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Die Zentrale der Kirche des Lichts

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»Warum kommt der so spät? Zwei Stunden Verspätung! Ohne jede Entschuldigung. Was maßt der sich an?«

Der Mann, der vom Fenster des Büros aus die Hofeinfahrt überblickte, nahm eine Zigarette, drehte sie ein paar Mal um und zündete sie schließlich an.

Seine Zuhörerin lächelte.

»Der leistet sich so manches«, sagte sie, seine Finger beobachtend, wie sie ständig durchs Haar griffen, wie ein Redner, der nur aus Kopf und Händen bestand. Die Vorstellung von ihm als Kopffüßler rief eine gewisse Heiterkeit in ihr hervor.

Sie war die Einzige, die Torberg Junior schon kannte. Bei einem ihrer Besuche in der Firma seines Vaters vor ein paar Jahren hatten sie und Jan Torberg festgestellt, dass sie sich aus Schulzeiten kannten. Es war ein einmaliges Treffen gewesen und einiges in der Zwischenzeit geschehen, aber die Erinnerung an den jungen Rebellen war geblieben. Unvergesslich, dieser ironische Zug um Torbergs Mund. Eine Hand hatte er ihr damals nicht gereicht, sie dafür ungeniert, geradezu anzüglich, gemustert. Seine herablassende Art hatte, das musste sie sich zugeben, etwas anziehend Unverschämtes. Anna Schuster amüsierte der Gedanke, wie der junge Unternehmer hier ankommen würde, und sie freute sich jetzt schon auf reichliche Abwechslung. Vor allem auf die Reaktionen Ihres Chefs Alonso. So schnell, wie gewohnt, würde er diesen nicht einwickeln.

Sie nippte an ihrem Glas und beobachtete Wolff, der jetzt das Fenster verließ und auf und ab lief. Dermaßen nervös wie heute sah man ihn selten. Aber die wenig umgängliche Art Torbergs hatte sich durch informierte Zungen herumgesprochen – gerade auch durch ihre. Und wie vom Bösen getrieben, fand sie es an der Zeit, noch einmal darauf hinzuweisen.

Ein Grund für die Finger, wieder durchs Haar zu greifen. Dann schwiegen die Hände, nachdenklich verharrten sie am Körper.

»Ach was, der wird sich schon anpassen. So wie jeder.«

Er drehte wieder die Zigarette.

»Wenn nicht, dann wird der Padre schon dafür sorgen. Da können wir sicher sein.«

»So sicher wie das Amen in seiner Kirche!«

Anna fand ihre Bemerkung so passend, dass sie auf dem schwenkbaren Sessel hin und her wippte. Obwohl lautlos, schallte das Lachen in ihrem Kopf. Selbst Wolff schmunzelte heimlich, sie sah es. Wäre freilich der Padre anwesend gewesen, hätte sie niemals eine noch so passende Bemerkung gewagt.

Kurz bevor sie in Düsseldorf ankamen, wäre es Jan fast gelungen, einzuschlafen. Gerade kroch ein Gefühl tiefer Entspannung in seinen Körper. Als der Taxifahrer ihn ansprach, dauerte es einige Sekunden, bis er richtig zu sich fand. Sein Wir sind gleich da, Herr Torberg, schreckte ihn auf, wie ein Schrei. Sie passierten ein wegweisendes Schild am Straßenrand.

»Fahren Sie noch mal zurück«, befahl Torberg.

Der Taxifahrer murmelte unverständliche Flüche vor sich hin, bevor er den Rückwärtsgang einlegte. Fünfzig Meter zurück stoppte er abrupter als nötig mitten auf der Straße.

Mit zusammengekniffenen Augen studierte Jan durch das Autofenster hindurch die Aufschrift auf der Hinweistafel so lange, als wollte er sie ganz und gar verinnerlichen.

Auf silberfarbenem Grund stand in protzend goldener Schrift:

Kirche des Lichts

Zentrale

Marketing und Missionswerk

»Warum halten wir hier?« Kemal war ebenso wie sein Chef aus einem Fast-Schlaf aufgeschreckt.

»Ich wollte es schwarz auf weiß sehen und jetzt sehe ich es golden auf silber.«

»Sie wollten was? Ich kann Ihnen nicht folgen … wie so oft.«

»Ich meine dieses Schild. Kaum zu glauben, dass mir so etwas zur Hälfte gehört.«

»Tja, über einige wesentliche Dinge hat Ihr Vater Sie wohl im Unklaren gelassen. Aber Ihnen gehört von der Zentrale nichts. Sondern nur ein Teil dieses Marketing- und Missionswerks. Missionierung ist auch so eine Art Marketing, wenn man es genau nimmt.« Kemal verzog verächtlich die Mundwinkel.

Zwei Kilometer weiter erreichten sie die Einfahrt zu einem abgelegenen Anwesen. Ein grüner Streifen aus meterhohen Kirschlorbeeren kaschierte den dahinter verborgenen Metallzaun. Doppelstabgitter mit Auslegern, Jan durchdachte reflexhaft seine Chancen, den Zaun zu überwinden. Nicht ganz einfach, aber machbar, entschied er.

Der Taxifahrer seufzte auf, als er seinen übermüdeten Körper aus dem durchgesessenen Autositz hob. Draußen bog er den Rücken ausgiebig durch.

»Wird das heute noch was?«, rief Jan von der Rückbank durch die geöffnete Fahrertür. »Sie wissen schon, dass ich Sie üppig bezahlt habe?«

»Deswegen bin ich nicht Ihr Sklave«, antwortete der Fahrer. Den unbequemen Kunden hatte er nur angenommen, weil er sowieso von Hamburg aus zurück nach Düsseldorf wollte und sich dadurch eine lukrative Rückfahrt anbot. Er formte ein unsittliches Zeichen mit seinem Mittelfinger, bevor er sich vor das verschlossene Tor des Anwesens stellte und einen Knopf drückte. Kemal hob angesichts der frechen Antwort des Fahrers triumphierend die Faust.

Das Tor öffnete sich elektronisch und sie befuhren eine breite Schotterzufahrt, bis sie einen gepflasterten Hof erreichten. Der Hof erschien verschwenderisch groß. Er bot Platz genug für zweihundert Autos, aber nur wenige, höchstens zehn, parkten dort. Einige der Fahrzeuge protzten in Jans Augen wie Ludenkarren, die anderen wirkten auf ihn wie Seifenkisten. Ein großer weißer Transporter ohne Aufschrift rangierte vor dem geöffneten Tor einer Halle.

Kemal und Jan enttäuschte das nüchterne Äußere des Gebäudes vor ihnen. Sie hatten mehr Spiritualität erwartet. So etwas wie eine große Kirche oder Moschee, etwas Heiliges jedenfalls.

»Hier wollte meine Mutter ihren Glauben finden? Es sieht aus, wie ein gewöhnliches Bürogebäude«, sagte Jan.

»Es ging nicht nur um ihren Glauben. Es ging um Heilung. Dem Sektenführer wird die Fähigkeit zugeschrieben, Kranke heilen zu können.«

»Ein Wunderheiler? Ich kaufe Ihnen nicht ab, dass mein Vater an so etwas geglaubt hat.«

»Warum nicht? Niemand weiß, wie er reagiert, wenn er den Tod so dicht vor Augen hat. Tut man dann nicht alles, um sich zu retten?«

»Meine Mutter vielleicht, ja. Das kann schon sein.«

»Tja, wenn die Schulmedizin nicht hilft, suchen viele Trost und Hilfe im Glauben. Der Schritt vom Glauben zum Aberglauben ist vermutlich gar nicht so weit.«

»Was unterscheidet denn Aberglauben vom Glauben?«, fragte Jan. »Jede Religion pachtet für sich die Wahrheit. Warum soll die Wahrheit dieser Sekte falscher sein als die der anderen?«

Kemal dachte eine Weile nach. Diese Frage konnte er nicht einmal für sich selbst beantworten. Also schwieg er dazu. Dass Torberg aber fast philosophisch in die Tiefe fragte, wunderte ihn. Er hatte ihn für einen oberflächlichen Trampel gehalten.

Inzwischen hatte sich der Himmel derart verdunkelt, dass man den Eindruck eines drohenden Unwetters erhielt. Jan ließ den Wagen in einigem Abstand zum Gebäude und mit der Motorhaube zur Einfahrt hin parken. Es gab ihm ein sichereres Gefühl, im Notfall mit dem Gefährt näher am Ausgang zu sein. Er warf einen Blick auf das Tor und registrierte mit Unbehagen, wie es sich verschloss.

»Ich würde gern etwas essen. Wann brauchen Sie mich wieder?«, fragte der Fahrer.

»Sehen Sie hier ein Bistro zum Einkehren? Nein, Sie bleiben hier und warten.«

»Arschloch«, flüsterte es vom Fahrersitz aus.

»Das habe ich gehört.«

Als Jan und Kemal ausstiegen und ihre steif gewordenen Beine endlich wieder ausstreckten, öffnete sich die angesammelte Masse tiefdunkler Wolken und Regen ergoss sich sintflutartig über der Stadt. Binnen Sekunden verwandelte sich die graue Pflasterung in Schwarz und schon flossen kleine Rinnsale den Boden entlang. Kemal hielt es für einen Wink Gottes, sich lieber wieder ins Taxi zu verkriechen und davonzufahren. Trotzdem rannte er mit der Jacke auf dem Kopf über den Hof, um sich in den schützenden Eingang des Gebäudes zu stellen. Direkt dahinter folgte ihm Jan Torberg mit großen Schritten. Jans Füße patschten jedes Mal in kleine Pfützen und erinnerten ihn sofort daran, dass seine Schuhe mit vernünftigem Schuhwerk nichts gemeinsam hatten.

Kaum aber hatten sie den Eingang erreicht, beruhigte sich das Wetter wieder. Der Regen verstummte und nur noch vom Dach des Hauses und den angrenzenden Bäumen plätscherte Wasser, sammelte sich in Pfützen, und alles verlief in kleinen Bächen, um in den Gullys zu verschwinden.

Während sie erst den aufklarenden Himmel und dann sich selbst betrachteten, fragten sich beide, warum sie nicht zwei Minuten gewartet hatten. Kemal lächelte schadenfroh, als er in Jans vor Nässe triefendes Gesicht sah. Und der Taxifahrer lachte im Wagen so laut, dass sie es durch die geschlossenen Fenster selbst aus der Entfernung hörten. Doch Jan grinste ebenso und Kemal bemerkte, wie wenig besser er dastand. Im Gegenteil, ihm war, als wirke ein Mann in einem völlig durchnässten Anzug noch lächerlicher als ein Mann in verschlissener, durchnässter Jeans. Leider war Kemal der Mann im Anzug und es ärgerte ihn, dass es Torberg überhaupt nichts ausmachte, ihm dagegen sehr viel. Das war etwas Grundlegendes, das sie unterschied und das stocherte in Kemals Selbstbewusstsein, seit er den jungen Torberg kannte.

Wortlos folgte er seinem Chef durch eine Glastür in die geräumige Eingangshalle des Gebäudes. Er hatte fast das Verlangen, seine Schuhe auszuziehen, als er den auffallend sauberen Teppich im Eingangsbereich betrat – weinrot auf goldschimmernden Fliesen. Kemal rümpfte die Nase und dachte an den bescheidenen Imam der kleinen Moschee seines Stadtteils in Hamburg. Torberg begrüßte den Pförtner, der hinter einer gläsernen Schutzwand auf ihn wartete. In der Zwischenzeit studierte Kemal einen Ständer mit glänzenden Prospekten und eine Informationstafel, auf der Plakate und Fotos das Leben der Gemeinde illustrierten – zumindest das Leben, das sie nach außen hin führten. An den Wänden hingen Fotografien, welche wohl einige der Kirchen des Lichts zeigten. Auch darauf fand er keine sakral anmutenden Bauwerke. Dafür aber ehrfurchtsvolle Gesichter, glückliches und dummes Lächeln vor den Mauern weiß verputzter Häuser und immer wieder ein riesenhafter Mann in weißem Gewand mit goldenen Ornamenten. Der Mann lächelte kühl und hob die Hände wie zum Segnen, oder er tätschelte den Kopf eines Kindes. Auf einem der Fotos schien er vor einem armen Dorf irgendwo in Osteuropa zu posieren, umringt von lachenden Menschen.

Kemal nahm soeben den Fahrstuhl ihm gegenüber wahr, da sah er Torberg im Treppenhaus daneben verschwinden. Der Pförtner rief ihm mit lauter Stimme etwas hinterher, doch Torberg überhörte ihn schlicht.

Der lässt mich hier stehen, durchzuckte es Kemal.

Noch während sich Kemal mit dem herbeigeeilten Pförtner auseinandersetzte, öffnete sich der Fahrstuhl und ein Mann stieg aus. Mit affektiert erhobenem Haupt trat er Kemal entgegen.

»Wolff … wir hatten Sie eher erwartet!« Unnachsichtig sah Wolff den Verspäteten an. »Sind Sie aufgehalten worden? Hätten Sie sich unterwegs nicht melden können? Wir sind es nicht gewohnt, dass man uns warten lässt.«

Bevor Kemal antworten konnte, trat eine junge Frau in elegantem Kostüm Wolff zur Seite. Sie flüsterte ihrem Kollegen etwas zu.

Verwirrt betrachtete er Kemal. »Sie sind nicht Jan Torberg?«

Der bis dahin verdutzte junge Mann erhob seinen Kopf. »Nein – Gott bewahre! Ich bin nur sein Begleiter. Mein Name ist Kemal Akdas, Sekretär und Rechtsberater des Herrn Torberg«, sagte er, froh, seine Person von dem Verdacht befreit zu haben.

Anna wusste, dass Wolff augenblicklich seine inneren Pläne bedroht sah. Und Pläne brauchte er. Er wagte selten Spontanes. Alle seine kleinlichen Vorbereitungen für dieses Treffen zwischen Torberg und ihrem großen Chef und Vater, wackelten seit zwei Stunden bodenlos.

»Aber wieso…? Ist denn Herr Torberg nicht mit Ihnen gekommen?« Er klang ungehalten und blickte sich suchend um.

»Ein Mann ist vorausgegangen, ohne dass ich ihn aufhalten konnte«, rief der aufgewühlte Pförtner und wies auf das Treppenhaus.

»Sie müssen mir nicht ins Gesicht schreien«, entgegnete Wolff.

Doch der Pförtner schaffte es vor Aufregung nicht, seine Stimme zu dämpfen. »Ich hab sofort Alarm gegeben!«

»Was? Wieso Alarm gegeben?« Kemal fühlte sich wie ein Einbrecher, ertappt und gestellt. Doch Wolff verzog nur seinen Mund, fuhr mit der Hand durch sein Haar und seufzte strapaziert auf. »Also kommen Sie, fahren wir nach oben. Dieser Torberg wird sich schon melden.«

Konzeptlos betrat Wolff mit Kemal und Anna den Fahrstuhl.

»Wieso Alarm gegeben?«, fragte Kemal noch einmal.

Doch darauf bekam er keine Antwort. Stattdessen öffnete sich die Fahrstuhltür schon in der nächsten Etage und vor ihnen stand Jan Torberg. Anna erkannte ihn sofort. Zwar waren Jahre vergangen, doch diese Gestalt war ihr seitdem im Gedächtnis geblieben.

Grußlos stieg er ein und musterte Wolff aus nächster Nähe ausgiebig. Der warf einen fragenden Blick auf Anna – sie bestätigte mit kurzem Nicken und nutzte die Gelegenheit, Torberg heimlich zu betrachten. Dass er und sein Begleiter in einen Regenguss gekommen waren, konnten sie nicht leugnen. Hochgewachsen und schlank stand er da, gerade aufgerichtet und er sah auf Wolff hinab, ohne seinen Kopf zu senken. Sie amüsierte sich innerlich. Wolff hasste es, zu jemand anderem aufblicken zu müssen als zum Padre.

Torbergs Schuhe hinterließen im Fahrstuhl eine beachtliche Pfütze. In ausgebeulter Jeans und abgetragener Jacke entsprach er so gar nicht dem Bild des reichen Firmeninhabers, der er nach Antritt seines Erbes nun war. Aber etwas anderes hatte Anna auch nicht erwartet. Verstohlen lächelte sie, als sie in Wolffs vor Eitelkeit gekränktes Gesicht sah. Während der langen Sekunden im Fahrstuhl ließ Torberg nicht einmal den Blick von ihm.

Sieh an, Torberg ist älter geworden, dachte sie. Sein Gesicht schien ihr wesentlich verlebter als früher, das nasse Haar strohiger. Vielleicht trank er oder, noch wahrscheinlicher, hatte er Drogen genommen, oder beides zusammen. Gesund sah er jedenfalls nicht aus. Nur der Bart, der seine schmalen, aber weich geschwungenen Lippen von der Nase bis zum Kinn dünn umhüllte, war genauso flusig, wie sie es von früher kannte. Er hätte sich lieber rasieren sollen, doch glattrasiert und etwas gepflegt war er sowieso nicht vorstellbar. Sie hatte seine Augenbrauen vergessen, die schwarz und überdeutlich eine dicke Linie über seine hellen Augen zogen. Sie wuchsen in der Mitte fast zusammen und prägten entscheidend dieses eigenwillige Gesicht.

Der Aufzug hielt in der vierten Etage. Wolff führte sie in ein großes, komfortabel eingerichtetes Büro, das mehr an einen luxuriösen Wohnraum erinnerte als an einen Arbeitsraum. Jan blieb eine Weile vor der Tür stehen und sah sich um. An der Tür hing kein Schild, keine Nummer, kein Name. Ein kräftiger blonder Mann mit ernstem Gesicht und grauem Anzug wachte davor. Nachdem er den Raum näher in Augenschein genommen hatte, vermutete Jan, dass es das Büro des Chefs war.

Halber Chef, berichtigte er sich sofort, die Hälfte dieser Nobelfirma gehört mir!

Er nahm nicht an, dass der Mann aus dem Fahrstuhl sein eigentlicher Geschäftspartner war, denn so riesig, wie beschrieben, war dieser keinesfalls. Jan setzte sich in einen der bequem aussehenden, schwenkbaren Ledersessel und hatte zunächst nur einen Gedanken – seine nassen Socken auszuziehen, die sich inzwischen in seinen Turnschuhen wellten. Mit Schwung warf er seine Beine übereinander, zog nach und nach erst seine Schuhe und dann die Socken aus. Beides ließ er achtlos zu Boden fallen, um anschließend seine nackten Füße auszustrecken.

Anna konnte sich ein Lachen kaum verkneifen. Jetzt wusste sie, worauf sie mit Spannung gewartet hatte. Mit hin und her wippenden Füßen lehnte sich Jan nach hinten und schloss für einen Moment die Augen. Da fiel ihm Annas nicht ganz verkniffenes Kichern auf und er beugte sich im Sitzen ein Stück vor, um sich nach hinten umzudrehen, soweit es mit ausgestreckten Beinen eben ging. Dann blickte er von einem zum anderen, und als er das empörte Gesicht von Wolff erfasste, verharrte er eine Weile. Was gab es denn zu sehen, außer seinen nackten Füßen auf diesem Teppich? Ein nackter Fuß war immerhin sauberer als ein beschuhter, und außerdem fühlender, konnte er doch jede Faser des teuren Hochflors spüren, der weich und dicht seinen ausgekühlten Fuß wärmte.

»Aber bitte, nehmen Sie doch auch Platz«, bot Jan vom Sessel aus den anderen gönnerhaft an.

Niemand reagierte und es entstand eine vorwurfsvolle Pause.

»Ich hasse nasse Socken.«

Damit hielt er die Sache für erledigt.

Anna musste hinausgehen. Ihr Maß an Beherrschung war überschritten. Sie schloss leise die Tür hinter sich und lief ein Stück den Flur entlang, bog um eine Ecke, um unbeobachtet die Hände vor das Gesicht zu schlagen und ausgiebig zu lachen.

Kemal wäre ihr aus anderen Gründen gern gefolgt. Er hatte das Gefühl, als Gewissen dieses Mannes umherzulaufen, schämte er sich doch für zwei. Ihm war bewusst, dass man sie bei Besprechungen stets zusammen betrachtete, nicht einzeln, und er konnte sich innerlich nicht von Torbergs skandalösem Benehmen distanzieren. Unaufhaltsam stieg eine peinliche Hitze in seine Kopfhaut, die – Allah sei Dank – mit ihrer natürlichen Bräune die schlimmste Offenbarung seiner Gefühle vorerst verhinderte.

Wolff nahm am Schreibtisch vor der Sitzgruppe Platz und griff zum Telefon. Während er wählte, ließ er seinen ungehobelten Besucher nicht aus den Augen. Torbergs Arroganz stand er ohnmächtig gegenüber. Der Armleuchter war ein Gast des Padre, kein Opfer, das er drangsalieren durfte, und das hätte er am liebsten bereits im Fahrstuhl in die Tat umgesetzt.

»Hier ist Wolff – ja, er ist jetzt da. Wenn Sie jetzt kommen, können wir mit dem Meeting beginnen.«

Er legte den Hörer auf und beobachtete seinen Gegner.

»Wo ist dieser … wie heißt der noch gleich … Alonso?«, fragte Jan mit der verächtlichsten Miene, die er ausdrücken konnte.

»Unterwegs hierher, er wird in fünfzehn Minuten hier sein.«

Wolff ahnte, dass es alles andere als geplant laufen würde. Ein unterschätzter Gegner gewinnt fast jede Schlacht. Und dann stand Torberg auf, nahm seine durchgeweichten Schuhe vom Teppich und verließ auf nackten Füßen wortlos den Raum. Er verschwand einfach, ließ Wolff zurück, wie ein Stück Abfall auf seinem Weg.

Kemal folgte ihm verwirrt bis zur Tür. Was jetzt?

»Äh … wir setzen uns mit Ihnen in Verbindung«, rief er hilflos in den Raum hinein. Wie er das jemals erklären sollte, wusste er nicht.

Wolff starrte ihnen nach – perplex, ratlos. Anna hatte nicht übertrieben. Dieser Mann würde ihn eine Menge Nerven kosten. Er besann sich, griff erneut zum Telefon und versuchte Alonso noch aufzuhalten.

Währenddessen fuhr unten im Hof das Taxi auf das Tor zu. Kemal, der fast nicht mitgekommen wäre, saß mit aufgestütztem Kopf neben Torberg auf dem Rücksitz, voll unerfüllter Erwartungen, nutzloser Aufregung und das unangenehme Gefühl durchnässter Kleidung auf der Haut.

»Das können Sie nicht machen! Sie können jetzt nicht einfach gehen. Herr Alonso ist in diesem Moment auf dem Weg hierher.«

»Warum nicht?« Jans Augen blitzten wütend. »Man lässt mich von Hamburg nach Düsseldorf kommen, um mich warten zu lassen?«

»Bedenken Sie – wir sind zwei Stunden zu spät gekommen. Hätte Herr Alonso etwa zwei Stunden auf Sie warten sollen?«

»Ja, das hätte er. Verstehen Sie nicht, Kemal? Das war pure Absicht. Wäre ich pünktlich erschienen, wäre die Situation nicht anders gewesen. Man wollte mich herabsetzen, Dampf herauslassen, indem man mich wie einen dummen Jungen warten lässt. Glauben Sie mir, das kenne ich. Ich habe es nicht nötig, mich herabsetzen zu lassen.«

Kemal staunte über diese Antwort. Torbergs Abgang eine überlegte Reaktion? Diese Leute in Düsseldorf waren sicher ausgekochte Geschäftsleute. Er hatte sich in Hamburg aus verschiedenen Quellen über die Kirche des Lichts informiert. Was er gelesen und gehört hatte, war alarmierend. Diesem Alonso hingen einige Prozesse und Menschenrechtsorganisationen am Hals, allerdings betraf das Fälle im Ausland. Hier, in Deutschland, stand seine sogenannte Kirche bisher am Anfang, waren die Strukturen der Organisation noch nicht mächtig genug.

Als sie das Tor erreichten, blieb es verschlossen. Der Fahrer hielt an und wartete. Entschlossen verließ Torberg den Wagen, entriegelte das Tor von Hand und stieg wieder ein.

»Woher wussten Sie, wie man es aufbekommt?«, fragte Kemal.

»Lebenserfahrung.« Jan zwinkerte ihm zu. »Von innen muss man es immer manuell öffnen können – als Fluchtweg.«

»Sind wir denn auf der Flucht?«

»Flucht würde ich es nicht nennen, eher taktisches Manöver.«

Der Taxifahrer blickte besorgt in den Rückspiegel.

»Muss ich mir Sorgen machen? Sie sind doch keine Diebe?«

»Würden Sie mich das wirklich fragen, wenn Sie es glauben würden? Fahren Sie einfach.«

»Und wohin, wenn ich fragen darf?«

»Richtung Innenstadt.«

»Und was haben Sie jetzt vor? Sie wollen die Angelegenheit schließlich auch geklärt wissen«, fragte Kemal.

Jan überlegte eine Weile, während er aus dem Fenster sah. Er war müde und hatte die Fahrerei satt. Außerdem hatte Kemal recht. Seine Konfrontation mit diesem Kirchenmann war gewollt. Er musste den Mann kennenlernen, dem seine Eltern zwei Jahre lang wie Äffchen hinterhergerannt waren, dem sie Intimes anvertraut hatten, die sie ihrem einzigen Sohn verschwiegen. Jan wollte wissen, was diese Sekte dort trieb. Jetzt nach Hamburg zurückzufahren, wäre sinnlos gewesen.

»Wir werden uns hier in der Nähe eine Bleibe suchen. Morgen rufen Sie dort an und vereinbaren einen neuen Termin – mit der Bitte um pünktliches Erscheinen! Und für morgen besorgen Sie mir, was man so für einen kürzeren oder längeren Aufenthalt hier braucht.«

Vor seinem geistigen Auge schwebten eine gemütliche Suite, geile Filme, ein kulturelles Highlight oder bloß das Kinoprogramm, Knabbereien und vor allem ein paar kühle Helle.

Anna sah ihnen vom Flurfenster des Gebäudes aus nach. Das war wohl nicht so gelaufen wie vorgesehen. Neugierig schlich sie ins Büro zurück, um nach Wolff zu sehen. Neben dem Sessel, auf dem Torberg sich ausgestreckt hatte, fand sie die nassen Socken auf dem Boden liegend. Angewidert, aber belustigt und mit angehaltener Luft, pickte sie die eingekringelten schwarzen Haufen mit zwei Fingern auf. Herausfordernd hielt sie die Strümpfe Wolff unter die Nase.

»Wollen Sie die nun Alonso vorstellen?«

Ihr Blick war zynisch. Es machte ihr Spaß, ihren eingebildeten Kollegen zu provozieren. Sie wollte ihm die Socken direkt gegen die Nasenspitze tupfen, doch er wehrte sie rechtzeitig ab. Roh drückte er ihren Arm nach unten, sodass sie glaubte, er zerquetsche Elle und Speiche zu einem einheitlichen Mus. Trotzdem grinste Anna schadenfroh.

»Und was wollen Sie dem Padre erzählen, wenn er jetzt kommt?«

»Gar nichts! Er wird nicht kommen. Ich habe ihn noch rechtzeitig erreicht.«

Schade, dachte Anna und wand sich vorsichtig aus seinem Griff. Sie hielt es für besser, ihre Zusammenarbeit nicht durch spontanen Übermut zu gefährden. Wolff war des Chefs rechte Hand und nach Alonso selbst fürchtete sie ihn am meisten. Niemals wollte sie vergessen, dass er ein Schläger war. Auch in den Momenten, in denen er sie gelegentlich hofierte. Ihr Verhältnis zueinander war zwiespältig. Sie hatte sich ihn immer auf Abstand gehalten. Das ärgerte Wolff, sonst gewohnt, sich zu nehmen, was er begehrte. Doch Anna stand unter des Padres schützender Hand.

Sie rieb sich den rot angelaufenen Unterarm. Dann lief sie zur Schrankbar und holte Gläser und eine Flasche heraus.

»Na, einen Wodka haben wir uns wohl verdient«, sagte sie falsch lächelnd und goss Wolff viel, sich selbst aber nur einen winzigen Schluck ein. Wenn solche Angelegenheiten nicht nach Plan verliefen, musste er es vor Alonso verantworten. Darum war er nicht zu beneiden. Während sie tranken, beobachtete sie sein nervöses Augenzwinkern. Fast tat er ihr leid.

Allerdings wird er auch dafür bezahlt und bevorzugt, dachte sie dann und ihr Mitleid verpuffte schnell. Sie behielt die Socken und verabschiedete sich.

TENTAKEL DES HIMMELS

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