Читать книгу TENTAKEL DES HIMMELS - Heike Vullriede - Страница 7
Das Erbe
ОглавлениеTot! Der Alte war tatsächlich tot. Ein leichter Schauder kroch Jan beim Anblick des mächtigen Holzschreibtisches den Rücken entlang, als säße sein alter Herr noch immer dahinter und debattiere mit ihm über Jans ineffektives Künstlerdasein. Dabei musste ineffektiv ja nicht gleichzeitig unproduktiv bedeuten. Aber das hatte seinen Vater nie interessiert. Kunst hatte Hobby zu sein, es sei denn, man wäre berühmt wie van Gogh oder Picasso. Dass auch die sich erst einen Ruf hatten erkämpfen müssen, war für den Alten schon zu viel des Geschwätzes gewesen. Das geldgeile Denken seines Vaters und Jans chaotische Lebenskunst … ein bis zum Ende unbefriedetes Schlachtfeld. Darauf zurückgelassen: nur Verlierer, wie in jedem ordentlichen Krieg.
Nun hatte er seinem Leben selbst ein jähes Ende bereitet. Ein Schuss, aufgesetzt auf die Schläfe, dessen Explosionskraft den Schädel zerfetzte, und dessen Spuren von Rauch und Hirngewebe an der rechten Hand von Selbstmord zeugten. So hatte man es Jan erklärt. Es waren ihm zu viele Details. Nie im Leben hätte Jan mit einer derartigen Tat seines Vaters gerechnet. Doch die Menschen, die seinen Vater besser kannten als er, erzählten etwas anderes. Sie sprachen von tiefer Trauer nach dem Tod seiner Frau, von abwechselnd depressiven und aggressiven Stimmungen.
Eine seltsame Mischung aus Schmunzelnmüssen und Schmerz vibrierte in Jan, während er sinnlos auf das Erscheinen der vertrauten grauhaarigen Gestalt mit den herabhängenden Mundwinkeln hinter dem Schreibtisch wartete. Irgendwie vermisste er ihn doch. Es war etwas Unvollendetes im Abgang seines Vaters. Er hatte etwas übrig gelassen, nicht nur die Marketingfirma mit – bis vor wenigen Tagen – 96 Beschäftigten, nicht nur eine Menge Geld … vielleicht hatte Jan sogar gehofft, seinen Vater doch noch stolz machen zu können, womit auch immer – jedenfalls nicht mit den Fotografien aus seiner betagten Nikon, der Zeichnerei und der Grafittikunst … aber jetzt war es zu spät. Der Alte war weg, verstaut im Grab der Mutter, die womöglich nicht besonders glücklich über die unerwartete Gesellschaft nach den letzten Monaten in Ruhe war.
»Tja, und jetzt wühle ich hier herum und bringe mit Sicherheit alles durcheinander. Ob du das so gewollt hast?«, flüsterte Jan.
Er schritt langsam um den Schreibtisch herum, ließ sich mit seiner seit Wochen nicht gewaschenen Jeans in dem durchgesessenen und speckigen Lederungetüm dahinter nieder und streckte seine langen Beine unter der verkratzten Holzplatte aus. Einen Moment lang wippte er gedankenvoll hin und her. Bald näherten sich seine Fingerspitzen dem Griff der Schublade vor ihm. Privatbereich Vater! Fast spürte er einen Klatsch auf seiner Hand.
Die Tatsache, dass ihm sein Vater trotz allem all das bedingungslos vererbt hatte, wertete Jan als letzten verzweifelten Versuch, den einzigen Nachkommen von der Gosse weg in ein normales Leben zu pressen. Was sollte er mit der Firma? Sie interessierte ihn einen Dreck! Das geerbte Geld reichte, um sich ein bescheidenes Leben lang auf die faule Haut zu legen, ein bisschen Künstler heraushängen zu lassen, Freunde zu kaufen. Er war genügsam, gewohnt, mit wenig auszukommen. Die mangelnde Unterstützung der vergangenen Jahre hatte ihn abgehärtet.
Jan spielte mit dem Knauf der Schublade. Als es in der Stille des Raumes an der Tür klopfte, zuckte er zusammen. Ein junger Mann öffnete, ohne eine Aufforderung dazu abzuwarten, und steckte den Kopf durch den Spalt. Jan erkannte Kemal Akdas, den Rechtsberater seines Vaters. Der Einzige, den er hier überhaupt näher kannte. Nun betrachtete er ihn als Teil der Erbmasse, die man ihm ans Bein gebunden hatte.
»Darf ich hereinkommen?«
Jan nickte wortlos. Der Kerl würde sowieso eindringen, egal, was er antwortete.
Zögernd betrat der Mann mit den ordentlich gekämmten schwarzen Haaren und dem gebügelten Anzug das Chefbüro. In den Händen trug er einen langweilig aussehenden Ordner und eine geöffnete Fächermappe, deren aufgeklappter Zustand Jan an ein gähnendes Maul erinnerte.
Kemal stellte sich vor den Schreibtisch und musterte ihn aus tiefdunklen Augen.
»Ich störe Sie nur ungern …«
»Warum tun Sie es doch?«
Der scharfe Ton seines neuen Chefs ließ Kemals Gesichtszüge entgleisen, aber nur kurz.
»Es gibt ein paar laufende Terminsachen, die geklärt werden müssen und in der Post von heute …«
»Kann das nicht die Zicke im Vorraum erledigen? Wofür habe ich sie?«
Kemal räusperte sich.
»Sie meinen die langjährige Sekretärin Ihres Vaters? Nun, Sie haben der Dame eine Kündigung nahegelegt. Da sie noch offenstehenden Urlaub und eine unendliche Anzahl an Überstunden übrig hatte …«
»Sie ist schon weg? Das ging aber verdammt schnell.«
»Ja, vermutlich hatte sie es damit so eilig, weil Sie ›blöde Schnepfe‹ und ›dämliche alte Schachtel‹ zu ihr sagten, als sie Ihnen gestern die Post bringen wollte. Ich schätze, dass da noch ein arbeitsrechtliches Nachspiel auf Sie zukommt.«
Jan runzelte die Stirn. Da war er wohl etwas voreilig und eine Idee zu wenig empathisch gewesen. Egal, nun war es eben so. Er brauchte keine alte Tante, die sich aufführte wie eine Expartnerin seines Vaters – was sie mit Sicherheit nicht war – und die glaubte, einen Anspruch auf ein besonderes Vertrauensverhältnis Jan gegenüber zu besitzen. Sollte sie doch weggehen, völlig bedeutungslos. Sie war ersetzbar.
»Genauso, wie Sie dem Pförtner gekündigt haben, dem Chefbuchhalter, einer Reinigungsfrau, die Ihnen lediglich mit dem Staubsauger im Weg war, und den beiden Sachbearbeitern aus der Organisationsabteilung. Ach ja, und der Personalchefin, weil sie ein ernstes Gespräch über all diese Kündigungen mit Ihnen führen wollte.«
»Und jetzt haben Sie Angst um Ihren Job?«, raunzte Jan Kemal von unten aus ins Gesicht.
»Nein, wohl kaum.«
»Ach nein?«
»Nein, Sie brauchen mich noch. Jetzt umso mehr.«
»Da sind Sie sich aber ziemlich sicher.«
»Allerdings, irgendjemand muss das Geschäft weiterführen, auch wenn Sie es vermutlich so schnell wie möglich veräußern wollen. Dabei könnte ich Ihnen übrigens behilflich sein.«
»Vielleicht will ich das ja gar nicht.«
Jan bemerkte einen Hauch von Enttäuschung in Kemals Miene. Hatte der Kerl doch wahrhaftig darauf gehofft, ihn derart schnell loszuwerden? Selbstredend überlegte Jan vom Todestag seines Vaters an, das Geschäft zu verkaufen. Nur wusste er nicht einmal, wie er das anstellen sollte, genauso wenig, wie er etwas vom Marketinggeschäft verstand, von Geschäften überhaupt. Er brauchte Kemal tatsächlich. Ein Glück, dass er ihm noch nicht gekündigt hatte.
»Ich bin also nach wie vor Ihr Rechtsberater?«
»Ja, seien Sie stolz darauf.«
»Da das nun geklärt ist, wäre ich froh, wenn wir ernsthaft über Geschäftliches sprechen könnten. Es gibt einen Vorgang, der mir Bauchschmerzen bereitet. Es betrifft ein – wie soll ich sagen – besonderes Unternehmen in Düsseldorf.«
Jan seufzte, es blieb ihm nicht erspart. Nun hatte ihn der Alte da, wo er ihn immer haben wollte.
»Was ist denn so besonders an diesem Unternehmen?«
»Es handelt sich um eine christliche Glaubensgemeinschaft. Sie nennt sich Kirche des Lichts.«
»Eine Kirche? Ernsthaft?«
»Ich weiß nicht, was Sie über die letzten zwei Jahre ihrer Eltern wissen. Ihre Mutter war sehr krank und in dieser Kirche wollte sie wohl so etwas wie Erlösung finden.«
»Ich weiß gar nichts. Mein Vater hielt es nicht für nötig, mich über irgendetwas zu informieren. Von der Krankheit und dem Tod meiner Mutter erfuhr ich erst nach ihrer Beerdigung.« Jan betrachtete das goldgerahmte Foto auf dem Schreibtisch, worauf seine Eltern Arm in Arm am Strand von Juist vor dem Meer posierten.
»Das wussten Sie nicht? Ihr Vater sagte, er hätte Sie in Berlin nicht erreichen können. Er meinte, Sie hätten kein Smartphone und keine Adresse, an die er sich wenden konnte.«
»Oh doch, die hatte er. Ich war in einer WG gemeldet. Jede Nachricht an diese Adresse gerichtet, hätte mich erreicht … zumal in einem Zeitraum von zwei Jahren …«
Ein Kloß in Jans Kehle hinderte die nachkommenden Worte, ausgesprochen zu werden. Dafür hasste er seinen Alten. Für diese Sturheit, nicht einmal in Mutters schlimmsten Zeiten den Kontakt zu ihm gesucht zu haben. Für wie undankbar hatte er ihn eigentlich gehalten? Es wurde ihm bewusst verschwiegen. Selbst bei Jans Weihnachtsanruf im letzten Jahr.
Jan wandte sich dem jungen Mann im Büro wieder zu. Er fand ihn etwas herablassend ihm gegenüber. Wer wusste schon, was sein Vater alles über Jan erzählt hatte.
»Was ist denn nun mit dieser Kirche?«, fragte Jan.
»Das, ich nenne ihn mal Oberhaupt, möchte unser Unternehmen kaufen.«
»Das hier? Sie meinen mein Erbe, die Marketingfirma Peter Torberg GmbH?«
»So ist es. Und an einer Marketinggesellschaft der Kirche sind Sie mit Ihren Anteilen zur Hälfte beteiligt. Ich hatte Ihrem Vater damals übrigens abgeraten, da zu investieren. Wie dem auch sei … der andere Anteilseigner möchte einen neuen Geschäftsführer einsetzen und benötigt Ihre Unterschrift dazu.«
»Das bereitet Ihnen Bauchschmerzen?«
»Nicht die Sache mit dem Geschäftsführer, obwohl … der gilt merkwürdigerweise als verschollen. Aber mich beunruhigt vielmehr dieses Geschäftsfeld. Es ist eine Sekte.«
»Verschollen?«
»Ich lasse Ihnen das Schreiben des Herrn aus Düsseldorf da. Vielleicht schaffen Sie es, sich neben Ihren Kündigungen an die Mitarbeiter und den daraus resultierenden Konsequenzen damit zu beschäftigen.«
»Kemal … ich darf Sie doch beim Vornamen nennen?«
»Wenn es sein muss.«
»Was denken Sie über den Selbstmord meines Vaters? War er wirklich so labil, dass er diesen Schritt gegangen ist?«
»Was sagen Sie denn da? Was soll es denn sonst gewesen sein?«
»Ich weiß nicht, das passte nicht zu meinem Vater. Nicht so, wie ich ihn kannte. Das habe ich den Polizisten auch gesagt.«
»Das hieße im Umkehrschluss, dass er ermordet wurde. Wer sollte so etwas tun? Können Sie sich nicht vorstellen, wie traurig und einsam jemand sein kann, der einen geliebten Menschen verloren hat? Der niemanden sonst mehr an seiner Seite hat, auch nicht den einzigen Sohn, der sich seit Jahren nur noch zu Weihnachten meldet.«
Jan hob den Kopf höher. »Sie werden unverschämt!«
»Ich dachte, Sie wollten meine Meinung hören.«
»Nein, nicht wirklich.«
»Ich arbeite immer noch für Sie?«
»Noch.«