahre eine Prinzessin Adelheid zu begegnen pflegte. Es blieb allerdings immer beim Schmachten und Träumen, daher wusste ich nie, wie sie in Wirklichkeit war. Aber jede meiner Adelheids war immer die Schönste und die Einzige, der Gipfel des Denkbaren.
Leider beruhte das nicht immer auf Gegenseitigkeit. Das kann die Liebe verdammt schmerzhaft machen. Umgekehrt hat es mich auch immer geschmerzt, wenn ich eine Liebe nicht erwidern konnte. Es gibt leider Menschen, in die kann man sich einfach nicht verlieben, so nett sie auch sind und so sehr sie sich auch bemühen. Tja ja.
Gefühle sind deshalb etwas so Merkwürdiges, weil sie mit dem Verstand nicht zu begreifen sind, geschweige denn zu lenken. Als Wissenschaftler können wir sie beobachten und ihre Auswirkungen beschreiben, Biochemiker mögen sogar ihre chemische Entsprechung im Gehirn nachweisen können. Aber sobald wir sie analysieren, berauben wir sie ihrer eigentlichen Qualität. Die Einzigen, die sich am ehesten den Gefühlen nähern können, ohne sie zu zerstören, sind die Dichter. Deshalb gehört das Interpretieren von Gedichten bis heute zu den grauenhaftesten Aufgaben, die Schüler ertragen müssen – etwas mit dem Verstand auseinanderklamüsern, was sich ebendiesem völlig entzieht.
Auch Tiere haben Gefühle, je höher entwickelt, desto differenzierter. Elefanten können intensiv trauern, Hunde können beleidigt sein, Bären kugeln sich vor Vergnügen, bis hin zu der berühmten Affenliebe. Wir Menschen sind biologisch gesehen ja nichts anderes als Tiere und evolutionär höherstehend nur insofern, als wir einen weiterentwickelten Cortex besitzen, eben jene »grauen Zellen«, mit denen wir Gedankenleistungen vollbringen können, die selbst unseren nächsten Verwandten, den Schimpansen, zeitlebens rätselhaft bleiben dürften. Gleichwohl werden diese Hirnbereiche maßlos überschätzt, denn wenn wir von überwältigenden Gefühlen gebeutelt werden, nützt uns unser Verstand gar nichts. Ich wundere mich regelmäßig, wie viele Menschen – auch sehr kluge – immer noch denken, sie hätten mit ihrem Verstand alles im Griff.
Gefühle sichern jedoch unser Überleben. Sie wirken, bevor wir zu denken beginnen. Das Gefühl der Angst hat sich nicht entwickelt, um uns zu quälen, sondern um zu signalisieren, dass wir uns in Sicherheit bringen sollten, weil Gefahr droht. Das Gefühl der Wut ist nicht dazu da, um uns gegenseitig zu vernichten, wohl aber, um uns zu wehren. Das Gefühl des Ekels schützt uns vor Vergiftungen. Das Gefühl der Trauer brauchen wir, um Abschied zu nehmen. Das Gefühl der Freude zeigt uns, was uns guttut. Und auch das Gefühl der Liebe ist nicht zu unserer Unterhaltung da. Liebe befähigt uns, dauerhafte Bindungen einzugehen. Ohne dauerhafte Bindungen gibt es keine Geborgenheit, keine Familien, keine Kinder, keine Zukunft.
Manche meinen, bei der ersten großen Liebe dächte man an solch weitreichende Dinge doch gar nicht. Dem ist auch so – aber nicht, weil es keine Rolle spielt, sondern weil das Denken dabei, wie gesagt, weitgehend außer Kraft gesetzt ist. Das Programm, das untergründig und unausweichlich abläuft, ist aber das gleiche und je unbeschriebener wir sind, desto unverbrauchter und ungebremster ist es. Die geballte Kraft unserer Liebesbereitschaft steht in den Startlöchern und sobald es einen Auslöser gibt, bricht der Damm.
Liebe ist ein Zustand, der unzurechnungsfähig macht und uns völlig abdrehen lässt. Er erzeugt zuweilen regelrechte Krankheitssymptome wie Schlaflosigkeit, fehlenden Appetit, Konzentrationsstörungen, Herzklopfen, Atembeschwerden, Zittern, Schwitzen, von einer gewissen Blutleere im Hirn ganz zu schweigen. Im Zustand der Liebe sind Menschen buchstäblich bereit, bis in die Hölle abzusteigen, denn in der Liebe scheint es immer möglich, die drei goldenen Haare zu erlangen, die alles gut, alles möglich machen.
Gerade die erste Liebe hat daher etwas ebenso Bedingungsloses wie Naives. Denn in vielen Fällen wird sie enttäuscht. Dies ist keine Absicht; kein Mensch will sich gern unglücklich machen. Aber das Bild, in das wir uns verlieben, entspricht oft nicht dem Menschen, der sich dahinter verbirgt. Es fehlen die leidvollen Erfahrungen, die wir alle machen, und die uns mit der Zeit lehren, dass nicht jede Liebe funktioniert, so stark sie auch sein mag. Daher ist auch der Glaube, dass die Liebe alles in Ordnung bringen kann, noch weitgehend ungetrübt.
Liebe allein genügt aber nicht. Wenn es gut läuft, lernen wir irgendwann, die Signale zu erkennen, die drohen, uns unglücklich zu machen. Das klappt aber meistens erst bei der zweiten, dritten, vierten Liebe. Wenn wir Glück haben, ist es auch schon mal die erste.
Es ist eine gut dokumentierte Erkenntnis der Psychologie, dass Liebe und Geborgenheit mindestens in den ersten zwei Lebensjahren essenziell wichtig sind. Erlebt ein Kind diese Nähe zu den Eltern als irgendwie unterbrochen, infrage gestellt, ambivalent, fängt irgendwann das Gefühl der Angst an, sich mit dem der Liebe zu verbinden. Unbestimmte Zweifel, ob es so was wie zuverlässige Liebe und Geborgenheit überhaupt geben kann, beginnen, das Unbewusste (das für menschliches Agieren weitaus wichtiger ist als jeder bewusste Gedanke) zu kontaminieren. Und so entwickelt das Kind schließlich eine Angst vor Nähe, einerseits vor künftigen Enttäuschungen, andererseits ausgerechnet vor der Liebe, die zu funktionieren droht – denn nur die macht verletzbar. Die Liebe, die mit ziemlicher Sicherheit scheitern wird, ist dagegen gefahrlos – man muss sich ja gar nicht darauf einlassen. Aber viel öfter erscheint gerade das Aussichtlose faszinierend und verführerisch, weil es an das erinnert, was in der verunsicherten kindlichen Seele gespeichert ist. Diese Liebe suggeriert zudem, die Enttäuschung von früher könnte nun endlich ungeschehen gemacht werden und das Märchen zum ersehnten, erfüllten guten Ende kommen.
Junge Frauen verlieben sich deshalb immer wieder nicht in gute Männer, sondern in bad boys, und haben ein aufregendes Leben vor sich, wenn sich das nicht ändert. Und ein einsames. Mit bad boys kann man keine ernsthafte Beziehung führen, ebensowenig wie mit lost girls. Jene bösen Buben sind in Wirklichkeit nämlich verletzte Jungs, auch wenn sie ungemein cool, männlich, selbstbewusst und charmant daherkommen. Das hat mit dem biologischen Alter noch nicht einmal etwas zu tun; es gibt kleine Jungs, die fünfzig Jahre alt sind. Ebenso sind die unnahbaren, kalten Frauen, die man nicht erobern kann, verletzte Mädchen, lost girls, deren Seele im unzugänglichsten Turm der dornenbewachsenen Burg wohnt. Da kann der tapferste Ritter machen, was er will, er wird sich daran ordentlich die Zähne ausbeißen, endlos Liebeslieder unter dem Balkon der Geliebten zur Laute trällern um am Ende doch gescheitert, verbeult und zerstochen den Rückzug anzutreten. Für Liebende wirken solch belastete Menschen aber oft ungemein interessant, erregend und faszinierend, wogegen die unbelasteten Menschen vergleichsweise für langweilig gehalten werden.
Wenn man Songs von heute hört und sich ein wenig mit Musikgeschichte befasst, entdeckt man schnell, dass sich inhaltlich seit jeher praktisch nichts geändert hat. Bereits im Mittelalter handelten die Lieder fast nur von Liebe, Lust, Enttäuschung und wieder neuer Liebe. Es scheint sich schon immer alles darum gedreht zu haben; andere Themen sind vergleichsweise peripher. Besonders nah und seelenverwandt erscheint natürlich der Sänger, der den gleichen Frust besingt, der uns selbst gerade so piesackt. Dann fühlen wir uns mit unserem Kummer nicht ganz so allein.
Am spannendsten ist deshalb die Liebe, die unerfüllt ist. Würden wir uns für Romeo und Julia noch immer so sehr interessieren, wenn sie sich gekriegt hätten, einen Stall voll Kinder gehabt hätten und in einem hübschen Häuschen am Stadtrand uralt geworden wären? Womöglich eher nicht. Außerdem ist das ja spießig. Und wenn die auch in jeder guten Beziehung unvermeidlichen Auseinandersetzungen und Streitereien stattgefunden hätten, wäre das viel zu unromantisch.
Daher ist es oftmals das Unerledigte, das eine so lange Dauer hat. Es wirkt wie die ersehnte Fortsetzung einer berührenden Geschichte, die auf dem Höhepunkt der Emotionen unterbrochen wurde – nur dass diese Fortsetzung nicht kommt und stattdessen immer wieder in der eigenen Seele stattfindet.
Erste Lieben halten oft ein ganzes Leben, gerade wenn sie nie wirklich stattgefunden haben. Wir können uns wehmütig ausmalen, was alles gewesen wäre, wenn nur dieses und jenes ein bisschen anders gelaufen wäre. Daher schneiden reale Frauen und Männer im Vergleich zu den Lichtgestalten der eigenen Fantasie so schlecht ab.
Erste Lieben halten aber auch deshalb ein ganzes Leben, weil sie schlicht und einfach eine wunderschöne Episode unseres Lebens sind. Sie sind unverdorben durch die seit der Kindheit enttäuschten, resignierten »Realisten«, die allzu oft aus ihrer Not eine Tugend machen, indem sie ihre Bindungsangst zum Lebensstil erklären. Der ganze »Iih-wie-spießig«-Kram und all die »modernen« Überzeugungen, die in der Zunahme von Alleinerziehenden und Patchwork-Familien einen Fortschritt sehen, erwarten in Wahrheit hinter jeder Beziehung die Enttäuschung und haben jeglicher Romantik abgeschworen, weil sie das Gelingen einer echten Liebe letztlich nicht für möglich halten. Doch warum sollte der Frust von einigen zur Doktrin für alle werden?
Liebe ist keine Illusion. Gerade die erste Liebe hält die dauerhafte Liebe für möglich. Sie sieht die geliebte Frau als Königin und den geliebten Mann als König; jeder möchte dem anderen als Zeichen der Verehrung dienen. Das ist gut so. Liebende sollten sich verehren, ungeachtet aller Fehler, die jeder Mensch hat. Und sehen die Liebenden die Liebe nicht als eine selbstverständliche Bringschuld, sondern als ein aus freiem Herzen gegebenes Geschenk, so ist sie wohl der wunderbarste Reichtum, den wir kennen. Daher verdient die erste Liebe, auch wenn sie vielleicht nicht funktioniert hat, noch zu früh war, um Dauer zu haben, oder sich als Illusion erwiesen hat, einen großen Platz in unserem Herzen. Und auch eine zweite Liebe kann am besten gelingen, wenn wir uns so viel wie möglich von der Unschuld und Reinheit unserer ersten Liebe bewahren.