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Wolfgangs Zettel

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Conny saß während der Lateinstunden in der Schulbank direkt vor mir. Und das, nachdem ich zwei Jahre in einer reinen Jungenklasse hinter mir hatte. Ich war gerade dabei zu pubertieren. Sie saß einfach so da, mit ihrem Achtziger-Haarschnitt, der brünette Locken auf ihre Schultern fallen ließ. Claudius in Colosseo est. Der Lateinunterricht, zu dem wir mit der 7c zusammengesteckt worden waren, ließ mich zufällig direkt hinter zweien von fünf Mädchen sitzen. Weiter vorn gab es noch drei weitere, aber die fielen eher in die Kategorie guter Kumpel. Und die neben Conny war wohl mehr eine Art Begleitschutz, denn sie wich nicht von ihrer Seite, so wie das bei den hübschesten Mädchen in einer Klasse immer zu sein scheint. Sed ubi est Cornelia.

Zusammen mit meinem besten Schulfreund Wolfgang versuchte ich, mich auf Latein zu konzentrieren, doch ich war abgelenkt, denn ihr entzückendes Gesicht mit der vielleicht ein wenig zu großen, aber klassischen Nase und dem – wie ich mit meinen Dreizehn meinte – schönen Kussmund, den ich nur ab und an von der Seite sehen konnte, wenn sie zu ihrer Begleiterin hinüberflüsterte, zogen mich ungemein in ihren Bann. Ibi est, Claudius salutat.

Anfangs noch scheu, legte ich es in den folgenden Lateinstunden eigentlich nur darauf an, einen Blick auf sie zu werfen. Mich schien sie allerdings gar nicht wahrzunehmen. Natürlich ließ ich mir die Enttäuschung darüber nicht anmerken, das macht ein Junge in der siebten Klasse nicht. Nach dem Unterricht hatte ich auch immer noch etwas mit Wolfgang zu bereden und ich konnte mich souverän von ihr wegdrehen. Leider. So kam ich über ein kurzes Nicken zu ihr nicht hinaus. Es hätte mir schon genügt, wenn sie mir wenigstens ein beiläufiges »Salve« entgegengebracht hätte, aber auch das war nicht zu bekommen. Es gab da diesen unsichtbaren Graben, der gleich an unserer Jungenbank anfing und bis hinüber zur Mädchenbank reichte. Da schien es kein Durchkommen zu geben. Zumindest wusste ich damals nicht, wie das hätte gehen sollen.

Wolfgang allerdings schon. An diesem Frühlingstag, in einer Pause vor der vierten Stunde, nahm er mich zur Seite und meinte, er brauche meine Hilfe. Natürlich unterstützt man seinen besten Freund, keine Frage. Ich nickte und schaute ihn neugierig an, konnte dann aber nicht fassen, was er mir da freudestrahlend, aber mit einem geheimnisvollen Raunen in die Hand drückte. Er bat mich, und das traf mich bis ins Herz, Conny nach der nächsten Stunde diesen Zettel zu übergeben. Ich brauchte auch damals nicht viel Fantasie, um mir vorzustellen, was wohl darauf stehen würde. Da stand sicher so etwas wie »Liebe« und »mit mir gehen« zu lesen. In Wolfgangs krakeliger Tintenschrift, mit den wie üblich viel zu großen ls und Gs. Mir war so unwohl zumute, dass ausgerechnet ich den Liebesboten spielen und Conny den Kassiber zustecken sollte. Mein Herz prügelte innerlich wild auf mich ein. Dass Wolfgang diesen Gefallen tatsächlich von mir erwartete! Wo er doch gemerkt haben musste, wie ich sie lateinstundenlang anstarrte. Aber fairerweise musste ich zugeben: Wer denn, wenn nicht ich? Schließlich saß ich Conny näher als er. Und ich war schließlich sein Freund. Ich nickte resigniert. Die Stunde über rutschte ich unkonzentriert auf meinem Holzstuhl hin und her und legte mir im Kopf schnell ein oder zwei Sätze zurecht, mittels derer ich ihr locker klarmachen konnte, dass das, was da in ihrer Hand landete, nichts mit mir zu tun hatte.

Und dass sie eigentlich auch noch etwas von mir erwarten konnte. Dreißigmal, mindestens, ging ich die beiden Sätze durch, während weiter vorn die Lehrkraft Futur 1 mit bo, bi, bi, bi, bi, bu konjugierte. Ich würde sie nach der Stunde vorsichtig antippen, sie anlächeln, bedächtig meinen Spruch sagen und den Zettel dann eher beiläufig übergeben. So hatte ich mir das überlegt, da konnte nichts schiefgehen. Die Schulglocke schepperte, Wolfgang verschwand ungeheuer schnell aus dem Klassenzimmer, ich tippte Conny an der linken Schulter von hinten an, sie drehte sich überrascht zu mir um und im Aufstehen federte ich ihr das Papierknäuel mit dem Hinweis »Nicht hier lesen« auf den Tisch.

Conny sprang auf, nahm es mit spitzen Fingern hoch, warf es mir mit einem »Spinn dich aus, Taglinger« zurück und ließ mich stehen. Ja, sie nannte mich nicht einmal bei meinem Vornamen. Die Bänke um mich herum gerieten zu einsamen Eisbergen und ich stand einfach nur da, bis ich allein im Zimmer vor mich hintrieb.

»Na, wie lief es?«, wollte Wolfgang auf dem Gang von mir wissen. Er hatte gewartet.

»Gut«, log ich, gab ihm seine zusammengeknäulte Anfrage ohne weiteren Kommentar zurück und marschierte zum Durchatmen erst einmal auf das Bubenklo. So viel war nun klar: Für Conny war ich in Zukunft indiskutabel. Jetzt würde sie für alle Zeiten glauben, ich wäre imstande, solche dämlichen Zettel zu schreiben. Aber es bot sich mir in den Tagen und Wochen darauf keine Gelegenheit, ihr zu erklären, was es mit meinem Botendienst auf sich hatte. Sie beachtete mich schlicht nicht und der Unterricht ging seines Weges.

Wolfgang blieb wegen seiner schlechten Leistungen in Latein sitzen, verschwand auf die Realschule und ließ mich allein zurück. Im folgenden Schuljahr geriet ich wieder in eine reine Jungenklasse. Ohne Conny.

Das konnte also eine öde achte Klasse werden. Meine Schulwoche war jetzt nicht mehr auf die vier Stunden Latein konzentriert, in denen ich hinter ihr saß, ihre Locken auf den Schultern beobachtete und hoffte, einen Blick auf ihr Gesicht erhaschen zu können. Ab und an sah ich sie in einem der Schulgänge vorbeiflitzen, aber wenn sie mir tatsächlich mal auf ihrem Weg von einem Klassenzimmer in ein anderes entgegenkam, bog ich schnell ab und traute mich nicht, einfach an ihr vorbeizugehen. Danach ärgerte ich mich umso mehr über mich selbst. Schließlich war sie ja kein Monster. Im Gegenteil, es schien mir, als würde sie, zumindest aus der Ferne gesehen, von Tag zu Tag schöner. Ich seufzte, denn eigentlich ging es mir doch nur darum, wie zufällig aussehende Gelegenheiten zu schaffen, die ich dann aber doch wieder verstreichen ließ.

Und das änderte sich auch im neuen Schuljahr nicht, denn ich suchte nur deshalb die Nähe zu ihrem Stammplatz in der großen Pause, um ihr dann meinen Rücken zuzuwenden. In der absurden Hoffnung, ich würde ihr vielleicht trotzdem positiv auffallen. Dabei war mir so elend, wenn ich sie nicht anschauen konnte, stattdessen aber mit Freunden über dies oder das flachste und dabei immer eine möglichst gute Figur an den Heizkörpern und Handläufen des Fensterplatzes zu machen versuchte. Wie schön es dann war, wenigstens einmal kurz ihren Anblick zu erhaschen. Ich zehrte von diesen wenigen Sekunden.

Ein paarmal hatte ich im Winter der Achten sogar das unglaubliche Glück, so gut wie neben ihr zu stehen, Rücken an Rücken, und sie dabei fast schon spüren zu können. Solch ein unfassbarer Moment konnte für die ganze Schulwoche und über die Wochenenden und Ferien hinaus wie ein Notfallpäckchen reichen. Aber selbst wenn ich immer wieder hoffte, dass sie vielleicht einmal mit einem »Hallo, Harald, Mensch, Latein war im letzten Schuljahr doch zusammen mit dir der Hammer« auf mich zukommen würde, lag ich damit natürlich absolut falsch und tagträumte nur. Ich schien Luft für sie zu sein.

Ganz im Gegensatz zu ihm. Da war dieser Blondling mit den nach hinten frisierten Haaren aus der Parallelklasse, der in der Pause einfach so zu ihr hinging und »Hallo« sagte, dabei dieses Mundwinkel ziehende Lächeln aufsetzte. Ich konnte es in der Pause über den Rücken hinweg hören und mir den Rest vorstellen. Aber ich sah ihre Reaktion nicht. Zumindest hörte ich kein »Spinn dich aus, Müller«, also hatte er vermutlich mehr Glück als ich. Und ich wartete nur noch darauf, dass ich die beiden Hand in Hand über den Schulhof laufen sehen musste. Das stellte ich mir als den schlimmsten Tag meines Lebens vor.

So weit konnte es in meiner Abwesenheit sogar gekommen sein, denn er schien sich immer irgendwie in ihrer Nähe aufzuhalten, dabei keine Miene zu verziehen und seine Hand auffallend nahe an der ihren locker hängen zu lassen. Sie stellte sich stets wortlos neben ihn, beachtete ihn nicht, lächelte aber, soweit ich das aus den Augenwinkeln heraus sehen konnte. Vielleicht waren sie auch nur so etwas wie Freunde. Ich fand es nicht heraus.

Ich erinnere mich an eine große Pause, im Frühsommer der achten Klasse, als wir im hellen, warmen Licht eines Morgens draußen auf der Wiese waren. Wir hatten unsere üblichen Standorte in den Erdgeschossgängen verlassen und streunten über das Grün vor dem Schulhaus. Das hieß, meine Freunde taten das und hatten sogar einen Fußball für den offenen Sportplatz daneben mitgebracht. Ich hatte mich aber abgesetzt, sie zuerst unruhig gesucht und sie dann auf der Wiese mit ihrer Gruppe von Freundinnen und ebendiesem Müller sitzen gesehen. Also näherte ich mich unauffällig, blieb unter einem Baum, keine zehn Meter von ihr entfernt, sitzen, nahm einen Grashalm in die Hand und versuchte, geschäftig zu wirken, dabei in die Ferne zu schauen, um mich irgendwie interessant zu machen. Immer wieder geriet mein Blick dann wie zufällig zu ihr hinüber und sog dieses Bild von ihr ein. Wie sie da saß in ihren passgenauen Jeans und mit einem ganz weißen Hemd, in dem sich die Vormittagssonne geradezu spiegelte. Sie sagte etwas, dann lachte sie schallend auf und warf dabei ihren Kopf zurück. Ihr Gesicht sah so strahlend glücklich aus, dass mir ganz warm dabei wurde. Viel Erfahrung hatte ich damit nicht, aber ich hätte sie vermutlich genau in diesem Moment am liebsten küssen mögen, wie sie da unendlich viele Armlängen von mir entfernt mit allen lachte. Stattdessen schaute ich nur verstohlen hinüber, allein und ohne etwas, das mich in der Pause ablenken konnte. Aber ich war trotz alledem auch glücklich. Mir war wirklich so, als hätte ich einen frischen Minzgeschmack in die Nase herübergeweht bekommen, als würden auf ihrer Seite mehr Blumen blühen, als zögen nur über mir die ersten Regenwolken des Tages auf. Die Pause hätte noch bis in den Winter hinein dauern können und ich wäre selbst beim größten Regensturz nicht aufgestanden. Aber eigentlich wäre ich am liebsten davongerannt. So weit war das alles von mir entfernt. Ein Jammer, ein Drama und eines, das ich ganz tief in mir behielt, es lieber nicht meinen Freunden erzählte, die mich deshalb nur aufgezogen hätten. Vermutlich wäre es in ihren Augen auch lustig gewesen, das alles Conny zu erzählen, und ich hätte mir nur ein zweites »Spinn dich aus, Taglinger« abholen können. Also blieb ich allein mit mir.

Nach den großen Ferien in der neunten Klasse schien sich alles zu wandeln und mir blieb vor Glück und gleichzeitig Entsetzen fast die Luft weg, als ich in das neue Klassenzimmer kam. Hinter der Bank links vorn, die sich mein Freund Lutz für uns ausgesucht hatte, nahmen zuerst die Begleitfrau von damals und dann tatsächlich auch Conny ihre Plätze ein. Sie saß einfach so mit einem Mal hinter mir. Und zwar die ganze Zeit, nur durch den Sportunterricht und die Pausen unterbrochen. Ich war fassungslos. Und irritiert, denn nun hatte ich das Gefühl, ihre Augen ab und zu auf meinem Rücken zu spüren. Das konnte ich mir natürlich nur einbilden, das war mir klar. Aber es war theoretisch möglich und als ich nach ein paar Schulstunden unter dem Vorwand, irgendwelche Bücher zu benötigen, wie zufällig eine Drehung hinunter zu meinem Schulranzen machen und meinen Blick dabei nach hinten wenden konnte, schien sie tatsächlich genau gleichzeitig ihre Augen schnell zu senken und weiterzuschreiben. Aber das musste alles reine Einbildung sein. So lange schon hatte ich mich auf sie gefreut und mir vorgestellt, wie wir miteinander zu sprechen und uns zu gefallen begannen, dass das jetzt nicht einfach passieren konnte.

Lutz war da unverkrampfter und begann schon am zweiten Tag, mit den beiden Mädchen hinter uns zu plaudern, zog auch meinen Kopf nach hinten und verwickelte uns vier so in ein zwangloses Gespräch. Aus der Nähe und im Gespräch betrachtet war Connys Nase etwas breiter, als ich sie in Erinnerung hatte, und als die ersten Förmlichkeiten ausgetauscht waren und sie plötzlich wild losplapperte, kam mir mit einem Mal auch ihre Stimme leicht kratzend und unangenehm in den Obertönen vor. Auch ihr Lachen hatte irgendwie etwas Meckerndes. Nicht unsympathisch, aber nicht so frisch wie ein Sommervormittag, schien es mir zumindest jetzt.

Unsere morgendlichen Begrüßungen wurden alltäglicher, manchmal lieh sie sich von mir einen Radiergummi, nannte mich weiterhin »Taglinger« und lachte meckernd über die Witze, die Lutz immer zum Stundenwechsel von sich gab. Eigentlich konnte man sich mit ihrer Freundin besser unterhalten, sie schien mir auch freundlicher, während Conny oft nur vor sich hinschaute oder etwas zu viel kicherte. Das kam mir zunehmend blöd vor, ich gestand es mir nur nicht sofort ein.

Während des darauffolgenden Skiwandertages war ich ihr schließlich von oben kommend und die Eisplatten der Pisten falsch einschätzend voll über die Skier gefahren, hatte dafür ein »Taglinger, spinnst du?« kassiert, das mir aber mittlerweile gar nichts mehr ausmachte.

Denn sie so fast zu überfahren, war schon ein deutliches »Tschüss« von mir. Ich sagte es ihr nur nicht und am Ende der Neunten verließ sie die Schule auf Nimmerwiedersehen.

Unvergesslich!

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