Читать книгу TENTAKEL DES HIMMELS - Heike Vullriede - Страница 12

Lara

Оглавление

Gleich nach dem Aufwachen zündete Lara eine Kerze an. Die anderen fünf jungen Mädchen und zwei Männer ihrer Wohngruppe dösten auf ihren Futons. Sie schnarchten und wälzten sich müde unter ihren warmen Decken hin und her, hoffend, dass ihre Mentorin sie nicht so bald weckte.

Lara setzte sich im gekonnten Lotussitz auf die Reismatte, direkt vor den kleinen Altar, der als Mittelpunkt des schlichten Raumes die Augen aller Anwesenden sofort in den Bann zog. Ihre Fußsohlen zeigten in den Himmel, die Schultern waren weit, der Nacken locker. Mit den Händen formte sie einen flachen Kelch, um zu empfangen, was Gott ihr an diesem Morgen schenkte. Das Herzstück des Altars, die bronzefarbene Skulptur einer strahlenden Sonne, hellte sich im Schein der sich sanft wiegenden Kerzenflamme auf. Sie schloss die Lider und atmete ein paar Mal tief ein und aus, um sich auf die Meditation einzustimmen. Ihre volle Konzentration galt nun dem Atem. Bald nahm sie nur noch die Luftbewegung wahr, die kaum merklich von ihrer Nase aus auf die Oberlippe strömte. Sie öffnete sich innerlich und registrierte mit entspannt geschlossenen Augen die Geräusche ihrer Umgebung: das Schnarchen, das Rauschen der Decken, Taubengegurre draußen. Ihr Geist nahm all das wahr, ohne es zu bewerten, ganz so, wie sie es gelernt hatte. Dann schickte sie ihn in Richtung Altar. Sie begrüßte die strahlende Sonne, bevor sie weiterwanderte, in einen virtuellen Gottesdienst, zu einem großen, segnenden Mann in weißem Gewand. In ihrer Meditation lächelte er sie an, wie ein Vater ein Kind anlächelt. Seine Liebe ergoss sich über sie, umhüllte ihren Körper und bildete einen Kokon, der sie vor allen Übeln der kapitalistischen Welt da draußen schützte.

Wie gern hätte sie den Padre berührt, wie bereitwillig noch einmal seine Hand auf ihrem Kopf gespürt, wie damals beim Segnen während der feierlichen Weihe. Wenn sie in der Zentrale, ein paar hundert Meter weiter, Unterlagen ihrer Schüler abgab, war sie ihm oft ganz nah. Manchmal konnte sie ihn durch die Glasscheiben eines der Büros sehen. Und doch blieb er stets unberührbar für sie, ein Symbol ihrer brennenden, ungestillten Sehnsucht. Wenn er sie nur mehr wahrnehmen könnte. In der Schar seiner Gläubigen blieb ihre besondere Hingabe zu ihm unentdeckt, wie ein Juwel unter tausend Halbedelsteinen. Lara überschüttete ihn geistig mit Liebe und guten Wünschen. Sie hätte alles getan, um seine Wertschätzung zu gewinnen.

Wie jeden Tag schloss sie den Padre in ihr Gebet zu Gott mit ein, damit er seine unendliche Weisheit behielte und seine Kirche des Lichts in diesem Land weiter wachse. Jeder hatte es verdient, erleuchtet zu sein, wie Lara selbst. Sie hätte am liebsten die ganze Welt bekehrt. Das Glück, das sie empfand – das hatte sie gelernt – lag in der Einfachheit ihres irdischen Daseins. Das hieß Arbeiten, Beten, Meditieren, für die Gemeinde da sein, die Menschen der Gemeinde lieben. Hier war sie wichtig. Als Mentorin nahm sie einen wichtigen Platz ein, für eine Anzahl der Jüngsten, der neuen Schüler auf Gottes richtigem Weg.

Kai tauchte in ihrer Versenkung auf. Lara zuckte. Kai hatte diesen Weg verlassen und den falschen eingeschlagen. Unglücklicherweise konnte sie seine Erscheinung nicht wieder abschütteln. Seine Gestalt blieb vor ihrem geistigen Auge, sosehr sie sich auch bemühte, ihn gehen zu lassen. Das war das Ende ihrer morgendlichen Meditation. Mit einer Mischung aus Ärger und Trauer löste Lara den Lotussitz und streckte die Beine langsam nacheinander aus. Sie lehnte sich zurück, mit den Händen auf der Matte abstützend, und legte den Kopf in den Nacken, sodass sich ihr Zopf in der Kapuze ihres goldschimmernden Pullovers einkringelte. Warum nur hatte er sie verlassen und das so beschämend. Ohne ein Wort war er gegangen. Kai hatte nicht nur sie verlassen, sondern die gesamte Gemeinde, den Padre, ihre komplette Welt. Bei dem Gedanken an ihn schossen Tränen in ihre Augen. Wie konnte er ihr das antun? Er war zum Verräter geworden. Das Schlimmste, was es gab. Schlimmer noch als die ungläubigen, habsüchtigen Menschen außerhalb der Kirche. Das warf auch ein schlechtes Licht auf sie selbst. Jeder wusste, dass sie ein Paar waren. Sein Vergehen war ihr Unheil. Immer wieder fühlte sie sich seither misstrauisch beäugt vom Familienältesten.

Lara seufzte gequält auf. Sie musste Kai vergessen. Er war es nicht wert, dass sie sich von ihm in der Meditation stören ließ. Sie hatte eine Aufgabe zu erfüllen. Jetzt erst recht! Sie musste dem Padre zeigen, wie loyal sie ist. Lara stand mit leise knackenden Knien auf. Ihr nach unten gerichteter Blick wanderte über die eingekuschelten Körper ihrer Mitbewohner. Alle sieben waren ihr untergeben. Sie nannten sie nicht nur so, sie fühlte sich auch wie eine Mutter für sie. Diese Stellung hatte sie sich mit strenger Disziplin und großer Leidenschaft erarbeitet. Mentorin konnte nicht jeder werden. Dazu musste sie ihre tiefe Gläubigkeit und die Fähigkeit, anderen ein Vorbild zu sein, beweisen. Kai hätte ihr das fast verdorben. Niemals mehr wollte sie diesen Judas wiedersehen.

Sie klatschte laut in die Hände.

»Los, aufstehen, ihr Schlafmützen!«

Lara musste mehrfach klatschen, bis alle unter den warmen Decken hervorgekrochen kamen. Übermüdet zogen sie sich ihre weißen Kapuzenpullover über. Tiefe Ringe unter den Augen zeugten von zu wenig Schlaf. Ihre Blicke zeigten kaum Regsamkeit, doch sie setzten sich gehorsam um den Altar herum und begannen unter Laras Anweisung die morgendliche Meditation.

»Lea, sitz gerade! Du siehst aus, als ob du gleich einschläfst«, ermahnte sie ein Mädchen mit auffallend gekrümmter Haltung. »Ich kann gar nicht oft genug betonen, dass nur echte Hingabe zur Erfüllung führt.«

Sie ging zu ihr hin und fasste ihre Schulter an. Lea blickte erschrocken zu ihr auf.

»Komm doch bitte nachher zu mir, damit wir darüber sprechen.«

Schnell senkte Lea die Augen wieder. Nach der Ermahnung aber und der zu erwartenden moralischen Belehrung fiel ihr die richtige Versenkung ihres Geistes noch schwerer. Lara sah ihre Augäpfel unter den Lidern während der gesamten Meditation hin und her wandern.

»Lara!« Carstens Stimme zerschnitt die friedliche Atmosphäre der Meditationsgruppe.

Aufgeschreckt drehte sich Lara um. Der Familienälteste der Siedlung stand im Türrahmen und winkte ihr harsch zu. Offenbar hatte er sie und die Schüler unbemerkt beobachtet und sogleich spekulierte Lara, ob sie unbeabsichtigt etwas falsch gemacht hatte. Der überaus ernste Gesichtsausdruck prophezeite ihr ein eher unangenehmes Gespräch mit ihm. Warum nur? Die Unannehmlichkeiten der letzten Wochen seit Kais Verschwinden schienen kein Ende zu nehmen. Sie bemühte sich Tag für Tag, wieder gutzumachen, was Kai der Gemeinde angetan hatte. Was sollte sie denn noch tun, um ihre Treue und Zuverlässigkeit zu beweisen? Leise, um die anderen nicht in der Meditation zu stören, stand sie auf und näherte sich dem Familienältesten.

Der Mann mit der Halbglatze, den etwas zu langen Haaren und der stets kritischen Miene lebte seit der Gründung in dieser Siedlung. Vier Jahre also, bevor Lara hier ein Zuhause gefunden hatte. Sie respektierte ihn als ihren Lehrer, aber mochte ihn nicht besonders, denn sie fürchtete seine Vorträge über die Ansprüche der Gemeinde und ihrer mangelnden Fähigkeit, diesen zu genügen. Das geschah nicht nur in diskreten Gesprächen, sondern ebenso häufig in vielen Bemerkungen über diesen und jenen kleinen Fehler, der ihr unterlief.

»Warum gibt es immer wieder Probleme mit dieser Lea?« Er klang gereizt.

Sie hob ratlos die Schultern.

»Ich glaube, sie ist eine derjenigen, für die es ein sehr langer Weg sein wird, den Pfad der Jüngsten zu verlassen, um die Weihe zu empfangen«, sagte sie.

»So, wie es aussieht, wird sie es nie schaffen«, mäkelte Carsten.

»Vielleicht. Sie ist ein schwieriger Fall.«

»Du, als ihre Mentorin, bist verantwortlich dafür, dass sie funktioniert. Lea ist in jeder Hinsicht mangelhaft. Sie arbeitet langsam, sie ist ungeschickt, und sie bringt nichts ein. So ist sie für unsere Gemeinschaft eine Belastung. Sag ihr das! Sie muss sich schon anstrengen.«

Lara nickte nur. Ihm etwas entgegenzusetzen, stand ihr nicht zu.

TENTAKEL DES HIMMELS

Подняться наверх