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Das Mädchen aus dem Wolga V12

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Damals konnte man noch mit dem Auto auf den Schulhof fahren. Heute blockieren rot-weiße Pfosten die Zufahrt und nur der Hausmeister und die Feuerwehr können diese unnützen Dinger aushebeln. Aber damals, damals konnte jeder einfach bis vor den Eingang der Aula fahren, wo wir Jungs Fußball spielten und die Bank vor dem Lehrerzimmer als Tor benutzten.

Dieser Wagen fuhr also einfach zwischen uns und parkte unser Tor zu. Ich konnte mich in der schwarz-metallenen Karosse widerspiegeln. Ich sah in dem gebogenen Fenster viel muskulöser aus als in echt und kam mir plötzlich auch so vor. Noch nie hatte ein Wagen direkt vor unserem Tor geparkt. Und noch nie so ein Auto – eines, das ich nicht kannte. Und wenn sich einer mit Autos auskannte, dann ich. Ich kannte nicht nur jede Marke, sondern auch das genaue Modell. Kapitän P 2,6. Käfer 1302. Taunus 26M. Ich kannte sie alle. Aber ein Auto wie dieses hatte ich noch nie gesehen. Es war größer als der Volvo meines Vaters. Flacher, schwarzer. Und – stattlicher. Das war es: eine Staatskarosse. Oder so was ähnliches.

Der Tennisball wanderte unter meiner Schuhsohle von links nach rechts, ich hatte die Arme verschränkt und die Jungs standen um mich rum. Ich war fast zwölf und dieses Terrain, der Ball, die Bank, die Pause gehörten mir und meinen Freunden. Egal, ob Staatskarosse oder Käfer.

Als die Tür hinter dem Fahrer aufschwang, setzte plötzlich die Zeitlupe ein und Schalmeien erklangen. Der Himmel riss auf und sendete einen gebündelten Strahl Göttlichkeit auf das graue Pflaster unseres Schulhofs. Dem Innern des fremden Vehikels entstieg ein Wesen aus Licht und Leichtigkeit. Ein blondes, nicht zu beschreiben hübsches, berückend entzückendes, schmerzhaft atemberaubendes Mädchen – ach, Fee, Grazie, Engel, Venus, nein: Göttin – stellte sich neben das Auto, legte eine Hand auf die Autotür und sagte Hallo. Ihre Stimme war so rein wie das erste Lüftchen an einem Frühlingsmorgen. So natürlich wie das Öffnen einer Rosenknospe im Sonnenlicht. So überdimensional anziehend wie ein Elektromagnet für Schrauben.

Dann stieg ihr Vater aus oder zumindest der Mann, der den Wagen gesteuert und vor unserem Tor geparkt hatte. Er trug sein schwarzes Haar zu einem Seitenscheitel gekämmt, einen grauen Zweireiher und so schicke Schuhe, wie man sie in Detmold nie zuvor (und nie danach) gesehen hatte.

»Wo geht’s hier zum Direktor, Jungs?«, fragte dieser Mensch mit einer Stimme wie Max aus Hart aber herzlich und dem Gesicht von Lex Barker. Er schaute mich dabei an, denn ich muss ihm (zu Recht) wie der Anführer vorgekommen sein. Immerhin hatte ich den Ball. Aber ich konnte ihm nicht antworten. Ich wusste nur, dass eine neue Dimension in unsere Kleinstadt Einzug gehalten hatte und dass es nie wieder so sein würde wie zuvor.

Die Pausenklingel holte mich aus meiner Erstarrung. Wie in Die Zeitmaschine wandelte ich von fremden Kräften gezogen in die Höhle der Verdammnis. Mathe bei Herrn Enge. Schon in der Sexta hatte ich eine Fünf bei ihm gehabt. Aus Goodwill, wie er gesagt hatte. Er war nämlich auch Englischlehrer. Mittlerweile hatte ich allerdings sämtlichen Goodwill aufgebraucht, musste in der ersten Reihe sitzen und versuchte, Vektorrechnung zu begreifen. Doch an diesem Tag begriff ich nichts mehr. Denn plötzlich ging die Tür auf und sie trat ein. Neben ihr der Direktor, diese Witzfigur, die auch noch Schönstelz hieß. Ehrlich.

»Das ist Marie, eure neue Mitschülerin. Bitte nehmt sie freundlich auf.« Dann legte dieser grässliche Mensch seine Hand auf Maries goldblond glänzendes Haar und sagte: »Marie, viel Erfolg hier. Mach deinen Eltern keinen Kummer und halte dich von den Jungs in der letzten Reihe fern.« Dann sah er mich in der ersten Reihe sitzen. »Und teilweise auch von denen in der ersten Reihe.« Dabei guckte er mich verächtlich an.

Ich tat, als müsste ich gähnen. Dann traf mich zum ersten Mal Maries Blick. Ihre Augen waren blau wie das Meer und der Himmel zusammen. Klar wie Kristall chinesischer Vasen der Ming-Dynastie und erschütternd wie das Beben von Pompeji, das die Stadt im Jahr 79 nach Christi für immer auslöschte.

Wir mussten so viel Stuss in der Schule lernen, dass ich gar nicht mehr klar denken konnte.

Seltsamerweise störte ich ausnahmsweise mal nicht den Unterricht und benahm mich wie jemand, der wirklich an Mathe interessiert ist. Zum ersten Mal, seit ich auf dem Gymnasium war, wollte ich ein guter Schüler sein. Und kein Querulant, Clown oder Kasper. Ich wollte nicht, dass mich Marie für einen Idioten hielt. Sie strahlte etwas Wohlerzogenes aus. Etwas Intelligentes. Sie hatte eine so souveräne Art an sich, dass ich auf gar keinen Fall weniger souverän wirken durfte. Ich wollte nicht nur der Anführer der Chaosjünger sein – so hieß meine Bande –, sondern der Anführer aller Schüler.

Auch in der nächsten Stunde, Erdkunde bei Frau Kaatz, benahm ich mich wie ein ganz normaler Junge. Ich warf keine Knete an die Tafel, gab keine Tierlaute von mir und rauchte nicht heimlich Tabak aus Kakaotüten wie sonst. Nur im Sportunterricht konnte ich mich nicht ganz zurückhalten. Aber da ich der beste Fußballer der Klasse war, fiel ich hier zum ersten Mal vor Maries Augen positiv auf.

Dann war dieser erste Schultag mit Marie vorüber. Ich holte mein Bonanzarad aus dem Fahrradkeller unter der Aula und suchte sie. Ich musste sie noch einmal sehen. Mehr über sie erfahren. Was genau ich machen würde, wenn ich sie fände, wusste ich nicht. Ich hatte die Schule schon dreimal durchkämmt, als ich sie schließlich sah. Sie stand am Ende des Parkplatzes, mindestens zweihundert Meter von mir entfernt. Mein Herz schlug bis zum Hals. Sie stieg erneut in diese Nobelkarosse und verschwand für die unendlich lange Zeit bis zum nächsten Morgen.

Ich radelte nach Hause, schlang mein Essen herunter und fuhr sofort zu meinem besten Freund Nils, der leider auf der Realschule gelandet war. Nils, die treue Seele, sprang auf sein Skateboard und gemeinsam suchten wir die ganze Stadt ab, um mehr über Marie zu erfahren. Aber niemand konnte uns Auskunft geben. Niemandem war die schwarze Staatskarosse aufgefallen.

Beim Abendessen fragte mich meine Mutter, was mit mir los sei, ich wäre so aufgeregt und fahrig. Ob es schon wieder Stress in der Schule gäbe. Stress? Nein. Nicht im klassischen Sinne.

Am nächsten Morgen kam ich zum ersten Mal zu früh zur Schule. Ich schoss mit dem Tennisball immer wieder gegen die Mauer an der Haupteinfahrt, da, wo Marie am Tag zuvor aus dem schwarzen Auto gestiegen war. Doch bis zum Gong war von der Staatskarosse nichts zu sehen. War sie etwa nur für einen Tag bei uns gewesen? Und schon wieder zurück an dem Ort, aus dem sie gekommen war, weil ihre Familie Detmold genauso scheiße fand wie ich?

Als ich in die Klasse lief, saß Marie schon auf ihrem Platz. Auf ihrem Schreibtisch lag ein Fahrradhelm. Ich war aber auch zu blöd. Natürlich hätte ich ahnen können, dass sie nicht jeden Tag von ihrem Vater in die Schule gebracht werden würde.

Wieder benahm ich mich besser als sonst. Versuchte sogar, mich am Unterricht zu beteiligen, und war plötzlich ein halbwegs gelehriger Schüler.

So verging die erste Woche, ohne dass ich mich getraut hätte, Marie anzusprechen. Die Angst, zurückgewiesen zu werden, war einfach zu groß. Von den anderen hatte ich erfahren, dass sie fünf Jahre in Griechenland gelebt hatte, wo ihr Vater Musikintendant irgendeiner Oper gewesen war. Und jetzt sollte er die Musikhochschule in Detmold leiten. Warum jemand allerdings von Griechenland nach Detmold zieht, blieb mir ein Rätsel.

Und das Auto war ein Wolga V12 aus Russland. Das hatte Nils rausgekriegt.

Irgendwann sprachen Marie und ich dann doch miteinander. Ich verbrachte in den Pausen so viel Zeit wie möglich mit ihr, ohne dass es sonderlich auffiel. Nur meine Kumpels waren ein bisschen enttäuscht, dass ich nicht mehr mit ihnen Fußball spielte. Dafür spielten wir jetzt Verstecken. Und natürlich versteckten Marie und ich uns immer im selben Versteck. Ich merkte, dass sie mich mochte. Aber ich konnte mir gar nicht vorstellen, dass sie mich auch nur annähernd so mochte wie ich sie.

Denn ich musste plötzlich feststellen, dass ich offensichtlich zum ersten Mal in meinem Leben verliebt war. Mir fiel immer sofort auf, wenn sie nicht da war. Oder ein bisschen kränklich aussah. Ich hätte auch immer sagen können, welche Kleidung sie trug, obwohl mir das bei anderen Menschen völlig egal war. Ich richtete meine gesamte Aufmerksamkeit auf Marie und hätte sie unter allen Umständen vor allem und jedem verteidigt.

Als wir wieder einmal Verstecken spielten, saßen Marie und ich unter einem Stapel Kisten in der Aula. Wir mussten uns extrem dicht aneinanderquetschen, um nicht gesehen zu werden. Plötzlich spürte ich, wie sie ihre Hand auf meine legte. Mein Herz machte Anstalten, aus meinem Körper hüpfen zu wollen. Beim nächsten Versteck legte ich meine Hand auf ihre. Von da an hielten wir Händchen, sooft es nur ging. Nach der Schule rieb ich meine Finger permanent unter meiner Nase, weil sie nach Maries Handcreme rochen.

Irgendwann verabredeten wir uns auch nach der Schule. Wir trauten uns jetzt sogar, Hand in Hand durch enge Gassen zu gehen, in denen uns niemand sehen konnte. Eines Tages nahm ich allen Mut zusammen und sagte Marie, dass ich sie lieben würde. Sie schaute mich mit ihren bestürzend tiefblauen Augen an und sagte kein Wort. In meiner Verzweiflung fragte ich: »Du mich auch?« Und sie nickte still mit dem Kopf.

Ich kam mir albern vor. Konnte ein Junge mit zwölf Jahren überhaupt richtig lieben? Ich wusste, dass ich eigentlich noch ein Kind war. Können Kinder lieben? Ja – ich konnte. Ich konnte gar nicht anders. Ich liebte Marie so sehr, dass ich im Skiurlaub über Ostern jede Nacht von ihr träumte. Auf der Piste stellte ich mir vor, dass sie plötzlich auftauchen würde. Und manchmal meinte ich sogar, sie gesehen zu haben. Obwohl sie im Urlaub in Griechenland war.

Als wir endlich wieder zu Hause waren, radelte ich sofort zu ihr. Doch sie waren noch nicht zurück. Als ich sie am nächsten Tag in der Schule wiedersah, konnte ich gar nicht glauben, dass ich mit diesem übermenschlichen Wesen Händchen gehalten hatte. Wie konnte sie einem Typen wie mir zugeneigt sein? Ob sie mich liebte? Je geliebt hatte? Noch lieben würde?

Doch in der großen Pause saßen wir wieder zusammen im Versteck. Und Marie legte ihre Hand auf meine.

Leider ließen meine schulischen Leistungen trotz Maries Gegenwart bedenklich nach. Ich stand in mehreren Fächern auf Fünf. Dafür hatte ich es in die Kreisauswahl beim Fußball geschafft. Mein Vater drohte mir, dass ich nur weiter Fußball spielen dürfte, wenn ich nicht hängenblieb. Also strengte ich mich jetzt richtig an, lernte gemeinsam mit Marie Mathe und büffelte Englisch-Vokabeln. Irgendwie schaffte ich es in beiden Fächern noch auf eine Vier. Doch dann kam der Schock. Mein Vater hatte gemeinsam mit meinen Lehrern entschieden, dass es besser wäre, mich von der Schule zu nehmen. Sonst würde ich mit Sicherheit in der nächsten Klasse sitzen bleiben.

Ich musste aufs Leopoldinum – das humanistische Gymnasium unserer Kleinstadt. Da waren auch schon mein Großvater, mein Vater und mein großer Bruder gewesen. Alles Menschen, denen ich nichts von Marie erzählen konnte.

In den Sommerferien fuhren wir nach Bornholm. Ich träumte wieder jede Nacht von Marie. Sie fehlte mir entsetzlich. Ich malte mir alles Mögliche mit ihr aus. Mittlerweile war ich schon zwölfeinhalb.

Nach meinem ersten Schultag auf dieser schrecklichen neuen Schule radelte ich sofort zu meinem alten Gymnasium und suchte Marie. Sie sei schon zu Hause, sagte mir ein alter Freund. Am nächsten Tag schwänzte ich die letzte Stunde und suchte sie erneut. Dieses Mal fand ich sie. Doch ich sah schon von Weitem, dass sich etwas verändert hatte. Maries Augen leuchteten zwar immer noch. Aber nicht mehr für mich.

Sie begrüßte mich kühl, fragte pflichtbewusst, wie es mir denn ginge, und sagte dann, dass sie sich noch auf ein Referat vorbereiten müsse.

Ich wusste nicht, was geschehen war. Am nächsten Tag nahm ich allen Mut zusammen und fuhr zu Marie nach Hause. Ihr Vater öffnete die Tür und erklärte mir, dass Marie reiten wäre. Und dass sie einen weiteren Besuch sicherlich nicht erwarten würde, wenn ich verstünde, was er meinte.

Ich verstand.

In meiner neuen Klasse gab es keine Marie. Bis zum Ende meiner Schulzeit gab es keine richtige Marie mehr. Irgendwann gab es Katrin und Netti und Janet. Aber so rein und klar wie meine Liebe zu Marie war die Liebe nie wieder.

Marie und ich liefen uns zwar später immer mal über den Weg. Aber so wie früher wurde es nie wieder.

Heute wohnt Marie in München und arbeitet für einen TV-Sender. Manchmal sehe ich sie im Fernsehen. Sie hat eigentlich nichts mehr mit »meiner« Marie von damals zu tun. Aber ab und an beschleicht mich der Gedanke, dass ich mir einfach einen Wolga V12 kaufe, Marie in München abhole und mit ihr ins Blaue fahre.

Unvergesslich!

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