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Der Friedhof

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Eine Mischung aus Moder und Unkrautvernichter drängte sich in Peter Torbergs Nase, wie jedes Mal, wenn er das alte gusseiserne Tor aufschob. Den Geruch verband er mit dem Tod, mit der Beerdigung seiner Frau, und dem Dahinsiechen am Ende ihres Lebens. Er hasste diesen Beigeschmack des Todes, darum ließ er auf ihrem Grab Lavendel anpflanzen. Zumindest in Sommerzeiten maskierte der Duft der Staude den Mief des Friedhofs.

Welke Buchenblätter übersäten jetzt den feinen Schotterweg unter seinen Halbschuhen. Vom Nebel gehauchte Wasserperlen auf Schaft und Vorderkappe ließen das glänzende Leder rau aussehen. Nach ein paar Metern vereinten sich die braunen Blätter auf dem Weg mit den Resten von Nadeln und Zweigen einer vor Tagen geschnittenen Eibenhecke. Dahinter verbargen sich volle Abfallcontainer und Gartengeräte. Durch eine Lücke der mannshohen Einhegung konnte man die Gerätschaften erkennen. Für einen Moment verlor dort die Friedhofsatmosphäre das Stille und Andersartige. Peter schritt langsam vorbei, die kalten Hände in den Taschen seines schwarzen Dufflecoats vergraben. Das Gefühl, belauert zu werden, beschlich ihn angesichts der Hecke. Ob sie ihm bis hierher gefolgt waren? Er zögerte kurz, dann kehrte er um und zwang sich, zwei Meter in die grüne Einfriedung einzutauchen, um sich zu vergewissern. Nichts, auch kein verdächtiges Geräusch. Offensichtlich teilte keine einzige lebendige Seele die Einsamkeit mit ihm und alle anderen hier waren stumm, taub und blind.

Er setzte seinen Weg fort, noch immer schwanger mit der unangenehmen Ahnung, versteckte Augen könnten ihn beobachten. Peter passierte einige Grabsteine ihm unbekannter Toter, deren Namen er ungewollt mit jedem seiner zahlreichen Besuche mehr verinnerlichte. Sicher auch deshalb, weil er sich gern mit dem Lesen der Inschriften ablenkte, bevor er die Grabstätte erreichte.

Da lag sie. Claudia Torberg, geboren 14. Dezember 1960, gestorben 26. Mai 2018. Die Lavendelblütenstängel zeigten sich inzwischen entblößt, ihr Duft war am Anfang des Herbstes mit den vertrockneten Hülsen verflogen. So biss der Gestank der Friedhofsmischung weiter in seine Geruchsgänge und hielt den Gedanken an den alles umgebenden Tod aufrecht. Unwillkürlich malten sich Bilder in seinem Kopf. Nicht nur von ihrem ausgemergelten Leib vor dem Ende und vom wachsblassen Anblick des aufgebahrten Leichnams. Peter quälte die Vorstellung der fortschreitenden Verwesung, die Claudias dünne Haut im Sarg mehr und mehr zersetzte.

Es war früh am Morgen und noch immer dämmerig. Die Luft stand wie ein bewegungsloser Schleier. Feuchte Kälte kroch von unten in seine Hosenbeine. Eine Krähe hüpfte von Claudias Grabstein auf das Nebengrab, als sie ihn kommen sah. Die Mahnung seiner Großmutter fiel ihm ein, die ihn als Kind hatte schaudern lassen. Springe nie über Grabsteine, sonst greifen die Toten mit ihren Händen nach dir! Die beneidenswerte Krähe dachte sicher weder an den Tod noch daran, dass Claudia sie in die Erde ziehen könnte.

Sie hatten gekämpft, gemeinsam, zwei Jahre lang. Und wie! Nichts ließen sie unversucht, jede noch so kleine Chance ergriffen sie. All das blieb fruchtlos.

Peter legte eine frische rote Rose auf den polierten Marmorstein und wischte mit einem Taschentuch und Speichel den Vogelmist der Krähe weg.

»Du wolltest dich Gott zuwenden und verlorst dich in den Fängen eines abgöttischen Tentakels«, flüsterte er. »Und ich machte alles mit. Warum nur haben wir die wenige Zeit nicht anders genutzt?«

Wie konnten sie beide sich nur derart verlieren. Ein Geistlicher und Wunderheiler – was für ein Schwachsinn. Doch damals schien es ihnen die letzte verheißungsvolle Hoffnung gegen Claudias Krebs zu sein. Der charismatische Vater, der Padre, wickelte sie in ein Gespinst aus falschen Versprechungen ein. Peter hatte immer gedacht, so etwas könnte ihm nicht passieren. Ein Mann wie er entschied nicht mit dem Bauch, sondern mit dem Kopf. Zuerst sah er zerknirscht dem Handauflegen des Gottgleichen zu. Sie wollte es unbedingt und sie glaubte daran. Sollte er ihr das verbieten? Als Claudia aber nach all dem Heilfasten und Beten unerklärlich auflebte, weinte er vor Freude und vergaß alle Vernunft. Sie ahnten ja nichts von dem umwerfenden Placeboeffekt, den allein der Glaube an Heilung bewirken konnte. Vielleicht wollten sie es auch einfach nicht wissen. Für diesen Humbug hatte er Geld gespendet, viel Geld. Das halbe Vermögen aus seinem Unternehmen verschenkte er. Dann ließ er sich auch noch überreden, in Gesellschaften dieser Kirche zu investieren … Er hätte es besser der gescheiterten Existenz seines Sohnes hinterherwerfen können, denn man hatte sie betrogen. All die verlogen hingeworfenen Hoffnungsschimmer stahlen ihnen nur Zeit. Der Onkologe sagte später, mit einer palliativen Chemotherapie hätte sie noch Jahre lebenswert verbringen können.

Nun war Claudia für immer fort, viel früher als nötig. Weil er sein Denkvermögen eingebüßt hatte. Wertvolle Zeit war ihnen verloren gegangen. Wochen auf Sylt vielleicht oder sogar auf Neuseeland. Sie hätten all die Dinge genießen können, die sie schon immer erleben wollten. Die eigene Blödheit hatte es verhindert, das war das Schlimmste.

Zu der Wut und der Scham gesellte sich der finanzielle Verlust. Nicht einmal einen Teil des Geldes gaben sie ihm zurück. Selbst seine hartnäckige Drohung, die Forderung über Gerichte klären zu lassen, ließ sie kalt. Ihr Einfluss reichte erschreckend weit. Bereits die dritte Anwaltskanzlei, die er fragte, hatte den Fall abgelehnt und auf andere verwiesen. Einzig die Androhung eines Interviews mit der überregionalen Zeitschrift Weltenecho brachte Unruhe in die Sektenführung. Seitdem bedrohten und verfolgten sie ihn, seit Wochen nun schon. Er sah sich um. Bestimmt lauerten sie auch hier. Gab es da nicht auch den alarmierenden Fall von Kai Holzmann, dem Geschäftsführer einer der Gesellschaften? Er war verschollen, gerade dann, nachdem er Peter gegenüber angedeutet hatte, die Sekte zu verlassen. Was für ein Sumpf aus Lügen und Sünden. Nicht Gott lenkte die Sekte, der Teufel war es.

Doch inzwischen war es ihm fast egal. Peters Motivation, das durchzustehen, versank wie bei jedem seiner Friedhofsbesuche in der Trauer um Claudia. Rache? Wozu? Seine Frau kam dadurch nicht zurück. Ihm blieb nur die Einsamkeit. Er hatte einen Sohn. Der vegetierte als obdachloser Künstler in Berlin. Jan wusste nicht einmal, woran seine Mutter verstorben war, geschweige denn, unter welchen Umständen. Er hatte nie danach gefragt. Jan und er lebten völlig verschiedene Leben. Ihn anrufen? Es widerstrebte Peter. Nicht nur falscher Stolz hielt ihn zurück. Was sollte Jan denken, wenn er von der Verstrickung in die falsche Kirche erfahren würde? Nach dem Tod von Jans Mutter sehnte Peter sich jeden Morgen und jeden Abend nach einem Lebenszeichen seines einzigen Kindes. Er hatte den Jungen vergrault, ihm zu wenig Liebe gezeigt. Wegen ihm war Jan nach Berlin gezogen, möglichst weit weg von Streit und Verständnislosigkeit. Gern wollte er wieder gutmachen, was er in frühen Jahren verpasst hatte. Peter hatte das Testament geändert. Jan sollte das, was noch übrig war, erben. Nicht als Pflichtteil, sondern alles, was in der Vorversion des Testamentes bereits der Sekte zugedacht war. Und ihn, Jan Torberg Junior, den rebellischsten und dickköpfigsten aller möglichen Söhne, würde der Padre mit noch so großer Scheinheiligkeit niemals beschwatzen können. Peter selbst resignierte inzwischen.

Der Nebel zog seinen milchigen Schleier dichter um ihn. Vom Nebengrab aus starrte ihn die Krähe an und schrie auf, als wollte sie ihn fragen, welchen unheiligen Gedanken er gerade nachhing. Ja, er hatte daran gedacht, die Wartezeit bis zur Vereinigung mit seiner Frau erheblich zu verkürzen und zahlreiche Mittel und Wege abgewogen, die es ihm leicht machen sollten. Zu Hause und im Büro seiner Firma dachte er unentwegt daran, die Lügner aus der Sekte mit allen Mitteln zu bestrafen. Doch dann stand er jedes Mal schwach und wie betäubt vor dem Grab seiner Frau und überlegte, aufzugeben und für immer zu verschwinden – dahin, wo Claudia auf ihn wartete.

Er strich mit dem Zeigefinger über die Rose.

»Ohne dich macht alles keinen Sinn.«

Peter hörte das leise Knirschen von Sohlen auf nassem Schotter hinter sich. Gleich darauf überzog Gänsehaut seinen Nacken, als lägen nur Millimeter zwischen ihm und dem Atem eines fremden Menschen. Man merkt, wenn sich jemand von hinten nähert. Jedenfalls dann, wenn man in gänzlicher Stille verharrt. Da waren sie also, die Schergen des Padre, die Schläger Gottes. Er war sich sicher, doch die Enge seines Geistes im Bann des Grabes hinderte ihn daran, sofort um sich zu schlagen. Erstaunt nahm Peter seine Trägheit wahr, panische Angst zu empfinden. Die musste er gewiss haben, denn warum sonst sollte sich jemand an einsamer Stelle an ihn heranschleichen. An Geister glaubte er nicht, auch, wenn er manches Mal insgeheim auf die Hände seiner Frau hoffte, die ihn zu ihr in die weiche Erde ziehen wollten.

Peter nahm das Rauschen von Kleidung neben sich wahr und spürte eine Hand auf seiner rechten Schulter. Nun begann sein Herz doch, kräftig zu klopfen. Aber er sah sich nicht um, weder nach hinten noch zur Seite. Er starrte ohne zu Zwinkern die Krähe an, die wieder auf Claudias Grab hüpfte. Eine Hand fasste nach seinen Fingern. Sie fühlte sich unecht an, künstlich – nicht so warm wie die Haut eines Menschen. Zwischen seinen Fingern wiederum fühlte er etwas schrecklich Kaltes. Man hob Peters Arm, das Kalte drückte gegen seine Schläfe, sein Zeigefinger krümmte sich, ohne dass er etwas dazu tat. Er ließ es geschehen.

Ich komme, dachte er.

Der Atem neben ihm ging fast lauter und schneller als sein eigener. Dann riss es ihm fast den Kopf weg.

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