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Tante Clara sitzt in der Falle

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IMMER, WENN WIR TANTE CLARA besuchten, sagte meine Mutter gleich nach der Begrüßung, dass man hier erst einmal ein bisschen Ordnung in die Küche bringen müsse. Tante Clara wehrte sich nur lustlos, pro forma sagte sie etwas wie »Ach, lass nur, Marianne, ich mach das doch schon«, aber sie wusste ebenso gut wie ich, dass es sinnlos war. Also deckte sie stattdessen den Kaffeetisch und ging ganz auf in dieser Tätigkeit. Wie ein überdimensionierter Nachtfalter schwirrte sie herum, flatternd und brummend und torkelnd, und brachte bald die Tassen, bald den Kuchen und für mich den Kakao herein. Derweil hörte man es aus der Küche klirren und scheppern, und aus dem Wohnzimmerfenster sah ich, wie meine Mutter mit großen Einkaufstüten zu unserem Auto ging und diese dort einlud. Der Vorgang war so normal, dass ich niemals fragte, wozu dieses Ritual eigentlich diente. Ich hasste diese Besuche, die Stimmung war niemals gut, und Tante Clara ging mir auf die Nerven, weil sie immer ganz aufgeregt war und ständig alles Mögliche von mir wissen wollte. Natürlich nie etwas Interessantes. Nie fragte sie mich danach, ob die Erdkröten schon wieder in den Tümpeln eingetroffen wären oder welcher Wombel der Klügste sei, sondern sie wollte immer nur wissen, was wir denn in der Schule durchnähmen und ob ich schon »eine kleine Freundin« hätte. Vor allem letztere Frage empfand ich auch im Grundschulalter schon als unangemessene Einmischung. Was ging denn das die Tante an? Aber sie ließ sich nicht abschrecken, immer wieder versuchte sie, eine begeisterte Unterhaltung zu initiieren, während ich einfach in Ruhe spielen wollte und hoffte, dass meine Mutter schnell wieder auftauchte, weil sie dann Tante Claras Aufmerksamkeit auf sich ziehen würde. Außerdem quälte mich die Sorge, dass die Prozedur sich zu lange hinziehen könnte und wir nicht rechtzeitig zur »Biene Maja« zurück sein würden.

Einmal nämlich trug ich ein schweres Trauma davon. Ausgerechnet die Folge »Flip sitzt in der Falle«. Die Fernsehzeitung hatte ein Szenenbild abgedruckt, das den Grashüpfer Flip in einer Venusfliegenfalle zeigte, die er mit allen sechs Beinen auseinanderstemmte, und sein Ge­sichtsausdruck ließ eindeutig erkennen, dass es eine große Kraftanstrengung erforderte und er nicht mehr lange durchhalten würde. Ich war schon Tage vorher aufgeregt und fieberte der Sendung entgegen. Meine Mutter versprach, dass wir rechtzeitig zurück sein würden, aber ich blieb unruhig an diesem Nachmittag, als ahnte ich schon etwas. Noch als wir bei Tanta Clara losfuhren, versicherte sie mir, es wäre kein Problem, wir kämen rechtzeitig zurück. Dann hielt sie wie immer an den Glascontainern, weil sie die Tüten eben noch aus dem Auto haben wollte, als überraschend Frau Reiter auf dem Fahrrad vorbeifuhr, während meine Mutter die Flaschen fast sanft in die Öffnungen geleitete. Frau Reiter hielt und wollte vom Rad absteigen, meiner Mutter schien das nicht recht zu sein, sie eilte ihr zum Straßenrand entgegen, um ein lebhaftes Gespräch mit ihr zu beginnen. Ich war verunsichert. Sie hatte gesagt, wir wären locker pünktlich zurück, ich zermarterte mir den Kopf, wie lange ein Grashüpfer so eine fleischfressende Pflanze wohl aufgesperrt halten könnte, die beiden Frauen bewegten sich in Richtung des Mietshauses, wo wollten die hin, wir mussten doch weiter!? Entsetzt beobachtete ich, wie sie in einem Hauseingang verschwanden. Aber sie wusste doch, dass wir um 18.20 Uhr daheim sein mussten! Im Auto gab es keine Uhr, ich schwankte zwischen Vertrauen und Zweifel, sie hatte es doch versprochen! Endlich tauchten sie wieder auf, verabschiedeten sich, meine Mutter schob hastig die letzten Flaschen ein, dann fuhren wir los. Ich war sehr erleichtert. Während sie die Haustür aufschloss, riet sie mir, schnell zum Fernseher zu laufen, damit ich die letzten fünf Minuten noch sehen könnte. Mich traf es wie ein Schlag. Ich wollte es nicht glauben, aber tatsächlich, Kurt der Mistkäfer, der so gerne ein Rosenkäfer gewesen wäre, saß mit Willy, Flip und Maja herum, und alle wirkten sehr glücklich und freuten sich, es war eindeutig, sie hatten es geschafft, und mir war dieses Abenteuer entgangen. Ich fing an zu schreien. Aber statt mich zu trösten und ein schlechtes Gewissen angesichts dieses fundamen­talen Vertrauensbruchs zu zeigen, brüllte meine Mutter mich an, ich solle mich wegen der Scheißsendung nicht so aufregen, das wäre doch völlig egal, fast hätte Frau Reiter gesehen, wie sie die ganzen Schnapsflaschen von Clara weggeworfen hätte, was soll die denn bloß denken, und ob ich glaubte, ihr würde das Spaß machen! Dann brach sie in Tränen aus, was ich noch schockierender fand als die entgangene Rettungsaktion für Flip. Ich spürte eine lähmende Hilflosigkeit. Sie riss sich schnell wieder zusammen, versuchte mich jetzt doch zu trösten, aber ich verstand gar nicht, was passiert war, wieso durfte Frau Reiter nicht wissen, dass sie die Flaschen von Tante Clara wegwarf, das machte sie doch jede Woche, das war doch nichts Besonderes?!

Der Vorfall trug nicht dazu bei, dass ich den Tantenbesuchen mehr Begeisterung entgegenbrachte. Ab da fuhren wir auf dem Rückweg auch immer einen größeren Schlenker zu einem anderen Glascontainer, in Wolbeck, wo wir niemand kannten. Dafür lag auf dem Rückweg eine Eisdiele, an der wir danach hielten, was mich noch eine Weile mit den Clara-Ausflügen versöhnte, aber bald schon gab meine Mutter auf, mich mitzunehmen, und zunehmend fuhr sie selbst immer seltener. Tante Clara begegnete mir dann fast nur noch am Telefon. Meistens sehr spät abends, zu einer Zeit, zu der niemand sonst anrief. Mein Vater verdrehte die Augen und sagte zu meiner Mutter: »Geh du mal ran, das ist doch sowieso die Clara.«

Als ich etwas älter wurde, erweiterte sich der Kreis der potenziellen abendlichen Anrufer exponentiell, sodass meist ich ans Telefon ging, aber wenn ich Pech hatte, erwischte ich die Tante. Sie klang meist sehr merkwürdig, ich ahnte, dass sie betrunken sein musste, und versuchte, sie so schnell wie möglich an meine Mutter weiter zu vermitteln, was nicht immer leicht war, denn Clara war entzückt, mich zu sprechen, hatte aber ihr Repertoire an Gesprächsthemen in den vergangenen Jahren nicht erweitert. Inzwischen berührte mich allerdings die Frage, ob ich denn nun »eine kleine Freundin« hätte, noch erheblich unangenehmer. Einmal waren meine Eltern abends unterwegs, und ich hatte Clara am Ohr und keine Chance, sie unauffällig schnell loszuwerden.

»Ich muss weg, Tante Clara«, versuchte ich es. Sie hörte es gar nicht. »Weißt du, ich habe ja immer alles nur geschluckt, ich habe ja nie was gesagt.«

»Tante Clara, ich bin verabredet, ich muss gleich los.«

»Aber das hat jetzt ein Ende, weißt du, Junge? Man muss auch mal was sagen, weißt du? Man darf sich nicht alles gefallen lassen.«

»Ja, Tante Clara, sicher. Lass dir nichts gefallen. Ich muss jetzt aber weg.«

»Ja, und immer wollen sie nur was von einem, immer heißt es nur: Clara, mach hier, Clara, mach da.«

»Ja, Tante Clara, das solltest du dir nicht gefallen lassen. Ich muss jetzt aber ...«

»Was habt ihr eigentlich in der Schule, Junge?«

»Tante Clara, wirklich, ich muss jetzt ...«

»Wir sprechen so selten miteinander. Da kannst du doch wohl mal sagen, was ihr so gerade in der Schule habt! Da kann man der Tante doch mal kurz was erzählen! Das ist doch nicht zu viel verlangt!«

»Ja, also, gut, wir haben Dreisatz und den Schimmelreiter.«

Schweigen am anderen Ende.

»Tante Clara?«

»Man darf sich nicht alles gefallen lassen, Junge.«

»Ja, Tante Clara. So, jetzt muss ich aber ...«

»Hast du denn inzwischen eigentlich eine kleine Freundin?«

»Tante Clara!«

»Kannst du deiner alten Tante doch sagen, Junge! Du musst doch mal eine kleine Freundin haben, das ist so wichtig, Junge. Man darf sich nicht alles gefallen lassen. Immer nur: Clara hier, Clara da!«

»Ja, Tante Clara, lass dir nichts gefallen. Wir sehen uns sicher bald. Ich muss jetzt Schluss machen.«

»Was habt ihr denn gerade in der ...«

Ich legte auf und fühlte mich sehr schlecht.

Ich sah sie nie wieder. Ihre Oesophagus-Varizen hatten nicht dicht gehalten, kurz bevor ich mein Abitur machte. Wir fuhren hin, und als wir in ihre Straße einbogen, wurde mir klar, wie lange ich schon nicht mehr dort gewesen war. Ich dachte an Flips verzweifelten Gesichtsausdruck, als er in der Falle saß. Im Haus erwartete uns eine ziemliche Sauerei. »Dann lass uns mal als Erstes die Schnapsflaschen hier raus schaffen«, sagte meine Mutter nach erster Sichtung der Lage. Es wurde eine ganze Wagenladung voll. »Ich glaube, ich versuche jetzt mal, die Blutspritzer von der Tapete zu waschen. Vielleicht kannst du ja schon mal zum Container fahren.« Ich nickte und fuhr los.

Ich kam mir sehr merkwürdig vor, als ich in Wolbeck die Tüten aus dem Auto lud.

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