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Der erste Kuss

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»Ich glaube, Antonia hat einen Freund.«

Die Stimme meiner Frau Henriette drang ein wenig undeutlich durch die Zeitung, die ich in Händen hielt. Im ersten Moment dachte ich daher, sie habe gesagt, Antonia hat sich gefreut. Erst dann wurde mir die Wucht ihres verbalen Sprengsatzes klar. Zuhören ist nicht so meine Stärke. Außerdem bin ich ein Mann. Zwei Dinge auf einmal? Kann ich nicht. Den Worten meiner Frau lauschen und denen der Zeitung folgen ist nicht zur selben Zeit möglich. Manchmal tue ich daher nur so, als hörte ich meiner Frau zu. Sie nennt das »Gespräch-Spielen«. Nun aber durfte ich nicht spielen. Gegen die Worte meiner Frau war der drohende Nuklearkrieg in Nordkorea, um den sich der Zeitungsartikel drehte, ein Kindergeburtstag. Mühsam entzog ich dem Text über Kim Jong-un daher meine Aufmerksamkeit und sah meine Frau forschend an. »Was genau meinst du?«

Sie lachte mich an. Oder aus, da war ich mir nicht sicher. »Sie hat einen Freund. Ich glaube, er heißt Elias.«

Für einen Moment wusste ich nicht, was ich darauf sagen sollte. Antonia war unsere einzige Tochter. Das mittlere unserer drei Kinder. Die anderen beiden, Karim und Lars, hatten mit amourösen Angelegenheiten nichts am Hut. Jungs steigen in der Regel ja später als Mädchen in dieses Spiel ein. Der eine war zwar älter als Antonia, aber noch eher auf Fußball fixiert, und der andere nicht einmal zehn. Da ist die wichtigste Frau im Leben eines Mannes noch die eigene Mutter. Und für Antonia gab es doch wohl nur den Vater! Oder?

»Sie ist erst zwölf«, versuchte ich einen Grund zu finden, weshalb Antonia unmöglich einen Freund haben konnte.

»Ja, deine Tochter ist zwölf«, meinte meine Frau mit dem Tonfall, mit dem Ärzte ihren Patienten zu verstehen geben, dass sie angesichts der Befunde den lang gehegten Traum einer Kreuzfahrt am besten zügig in die Tat umsetzen sollten. »Sie wird …«

Eine Erwachsene, schoss es mir durch den Kopf.

»… eine Jugendliche«, beendete meine Frau den Satz.

Eine Jugendliche? So früh? Himmel, das war ja noch schlimmer. Jugendliche sind doch diese Menschen, die nicht mehr auf ihre Eltern hören und ungeniert alles Mögliche ausprobieren.

»Ich glaube, er ist nett.«

Ich verzog das Gesicht, als hätte ich in eine Zitrone gebissen. Von der Zeitung in meiner Hand lachte mich der asiatische Schurkendespot aus.

»Und er kommt morgen vorbei«, fuhr meine Frau ungerührt fort. »Die beiden wollen ins Kino gehen.«

Ins Kino? Dieser Elias hatte offenbar keine Skrupel. Ein dunkler Raum außerhalb des sicheren Zuhauses. Ich ahnte, was er vorhatte. »Ach, und in welchen Film?«, fragte ich investigativ.

Meine Frau lachte leise. »Ich weiß nicht. Aber ich glaube, das ist den beiden auch egal.« Sie zwinkerte mir zu. »Der erste Kuss.«

»Er wird ihr das Herz brechen«, entfuhr es mir.

»Meinst du?« Henriette sah mich amüsiert an. »Oder ist es eher dein Herz, das in Gefahr ist?«

Die folgende Nacht lag ich weitestgehend wach. Ich wollte die Augen nicht schließen. Denn sobald ich das tat, sah ich meine kleine Tochter in den tätowierten Armen eines rauchenden, korpulenten asiatischen Jungen, der sie an unserem Esstisch immerfort zu küssen versuchte. Nun, irgendwann schlief ich wohl doch ein. Und erwachte am Morgen mit einem Geistesblitz. Ich bereitete das Frühstück zu und lächelte meine Frau verschwörerisch an.

Sie setzte sich zu mir und verengte argwöhnisch die Augen. »Du hast doch etwas vor.«

Ja, sie kannte mich gut. »Ich?«, gab ich unschuldig wie ein Politiker vor einem Untersuchungsausschuss zurück. »Ich will nur eine kleine Grillparty veranstalten. Wir fünf. Und natürlich auch Antonias Freund. Ich meine, die beiden gehen doch später noch ins Kino, nicht wahr? Da sollten sie sich vorher stärken. Und vielleicht noch jemand aus der Familie.«

»Wer?« Die Stimme meiner Frau wurde dunkel vor Misstrauen.

»Tante Hekmath«, sagte ich in einem Tonfall, als hätte ich gerade ein Gerichtsurteil gesprochen.

»Was? Bist du verrückt?« Dem Gesichtsausdruck meiner Frau nach hatte ich gerade den nordkoreanischen Despoten aus der Zeitung zum Barbecue gebeten. »Du weißt doch, wie sie ist.«

»Ach, wie ist sie denn?«, tat ich unwissend.

An dieser Stelle muss ich kurz innehalten und Tante Hekmath beschreiben. Sie gehört auf die ägyptische Seite meiner Familie. Ein paarmal hat sie ihre nach Deutschland ausgewanderten Brüder besucht, darunter meinen Vater, und bei ihrem letzten Besuch vor etwa zwanzig Jahren ihren Flieger verpasst. Und dann ist sie einfach geblieben. Erst ist es keiner öffentlichen Stelle aufgefallen. Und als sie dann mal zum Arzt musste und rauskam, dass sie nicht versichert war, weil sie gar keine Aufenthaltsgenehmigung, geschweige denn einen Pass besaß, hat sie persönlich für ihre Einbürgerung gesorgt. Sie war so oft im zuständigen Amt, dass der Beamte dort wohl Angst bekam, Tante Hekmath würde nie mehr gehen, wenn er ihr die Aufenthaltsgenehmigung nicht endlich aushändigte.

Sie ist … eine Naturgewalt. Es gibt in der Physik sieben Basiseinheiten, die grundlegend für alles sind, darunter Kilogramm und Meter. Und es gibt die achte Einheit. Ein Hekmath. Es beschreibt die größtmögliche Menge an arabischem Chaos, die man sich vorstellen kann. Die Dame ist bald achtzig, hat jede orientalische Lebensweisheit in sich aufgesogen und Geschichten auf Lager, gegen die Baron Münchhausen wie ein seriöser Tagesschausprecher aus den Siebzigerjahren wirkt.

»Elias wird nie wiederkommen, wenn deine Tante erst mal loslegt«, sagte meine Frau anklagend.

»Das könnte sein«, erwiderte ich lächelnd. »Das könnte sein.«

Als es später klingelte, übernahm ich es selbst, die Tür zu öffnen. Antonia stand davor. Und hielt mit einem Jungen Händchen, der … Himmel, er sah wirklich nett aus. Und die beiden waren süß zusammen. Wie Marzipanfiguren. Ja, warnte ich mich vor den möglichen Folgen solcher Süßigkeiten. Löcher in den Zähnen. Übergewicht. Diabetes. Und Töchter, die ihrem Vater abhandenkommen.

»Tretet ein, ihr beiden«, rief ich übertrieben überschwänglich. »Herzlich willkommen, Elias. In meinem Haus und in meiner Familie.«

Antonia sah mich irritiert an.

»Wir grillen«, fuhr ich fort und ehe sie es verhindern konnte, hatte ich Elias in den Flur gezogen. »Ganz kleiner Kreis. Die engste Familie. Wir und du und eine Tante von mir. Sie heißt Hekmath.«

Antonias Blick sagte: Dafür kommst du mal in ein wirklich fieses Altersheim, Papi.

Ich schob das junge Glück auf die Terrasse. Karim chillte mit seinem Handy und Lars hüpfte auf dem Trampolin. Antonia und ihr Freund hielten noch immer schamlos Händchen. Aber nicht mehr lange! Der Grill war bereits befeuert und ich wartete nur noch auf den Hauptgast des Infernos, in das ich Elias schubsen wollte. Es klingelte wieder. Ich lächelte.

Tante Hekmath enttäuschte mich nicht. So herzensgut sie auch war, ihre schwarzen Gewänder und der dunkle Schleier, die dicke Warze auf der langen Nase und das Lachen, das immense Zahnlücken offenbarte, gaben ihr immer das Aussehen einer gut gelaunten Hexe mit einer gewaltigen Hornbrille. Natürlich kam sie nicht, ohne etwas zum Grillen mitzubringen. In der Tasche, die sie auf ihren Hackenporsche geschnallt hatte, befand sich ein Topf, aus dem ich zwei offenbar äußerst unglücklich gestorbene Fische zog.

Freudestrahlend stellte ich Elias das schillerndste Mitglied unserer Familie vor.

»Wir müssen dann«, versuchte Antonia alle zu erwartenden Peinlichkeiten zu umgehen. Ein armseliger Versuch.

Ich klopfte dem Töchterdieb jovial auf die Schulter und deutete auf die Fischreste. »Heute isst du mal richtig ägyptisch«, log ich. Das Grillen würde er nicht vergessen. Ehrlich gesagt, sind die Kochkünste meiner Tante nicht wirklich landestypisch. Tante Hekmath kocht auf sehr individuelle Weise. Und zwar sehr, sehr scheußlich.

»Du hast Gewicht verloren«, begrüßte Tante Hekmath meine Frau. Henriette lächelte nur müde. Die direkte Art meiner Tante machte ihr schon länger nichts mehr aus. »Und du musst mehr essen«, fuhr sie nun an Antonia gerichtet fort. »Sonst kriegst du nie einen Mann ab. Die Kerle wollen keine dürren Frauen.«

Ich sah, wie Antonia mit den Augen rollte. Wunderbar.

»Und das ist Elias, Antonias Freund«, stellte ich den Hauptangeklagten vor. Tante Hekmath musterte ihn wie einen Außerirdischen, ließ sich dann geräuschvoll auf einem unserer Gartenstühle nieder und begann damit, uns darüber ins Bild zu setzen, was in den vergangenen Wochen so alles bei ihr geschehen war. Bis auf den leichten Akzent, den sie behalten hatte, hörte man ihr die arabische Herkunft kaum noch an. Sie ließ sich darüber aus, dass sich ihr Nachbar beim Vermieter über sie beschwert hatte, bloß weil sie sich angeboten hatte, ein Huhn zu opfern, um mit dessen Blut sein neues Auto vor allem Unglück zu schützen. Dann ging sie nahtlos zu dem Busfahrer über, der sie fast aus seinem Gefährt geworfen hatte, nur weil sie ihn dazu hatte bringen wollen, einen kleinen Umweg zu fahren und am Haus eines meiner Onkel zu halten, damit sie nicht so weit laufen musste. Es machte Spaß, ihr zuzuhören. Und zu sehen, wie sich auf Elias’ Gesicht langsam ein Stirnrunzeln zeigte. Zeit, das Gespräch in die richtige Richtung zu lenken.

»Elias und Antonia gehen heute ins Kino«, plauderte ich, während ich statt meiner Würstchen die Fische zweifelhafter Herkunft auf den Grill legte. Es duftete … interessant. Ehrlich gesagt, das Aroma, das den toten Meeresbewohnern entstieg, ließ meine Augen tränen. Ich sah Antonia zusammenzucken. Oh, sie tat mir schon leid. Aber mit zwölf war sie doch viel zu jung fürs Knutschen. Sie würde mir sicher einmal dankbar dafür sein.

»Ins Kino?« Tante Hekmath sah die beiden an, als würde sie sie erst jetzt richtig wahrnehmen.

Ich konnte die Lunte förmlich brennen sehen.

Einmal war ich Zeuge gewesen, wie Tante Hekmath die zukünftige Braut ihres ältesten Neffen regelrecht gegrillt hatte. Die verzweifelte Mutter des Mittvierzigers hatte es endlich geschafft, eine potenzielle Ehefrau zu finden. Oft übernimmt die Bräutigamsmutter in Ägypten diese Aufgabe. Mit der Wahl war Tante Hekmath als inoffizielles Familienoberhaupt aber nicht einverstanden gewesen und hatte daher jede peinliche Geschichte über meinen bedauernswerten Cousin ausgepackt, an die sie sich erinnern konnte. Am Ende wäre die Verlobte beinahe wieder abgesprungen. Nur das Versprechen, dass die Tante schon bald wieder nach Deutschland fliegen würde, hatte die Braut dazu gebracht, schließlich doch noch die Ehe mit meinem Cousin einzugehen.

»Na, zu meiner Zeit wäre das unmöglich gewesen.«

Ich inhalierte den Qualm der beiden Fischkadaver. Er roch nach weiteren Jahren, in denen ich die Nummer eins bei Antonia sein würde.

»Ihr habt es so gut. Ich wünsche euch viel Spaß.«

Was? Was hatte sie gerade gesagt? Mir fiel einer der stinkenden Fische in die Glut.

»Pass doch auf«, fuhr mich meine Tante an. »Du warst schon immer so ungeschickt. Ich weiß noch, wie dir einmal ein Lutscher in meine Toilette gefallen ist, als deine Eltern und du mich besucht habt. Wie alt warst du da? Zwölf? Du hast ihn wieder herausgeholt und weitergelutscht.«

Was sollte denn diese peinliche Geschichte? Mit Schaudern erinnerte ich mich an die ägyptische Toilette meiner Tante. Ich war damals übrigens erst knapp vier Jahre alt gewesen. Von wegen zwölf. Himmel, ich stand da wie ein Idiot!

»Ist dein Freund auch stark genug, um dich zu beschützen?«, fragte Tante Hekmath meine Tochter mit einem Augenzwinkern. »Dein Vater hat sich ja immer vor der Tochter der Freundin der Frau des Bruders unseres Bäckers gefürchtet. Nie wollte er allein Brot kaufen gehen, wenn er bei uns war.«

Offenbar schoss sie sich gerade auf mich ein. Aber ich war doch das falsche Ziel!

»Sie hat ihn wohl einmal verprügelt. Ich glaube, sie wollte nur seine Aufmerksamkeit.«

Antonia und Henriette lachten. Was war denn hier los? Man machte sich gemeinsam über den Haushaltsvorstand lustig. Und trampelte auf seinen Gefühlen herum. Das besagte Mädchen hatte in der Backstube ausgeholfen und dickere Arme besessen als Popeye nach zwei Dutzend Dosen Spinat. Sogar Supermann hätte Angst vor ihr gehabt. Irritiert nahm ich zur Kenntnis, dass nicht Elias, sondern ich hier gegrillt wurde. Und Tante Hekmath lief sich gerade erst warm. Hatte sie den orientalischen Braten etwa gerochen und sich stillschweigend mit dem Feind verbündet? Scheinbar ja.

»Und er kann ja kein Arabisch lesen. Da hat er doch glatt gedacht, in der Dose mit dem Hundefutter sei …«

»Oh, ist das schon spät«, fiel ich ihr ins Wort und ließ absichtlich auch den zweiten vergammelten Fisch ins Feuer fallen. Nicht die Hundefuttergeschichte. Sie war wirklich zu peinlich! »Die beiden müssen los. Kommt, ich fahre euch.«

Antonia protestierte zwar, denn die Hundefuttergeschichte kannte sie noch nicht, aber ich zog die zwei Turteltauben kompromisslos mit mir. Ich fuhr sie persönlich zum Kino und überraschenderweise störte mich das Händchenhalten mittlerweile gar nicht mehr. Das bisschen erste Liebe war mir lieber als die peinlichen Geschichten meiner ägyptischen Tante. Am Kino angekommen, steckte ich meiner Tochter noch Geld für Popcorn und Getränke zu. »Habt einen schönen Nachmittag«, rief ich den beiden Frischverknallten zu. »Und kommt nicht zu früh wieder.« Sonst würden sie am Ende noch einmal auf meine Tante treffen. Und das wollte ich nun doch vermeiden. Was war schon Antonias erster Kuss gegen die verdammte Hundefuttergeschichte?

Unvergesslich!

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