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»Grunz?«

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»Hallo, Süße. Grunz? Dein Schweinchen.«

So stand es Rot auf Grau auf dem karierten Fresszettel, der eingespeichelt, zusammengedrückt und dann via Blasrohr in mein Haar gespuckt worden war.

Was bedeutete das denn? Wieder und wieder las ich die Worte. »Hallo, Süße. Grunz? Dein Schweinchen.« Daneben war ein Totenkopf gekritzelt. Und auf der Rückseite des Zettels war der Teil einer Matheaufgabe zu lesen.

Ratlos und verblüfft drehte ich das Stück Papier hin und her.

War »Grunz« eine Frage? Und wenn ja, was sollte ich darauf antworten? Ich war mit der Situation völlig überfordert.

Mit zitternden Fingern und klopfendem Herzen hatte ich den Fresszettel vor einer halben Stunde aus meinen Haaren herausgefischt und unter der Bank versteckt. Dort hatte ich ihn so fest gehalten, dass ich mir mit den Fingernägeln blutige Halbmonde in die Handinnenfläche gedrückt hatte. Erst in der Pause hatte ich es gewagt, das Papier noch einmal auseinanderzufalten. Vor Aufregung hatte ich nicht gewagt, zu Micha zu schauen. Zu Micha. Dem witzigsten, großartigen, am besten riechenden Jungen in der Klasse. Micha, dem ich jeden Abend ein zartes Küsschen aufs Klassenfoto hauchte. Micha, der mir in der fünften Klasse zu meinem Geburtstag einen Kaktus geschenkt hatte. Micha, der lachte wie Ernie aus der Sesamstraße.

Seit zwei Jahren wartete ich darauf, dass er mir ein Zeichen gab. Liebte er mich genauso wie ich ihn? Fuhr sein Magen auch Fahrstuhl, wenn ich morgens in die Klasse kam? Überlegte er auch nachts im Bett, welche Klamotten mir am besten gefallen würden?

»Hallo, Süße. Grunz? Dein Schweinchen.«

Diesen Zettel hatte ich zwei Jahre lang herbeigesehnt. Hatte mit meinen Freundinnen endlos darüber diskutiert, wie Micha mich wohl fand. War das jetzt die Antwort? Immerhin schrieb er »Dein« Schweinchen. Das war doch süß. Oder? Oder? Es musste süß sein. Denn schließlich war das mein erster Liebesbrief. Immerhin gingen Micha und ich erst in die siebte Klasse. Da war »Grunz« eine emotionale Äußerung von geradezu überwältigender Intensität.

Als es zur nächsten Stunde klingelte, quälte ich mir ein schiefes Lächeln in den rechten Mundwinkel und reckte das Kinn Richtung Micha. Der rutschte begeistert auf seinem Stuhl hin und her, winkte albern und kicherte. Das Lächeln rutschte mir aus dem Gesicht. Ich stieß meine Freundin Claudi an und flüsterte: »Sag mal, wie findest du denn den Micha?«

»Doof«, kam postwendend zurück.

»Was haben die Damen denn da zu flüstern?«, fragte plötzlich eine böse Fistelstimme von der Tafel her.

»Nichts!«, rief ich entsetzt und schluckte. Ausgerechnet in dieser Stunde hatten wir Englisch bei der Spinne Thekla. So nannten wir die fieseste Lehrerin der Schule, die mit ihren aufgepumpten Beinen kaum laufen konnte. An ihnen wuchsen lange, schwarzen Borsten, die von wurstpelligen transparenten Seidenstrümpfen jeden Tag in eine neue Wellenform gepresst wurden.

»Was hast du denn da in der Hand?«, wollte Thekla nun wissen.

»Nichts!«, antwortete ich erneut und warf einen kurzen Blick zu Micha. Der rutschte nach wie vor aufgeregt auf seinem Stuhl herum und kicherte.

»Was gibt’s denn da zu gackern?«, fragte die Spinne nun ihn. Meinen romantischen Briefeschreiber. Grunz?

»Nichts!«, antwortete er. Genau wie ich. Die ersten in der Klasse begannen zu tuscheln und zu grinsen.

»Kommt mal nach vorn, ihr beiden. Los! Sofort!«, befahl Thekla da zu meinem Entsetzen. Mir und Micha. Mir schoss so viel Blut in den Kopf, dass ein winziges Schnipsen gereicht hätte, um ihn mit einer gewaltigen Blutfontäne explodieren zu lassen. Jedenfalls fühlte es sich so an.

»Wird’s bald?« Die Spinne starrte mich böse an. So fühlte sich wohl Willi, wenn er sich mal wieder in Theklas Netz verheddert hatte und befürchtete, gleich gefressen zu werden.

Zögernd erhob ich mich von meinem Stuhl und schaute hinüber zu Micha. Sein Kopf war ebenfalls knallrot. Wir leuchteten wie die Ketchup-Experten um die Wette. War das peinlich!

»Herkommen!«

Ich schluckte, dann lief ich zögernd zur Spinne.

»Und jetzt: Her mit dem Zettel!«, befahl sie. Ich starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an. Was passierte, wenn ich gehorchte? Dann würde sie den Liebesbrief vorlesen. Meinen ersten. Bedeutendsten. Alles verändernden. Dann wussten alle in der Klasse, wie es um mich stand.

Grunz?

Das durfte nicht sein. Mein Liebesbrief war geheim. Auch wenn es keine Weltliteratur war. Diese Liebe ging eine fiese Riesenspinne nicht das Geringste an. Also tat ich das Einzige, was mir einfiel: Ich steckte mir den Zettel in den Mund, kaute kurz auf dem Papier herum und würgte es dann hinunter.

Die Spinne starrte mich ebenso verblüfft an wie Micha. Nun verfärbte sich auch ihr Kopf rot. Allerdings nicht vor Scham, sondern vor Zorn.

»Setzen. Kein Wort mehr. Du bleibst nach der Schule da«, befahl sie mir fauchend. Micha wedelte sie mit der rechten Hand wie ein lästiges Insekt weg.

»So eine Kacke«, murmelte Claudi neben mir.

Ich nickte nur stumm. »Grunz« bedeutete vor allem eins: Ärger.

Mir stiegen die Tränen in die Augen. Irgendwie hatte ich mir das mit meinem ersten Liebesbrief anders vorgestellt. Romantischer. Leidenschaftlicher. Und privater. Denn inzwischen tuschelte und gackerte die komplette Klasse. Alle deuteten auf mich und Micha und verdrehten höhnisch die Augen. Na toll.

Nach der Stunde bekam ich noch eine Chance: Ich sollte der Spinne Thekla mitteilen, was auf dem Zettel gestanden hatte, und mich entschuldigen. Ich verweigerte beides. Dafür bekam ich eine Strafarbeit: sechs Seiten auf Englisch zum Thema »Warum ich im Unterricht kein Papier essen soll«. Außerdem musste ich nach der sechsten Stunde nachsitzen. Geschenkt.

Froh, dass ich halbwegs glimpflich aus der Sache herausgekommen war, sprang ich nach Schulschluss die beiden Stockwerke hoch zum Lehrerzimmer. Auf halbem Weg stand er. Und wartete auf mich. Micha. Mein Schweinchen.

»Hi«, sagte er.

»Hi«, sagte ich.

Es lag so viel Elektrizität in der Luft, dass meine Haare zu Berge standen. Das sah sicher doof aus. Unsere Köpfe verfärbten sich simultan und spiegelten die komplette Farbpalette von Perlrosa über Himbeer bis Signalrot wider.

»Gehen wir nachher ins Kino?«, würgte er schließlich mühsam hervor.

»Ja.« Ich konnte mein Flüstern selbst kaum hören.

»Gut. Wir treffen uns um sechs Uhr vorm Metropol. Ciao.«

»Ciao.« Ich sah ihm nach, wie er pfeifend die Treppen hinunterhüpfte. Nein, rannte! Gott, war mir schwindelig. Mein erster Kinobesuch mit einem Jungen! Mein Herz klopfte mir bis zum Hals. Jetzt war alles klar. »Grunz« bedeutete mit 13: »Du bist das heißeste Mädchen der Klasse. Ich kann keinen Tag mehr ohne dich leben. Willst du mit mir ins Kino gehen?«

Aufgekratzt lief ich zum Lehrerzimmer und öffnete mit so viel Schwung die Tür, dass ich mit ihr regelrecht in den Raum flog. Leider stand ein Tageslichtprojektor mitten im Weg, gegen den ich knallte und mit dem ich mit einem lauten Scheppern zu Boden ging. Während ich meine Knochen sortierte und nachspürte, ob ich noch alle Zähne hatte, fragte mich eine nette Stimme: »Alles in Ordnung? Kannst du aufstehen?« Ich schaute in das besorgte Gesicht meiner Geschichtslehrerin. Der einzig Jungen und Netten in einem ansonsten hoffnungslos veralteten und bösartigen Lehrkörper.

»Ja«, behauptete ich deshalb tapfer und schälte mich aus dem Projektor. Mein rechtes Knie blutete, etwas Nasses floss über mein Gesicht und meine linke Hand hing irgendwie seltsam an meinem Arm.

»Du Arme. Setz dich erst mal hin. Die Wunde an deinem Kopf möchte ich mir in Ruhe anschauen. Vielleicht muss das genäht werden.« Die Lehrerin zog mich zunächst hoch und drückte mich dann auf einen Stuhl.

»Die will sich doch nur vorm Nachsitzen drücken«, meckerte da die Spinne Thekla aus ihrem Spinnennetz in der rechten, hinteren Ecke des Zimmers.

»Wenn ja, dann hat sie Erfolg damit. Hier sitzt heute keiner nach«, erklärte meine Geschichtslehrerin gelassen. Sie klebte mir ein Pflaster auf die Wunde am Kopf, gab mir eine Kompresse für meine Hand und schenkte mir eine Flasche Cola.

»Grunz« hieß also auch: Liebe tut weh, ist verboten und klebt ganz wunderbar. Während meine Retterin sich noch mit der Spinne über fragwürdige pädagogische Konzepte stritt, machte ich, dass ich vom Acker kam.

Vor mir lag ein langer Nachmittag mit Bravo-Schminktipps, Pullovern mit Schulterpolstern und riesigen Ohrringen. Um Punkt 18 Uhr stand ich aufgehübscht vorm Metropol.

»Hi«, sagte Micha, der dasselbe zerfledderte T-Shirt anhatte wie heute Morgen.

»Hi«, sagte ich. Mein Blick fiel auf den Stapel mit Zeitschriften, die er unter den Arm geklemmt hatte. Was sollte das denn? Machte man das so, wenn man sich zum ersten Mal verabredete? Wollte er mir die Zeitschriften etwa schenken? Ich reckte den Hals. auto motor und sport. Aha. Etwas irritiert schaute ich ihn an. Doch er dirigierte mich bereits zur Kinokasse, wo er zwei Karten für Solo für 2 kaufte. Einen Film, in dem ein durchgedrehter Guru ein Bidet mit einem Telefon verwechselte. So ganz kapierte ich weder den Sinn des Films, noch den Sinn unserer Verabredung. Denn obwohl wir in der letzten Reihe saßen, las Micha die ganze Zeit. Eineinhalb Stunden Film plus eine halbe Stunde Werbung lang. Er saß neben mir und las auto motor und sport. Wie er das im dunklen Kino nur schaffte?

»Grunz« bedeutete wohl doch nur: »Sei mein Kumpel.« Meine Enttäuschung galoppierte. Der Film war zu Ende. Mein Verständnis auch. Für ihn hatte ich mir den Kopf blutig geschlagen. Für ihn hatte ich Papier gegessen. Für ihn hatte ich der Spinne Thekla die Stirn geboten. Und was tat er für mich? Er begleitete mich stumm zur Straßenbahn.

»Da steht eine Bank«, stellte er schließlich fest und deutete auf eine klapprige Sitzgelegenheit, die neben einem übel stinkenden Tümpel stand.

»Ja.« Und?

»Wollen wir uns setzen?«

»Ja.« Ah!

Einen Moment lang erwartete ich, dass er seine Zeitschriften wieder aufschlug. Stattdessen legte er sie unter der Bank ab. Dann wandte er sich mir zu. Ich wandte mich ihm zu.

Er packte mich an den Schultern, zog mich an sich, riss den Mund auf und schob mir seine Zunge bis zum Zäpfchen. In dem Moment stolperte ein Betrunkener an uns vorbei und stöhnte: »Oh, ist mir schlecht.« Er erbrach sich direkt neben uns. Und ich? Bekam einen Lachkrampf und biss Micha herzhaft auf die Zunge.

»Tschuldigung«, würgte ich unter Lachtränen hervor und rannte dann zur Bahn. Micha sah mir stumm und staunend hinterher.

Zu Hause gab ich nur einsilbige Antworten auf die Frage meiner Mutter, ob meinen Freundinnen und mir der Film gefallen hätte.

»Ja« war besser als »Nein«, sonst hätte ich noch weitere Erklärungen abgeben müssen. Und nach Reden war mir heute nicht mehr.

Irgendwie hatte ich mir das alles anders vorgestellt. Ich hatte die Nase voll von kotzenden Obdachlosen, bösen Spinnen und harten Tageslichtprojektoren. Und von Micha. Ja. Von Micha. Zum ersten Mal seit zwei Jahren küsste ich vorm Schlafengehen nicht das Klassenfoto.

»Grunz« hieß für mich ab heute: Bleib mir bloß vom Leib! Wer wollte schon eine fremde Zunge im Hals stecken haben, die dort wie eine fette Nacktschnecke herumkroch, bis einem die Luft wegblieb? Ich nicht! Ich hing an meinem Leben.

Am nächsten Tag zeigte ich Micha die kalte Schulter. Auch am übernächsten. Und am überübernächsten.

»Wie findest du denn den Micha?«, fragte mich in der Woche darauf sein kleiner Freund Mark.

»Doof«, gab ich sofort zurück. Und diese Antwort gab ich Mark die nächsten fünf Jahre lang. Und auch jedem anderen, der ein gutes Wort für die Nacktschnecke einlegen wollte. Jeden Brief, den ich fortan von Micha bekam, zerriss ich ungelesen in tausend kleine Fetzen. Wenn er anrief, ging ich nicht ans Telefon.

Erst bei der Abifeier passierte etwas Seltsames: Beim traditionellen Vollsuff-Flaschendrehen musste ich ausgerechnet Micha küssen. Ich schloss angewidert die Augen. Doch diesmal wollte mich keine Nacktschnecke ersticken. Stattdessen küssten mich weiche Lippen, die nach dunkler Schokolade schmeckten. Nach Hefeweizen und Cola. Die Kombination hatte etwas überraschend Leckeres. Ich wollte gern noch ein bisschen mehr davon naschen. Deshalb überließen wir die anderen ihren Spielchen und verzogen uns, um den Kuss nachzuholen, den wir uns bei Solo für 2 nicht gegeben hatten. Aus dem einen Kuss wurden so viele, dass ich sie nicht mehr zählen konnte.

Zehn Jahre später standen wir im Standesamt. Und als der Beamte mich fragte: »Wollen Sie diesen Mann heiraten?«, sagte ich nicht »Ja«.

Ich sagte: »Grunz.«

Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich auch unsere erste Tochter so genannt. Doch Micha legte sein Veto ein. Dafür nannte er seine Firma »Grunz«, was deshalb gut passt, weil er Comiczeichner ist. auto motor und sport liest er immer noch, wenn auch nicht im Kino. Und ich? Mag bis heute keine Spinnen. Aber liebe die Kombination aus Schokolade, Hefeweizen und Cola.

Unvergesslich!

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