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Für immer und ewig

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Auf den Bergen des Atlasgebirges lagen noch Schneereste, aber hier im Tal war der Winter vorbei und der Boden endlich trocken genug, um wieder Fußball zu spielen.

Oh, wie hatte Hakim diesen Tag herbeigesehnt! Genauso wie seine Freunde. Es war ungewöhnlich mild, fast zwanzig Grad, und die Jungs beeilten sich noch mehr als sonst mit den Hausaufgaben, um endlich losziehen zu können.

Hakim brachte den Ball mit. Lässig hatte er ihn unter den Arm geklemmt, doch wenn es darauf angekommen wäre, hätte er darum gekämpft wie ein Löwe. Der Ball war sein wertvollster Besitz. Und natürlich wagte es niemand, ihn ihm streitig zu machen.

Sie trafen sich an der Kreuzung. Latif, Malik, Lounis, Rashid, Faruq und die anderen. Trikots hatten sie nie besessen und doch trugen sie alle das gleiche Dress: Baumwollshorts, verwaschene T-Shirts, Sportsocken und Sneakers, die freilich weder so genannt wurden noch ein Markenlogo trugen. Doch das war alles unwichtig.

Wichtig dagegen war die Frage, wo sie künftig ihr Spielfeld abstecken sollten. Denn der Platz, den sie jahrelang dafür genutzt hatten, existierte nicht mehr. An der Stelle war in den letzten Monaten gebaut worden und jetzt stand genau dort, wo Hakim im letzten Sommer so viele Treffer erzielt hatte, ein neues Haus.

»Blöde Baracke«, schimpfte er, als sie daran vorbeitrotteten. Dabei war es alles andere als das. Im Gegenteil, der Neubau war wirklich beeindruckend mit seinen schönen Ornamentfliesen am Sockel, den strahlend blau lackierten Klappläden, der hübschen Sitzbank neben dem Eingangstor und der riesigen Dachterrasse.

Rashid schnaubte verächtlich.

Lounis spuckte bestätigend aus.

Malik schüttelte nur den Kopf.

Die anderen taten so, als existierte das Haus überhaupt nicht. Wortlos stapften sie daran vorbei.

Ganz so leicht war es nicht, ein freies Stück Land zu finden, das einigermaßen flach war und auf dem nicht allzu viel störendes Gestrüpp wuchs. Aber sie fanden eins. Markierten die Tore mithilfe von Stöcken und kratzten mit den Fersen die Seitenlinien in den Staub. Und schon konnte es losgehen …

Beim Kicken vergaß Hakim alles um sich herum. Die Schule, die Hausaufgaben, die Ermahnung seiner Mutter, nicht zu spät heimzukommen. Erst als Karim und Latif sagten, sie müssten nun langsam los, fiel ihm das wieder ein. Weil ihm der Ball gehörte, machten auch die anderen Schluss und gemeinsam marschierten sie zurück ins Dorf. Vorbei an dem Haus.

Rashid schnaubte wieder, Lounis spuckte aus, Malik schüttelte den Kopf.

Hakims Wut war inzwischen fast völlig verraucht. Eigentlich. Der neue Platz gefiel ihm mindestens so gut wie der alte und er lag auch nur wenige Minuten weiter außerhalb. Mehr aus Gewohnheit murmelte er »Bruchbude« vor sich hin, als sie den Neubau passierten. Während er das tat, wanderte sein Blick unwillkürlich hinüber. Und da sah er sie.

An diesem Abend konnte Hakim nicht einschlafen, obwohl er vom vielen Rennen eigentlich todmüde hätte sein müssen. Und diese Schlaflosigkeit hatte auch nichts mit dem schnupfenbedingten Röcheln seines kleinen Bruders oder dem Zähneknirschen seines großen Bruders zu tun, mit denen er sich ein Schlafzimmer teilte.

Sondern nur mit ihr.

Es gelang ihm mühelos, sich ihr Bild in Erinnerung zu rufen. Als hätte es sich in sein Gehirn gebrannt. Ihr wundervoll schokoladenbraunes Haar, das ihr in leichten Wellen über die Schultern und fast hinunter bis zu den Hüften fiel. Ihr goldbrauner Teint. Ihre mandelförmigen Augen. Ihre langen Beine. Die schmalen Füße. Ihr gazellenartiger Gang. Ihr unergründliches und zugleich so bezauberndes Lächeln …

Hatte er geträumt oder hatte dieses Lächeln wirklich ihm gegolten? Das wäre zu schön, um wahr zu sein. Hakim wagte kaum, es zu hoffen. Aber insgeheim tat er es doch. Von ganzem Herzen. Denn er wusste in diesem Moment, dass er nie eine andere lieben würde. Sie oder keine. Und wenn sie nichts von ihm wissen wollte, dann würde er eben allein bleiben bis ans Ende seiner Tage. So viel war klar.

Er zog niemanden ins Vertrauen. Natürlich nicht. Mit wem hätte er über seine Gefühle reden können?

Faruq, seit der ersten Klasse sein Banknachbar und noch viel länger sein bester Freund, verstand auch ohne Worte, was los war. Zum Glück tat er so, als wäre es nichts Besonderes, dass er ihm wie nebenbei die Informationen lieferte, die Hakim so dringend erfahren wollte.

Sie hatte vorher mit ihrer Familie in einem anderen Stadtteil gewohnt und die dortige Schule besucht. Sie hatte einen älteren Bruder. Sie war, genau wie Hakim selbst, zehn Jahre alt. Und sie hieß Habiba.

Es hätte keinen passenderen Namen geben können, fand Hakim. Denn er bedeutete »die Geliebte«.

Habiba saß nachmittags gern auf der Bank vor dem Haus und las. Wenn Hakim und die Jungs auf dem Weg zu ihrem neuen Fußballplatz vorbeikamen, konnte er ihren Anblick genießen. Besonders gut gefiel ihm, wenn sie mit einer anmutigen Bewegung eine störende Haarsträhne hinters Ohr strich. Dann machte sein Herz jedes Mal einen Extraschlag.

Einmal saß sie sogar noch da, als sie sich auf den Rückweg machten, und schaute kurz auf. Ihre Blicke begegneten sich und für einen kurzen Moment stand die Welt still. Dann nickte sie unmerklich. Oder genauer gesagt: fast unmerklich. Denn Hakim registrierte diese winzige Bewegung natürlich ganz genau. Und er hatte eine Ahnung – eigentlich war es mehr eine Hoffnung –, was damit gemeint sein könnte. Denn daran, dass Habiba ihm etwas mitzuteilen versuchte, zweifelte er keine Sekunde.

Und so nickte er zurück. Ebenso zaghaft wie sie, sodass nur sie es überhaupt registrierte.

Die Jungs diskutierten noch immer Maliks übertriebenen Körpereinsatz, den die einen für ein grobes Foul und die anderen für vorbildlichen Kampfgeist hielten. Für Habibas Schönheit hatten sie keinen Blick, für Hakims Reaktion darauf ebenso wenig. Zu seiner großen Erleichterung.

Nach dem Abendessen unternahm Hakim zu ersten Mal in seinem Leben einen Verdauungsspaziergang. Jedenfalls war das sein Alibi. Seine Eltern schienen keinen Verdacht zu schöpfen. Seine Geschwister stritten schon über das Fernsehprogramm. So konnte er sich unbemerkt aus dem Staub machen.

Er nahm nicht den direkten Weg. Das wäre zu auffällig gewesen. Auch wenn ihn vermutlich niemand beobachtete. Doch er ging lieber auf Nummer sicher und schlenderte durch die Straßen, bis er wie zufällig an ihrem Haus vorbeikam. Und ebenso zufällig war das genau der Moment, in dem sie den Müll rausbrachte.

Die Abfalleimer standen am hinteren Ende des Grundstücks, unter einem Olivenbaum. Hakim nahm einen anderen Weg dorthin. Weil der ein bisschen weiter war, sprintete er los, sodass er noch vor ihr dort war und den Deckel der Tonne für sie aufhalten konnte.

»Danke«, sagte sie und lächelte schüchtern.

»Bitte«, erwiderte er und sein Herz schlug dabei schneller als bei seinem Spurt.

Dann standen sie noch ein bisschen nebeneinander unter dem Olivenbaum, bis Habiba schließlich erklärte, sie müsse jetzt wieder reingehen.

»Okay«, meinte Hakim und schaute ihr hinterher, bis sie um die Ecke verschwand.

Ohne sich ausdrücklich dafür verabredet zu haben, wiederholten sie diese Begegnung am nächsten Abend. Und am übernächsten. Und an jedem weiteren Abend dieses unvergesslichen Sommers.

Ihre Gespräche blieben einsilbig. Nicht ganz so knapp wie beim ersten Mal, aber über ein paar Bemerkungen das Wetter, die Schule oder ihre jeweiligen Lieblingsessen betreffend ging es nie hinaus. Es blieb auch kaum Zeit für mehr, denn Habibas Eltern durften natürlich keinen Verdacht schöpfen.

Aber diese wenigen Minuten, die sie allabendlich miteinander hatten, machten ihn so glücklich, wie er es sich noch vor ein paar Wochen nie hätte träumen lassen.

Habiba war die Liebe seines Lebens, daran zweifelte er keine Sekunde. Eines Tages würde sie seine Frau werden. Sie würden in einem Haus mit wunderschönen Ornamentfliesen und blauen Fensterläden wohnen und hätten selbst Kinder, die allesamt so hübsch waren wie Habiba und so pfeilschnell rennen konnten wie er.

Am liebsten hätte er ihr einen Verlobungsring geschenkt. Aber natürlich fehlten ihm dafür die Mittel. Und außerdem war es vollkommen unangebracht für zwei Zehnjährige, sich zu verloben. Die anderen Kinder würden sie auslachen. Und die Erwachsenen … nun, er malte sich lieber nicht aus, was die dazu sagen würden. Erwachsene neigten ja ohnehin dazu, aus einer Mücke einen Elefanten zu machen.

Es würde also so bald nichts werden aus der Sache mit der Verlobung. Aber er sehnte sich nach einem Zeichen. Einem Symbol dafür, dass er sie liebte und auch in Zukunft lieben würde. Für immer und ewig.

Die Idee überkam ihn im Mathematikunterricht. Als er mit dem Zirkel herumspielte und sich fast an dessen Spitze stach. Er betrachtete den Abdruck. Und dann seinen Füllfederhalter. Und so langsam reifte der Plan …

Vielleicht hätte er noch einen Rückzieher gemacht, wenn er sich alles etwas länger durch den Kopf hätte gehen lassen. Doch er wollte die Sache rasch durchziehen. Außerdem war es viel, viel zu heiß zum Grübeln …

Faruq entdeckte ihn hinter der Schulmauer im Schatten. Hakim hatte sein Hemd ausgezogen und eine Nadel in der Hand. In der anderen hielt er ein Tintenfässchen.

Er hatte noch nicht angefangen, als sein Freund sich neben ihm niederließ. Der schien genau zu ahnen, was er vorhatte, und stellte den verwegenen Plan auch nicht infrage. »Den ganzen Namen?«, wollte er nur wissen.

Hakim war sich nicht sicher. Auch nicht, ob er das in der schwierigen arabischen Schrift hinbekäme. Und dann auch noch auf dem Kopf – sonst würde nur er es richtig lesen können und nicht die ganze Welt.

»Nein, nur den Anfangsbuchstaben«, beschloss er. Das H. In lateinischer Druckschrift. Das sah wenigstens von beiden Seiten gleich aus.

Er begann mit dem Querstrich. Vorsichtig tunkte er die Nadel in die Tinte, dann bohrte er sie zaghaft in die sonnengebräunte Haut seines linken Oberarms.

Es tat überraschend weh.

»Noch kannst du aufhören«, kommentierte Faruq.

»Kommt nicht infrage«, widersprach Hakim und machte weiter.

Er gewöhnte sich an den Schmerz. Bei den zwei langen, senkrechten Strichen war er nicht mehr so zögerlich und stach sogar fester zu. Und dann war das H fertig. Sein Liebes-Tattoo. H wie Habiba für immer und ewig.

Für immer und ewig würde auch diese Tätowierung auf seinem Arm bleiben. Man würde sie dort bestaunen können, bis Habiba und er alt und grau waren. Alle würden sie sehen …

Die Erkenntnis traf ihn wie ein Hammerschlag. Ja, alle würden sehen, was er getan hatte – auch seine Eltern. Und sie würden nicht begeistert sein!

Den Rest des Nachmittags verbrachte Hakim mit dem Versuch, das H wieder zu entfernen. Mit Wasser, das rein gar nicht half. Mit Schleifpapier, das höllisch wehtat. Und, auf Faruqs Rat hin, auch mit heißem Öl, das brannte wie Feuer. Es bildeten sich Brandblasen, aber das Tattoo verschwand nicht. Nur der Mittelbalken, bei dem er noch zaghaft zugestochen hatte, verblich ein wenig. Das H aber war weiterhin deutlich zu erkennen und ist es noch heute.

Die Sorge, seine Eltern könnten entdecken, was er getan hatte, war übrigens unbegründet. Die Ärmel seiner T-Shirts verdeckten es. Vermutlich haben sie nie davon erfahren.

Was sie aber sehr wohl mitbekamen, waren die heimlichen Treffen mit Habiba. So etwas gehörte sich nicht, fanden seine Eltern ebenso wie ihre. Und das war das Ende seiner ersten großen Liebe.

In den nächsten Jahren war er froh, dass auch sein eigener Vorname mit einem H begann. So konnte er jedem, der danach fragte, eine glaubwürdige Erklärung für sein Tattoo liefern.

Viele Jahre später lernte er die Frau kennen, die tatsächlich die Liebe seines Lebens wurde – und er die ihre. Sie hat nicht die geringste Ähnlichkeit mit Habiba. Aber auch ihr Vorname beginnt mit einem H.

Unvergesslich!

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