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Das Leben des Michael Nostradamus

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Am 14. Dezember 1503 wurde dem in Saint-Rémy-en-Provence ansässigen Kaufmann und Notar Jaume (Jakob) de Nostredame und seiner Gattin Renée (eine geborene de Saint-Rémy) das erste Kind geboren, ein Knabe, dem sie den Namen Michael (französisch Michel) gaben.

Es war eine Welt im Umbruch, deren Licht Michael erblickte. Elf Jahre zuvor hatte Kolumbus Amerika entdeckt und im Jahr vor Michaels Geburt beendete der Florentiner Amerigo Vespucci seine Fahrten entlang den Küsten Südamerikas. Seine Reiseberichte machten den neuen Kontinent in der alten Welt populär. Im selben Jahr, in dem Kolumbus die Neue Welt betrat, endete mit der Eroberung des Emirats von Granada die maurische Herrschaft in Spanien. Bereits am 29. Mai 1453 hatten die türkischen Osmanen Konstantinopel erobert, das sie in Istanbul umbenannten und zur Hauptstadt ihres Reiches machten. Bis weit ins 17. Jahrhundert hinein bedrohte das Osmanische Reich das christliche Abendland. In Europa entstanden frühkapitalistische Handelsgesellschaften (Fugger in Augsburg, Medici in Florenz). Künste und Wissenschaften erlebten einen ungeahnten Aufschwung; Leonardo da Vinci und Michelangelo schufen ihre Meisterwerke.

Entscheidend geprägt wurde Michael de Nostredame aber durch seine Herkunft, denn seine Vorfahren waren Juden, die seit Generationen in der Provence lebten. Um zu verstehen, was dies bedeutet, ist eine kleine Exkursion über die Geschichte der Juden in Europa notwendig.

Nach einem Aufstand zerschlugen die Römer im 2. Jahrhundert n.Chr. den jüdischen Nationalstaat und die Juden wurden von Palästina über das ganze römische Reich zerstreut. Zwar erhielten sie unter Caracalla das römische Bürgerrecht, doch schon bald keimte Hass auf die Juden auf, den römische Schriftsteller auf die religiöse Absonderung, den Ausschließlichkeitsanspruch Jahwes und andere Besonderheiten der jüdischen Religion zurückführten. Eine Folge dieses Judenhasses waren die Judengesetze der Kaiser Konstantin, Theodosius und Justinian, die zu einer Entrechtung der Juden als Bürger zweiter Klasse führten. Die christliche Staatskirche verfolgte in den Konzilen des 4. bis 7. Jahrhunderts dieselben Ziele. Im Mittelalter galten die Juden als schutzlose Fremde und mussten sich unter den persönlichen Schutz des jeweiligen Herrschers stellen („Schutzjuden“).

Während der Kreuzzüge kam es zu ersten großen Pogromen. Als Vorwand diente der Vorwurf des Hostienfrevels und des Ritualmordes.[1] Die Kirche unternahm in der Regel nichts, um die Juden zu schützen, sondern stachelte den Hass des Volkes oft noch an. Ab 1391 nahm die katholische Kirche in Spanien den Kampf gegen die Juden auf, der mit ihrer Ausweisung im Jahre 1492 endete; treibende Kraft war der Großinquisitor Torquemada.

Aus Frankreich wurden die Juden endgültig 1394 vertrieben, mit Ausnahme von Avignon, der Dauphiné und der Provence. Landesherr der Provence war im 15. Jahrhundert René I. von Anjou, der „gute König René“. Ein Edikt Renés garantierte den Juden der Provence Religionsfreiheit. Nach dem Tode Renés im Jahre 1480 fiel die Provence an die französische Krone. Schon acht Jahre später verlangte Karl VIII. von den Juden, sich dem „wahren katholischen Glauben“ anzuschließen. Sein Nachfolger Ludwig XII. erließ am 26. September 1501 ein Edikt, das alle Juden zwang, sich binnen dreier Monate taufen zu lassen oder Heimat und Eigentum aufzugeben.

Michaels Großvater Pierre de Nostredame, der früher Guy Gassonet hieß, war allerdings bereits in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts zum katholischen Glauben übergetreten, so dass ihn und seine Familie das königliche Edikt nicht berührte. Auch Michaels Urgroßvater mütterlicherseits, Jean de Saint-Rémy, scheint ein konvertierter Jude gewesen zu sein. Doch die katholischen Juden blieben Bürger zweiter Klasse, nur ihr Geld war gerne gesehen. Als Ludwig XII. in Geldschwierigkeiten geriet, beschloss er, den katholischen Juden eine Sondersteuer von 50.000 Livres (Pfund) aufzuerlegen. Jaume de Nostredame „durfte“ 25 Livres aufbringen. Im Steuerregister ist vermerkt, dass die Familie de Nostredame zur „neuen christlichen Gemeinde“ gehörte.

Die Familie de Nostredame zählte nicht zu den Armen und konnte es sich leisten, Michael eine solide Ausbildung angedeihen zu lassen. 1518 schickte ihn sein Vater zur Universität nach Avignon, um dort die sieben „freien Künste“ (Grammatik, Rhetorik, Dialektik/Logik, Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musiktheorie) zu studieren. Michael erging es damit besser als dem Großteil seiner Altersgenossen, denn Historiker veranschlagen für das 16. Jahrhundert eine Analphabetenrate von nahezu 75 %.

1522 begann Michael ein Studium an der medizinischen Fakultät der Universität von Montpellier, damals eines der renommiertesten Institute. Nach einer Studienzeit von drei Jahren erhielt er zwar die Approbation als Arzt, nicht jedoch den Doktortitel. Er war damit nur wenig mehr als ein Bader, einer jener Heilkundigen, die eine handwerkliche Ausbildung genossen hatten und nach dem Erwerb des Meistertitels chirurgische Eingriffe vornehmen durften.

Michael hatte sein Studium eben erst beendet, da brach in Südfrankreich eine Pestepidemie aus, bei der der angehende Arzt sein neu erworbenes Wissen anwenden konnte. Von Montpellier aus begab er sich auf Wanderschaft, die ihn in verschiedene Städte führte, darunter Narbonne, Carcassonne, Toulouse und Avignon.

Am 23. Oktober 1529 schrieb sich Michael erneut an der Universität von Montpellier ein. Älteren Quellen zufolge soll Michael 1530 die Doktorwürde erworben haben und bis 1532 als Assistent an der Universität tätig gewesen sein. Neuere Quellen gehen dagegen davon aus, dass Michael de Nostredame nicht promovierte, sondern nach kurzer Zeit exmatrikuliert wurde. Für diese Annahme spricht, dass sich Michael de Nostredame nie selbst als „Doktor“ bezeichnet hatte. Fest steht jedoch, dass er zwischen 1530 und 1534 der Mode der Zeit entsprechend seinen Namen latinisierte – aus Michael de Nostredame wurde Michael Nostradamus.

1532 verließ Nostradamus Montpellier und zog nach Bordeaux, dann nach La Rochelle und schließlich nach Toulouse. Dort erhielt er eine Einladung zu Julius Cäsar Scaliger nach Agen.

Für den jungen Nostradamus muss dies eine besondere Ehre gewesen sein, denn Scaliger[2] gehörte zu den bedeutendsten Humanisten jener Zeit, aber auch zu den streitbarsten.

In Agen heiratete Nostradamus und gründete eine Familie. Doch dann brach eine neue Pestepidemie aus, der auch seine Frau und seine beiden Kinder zum Opfer fielen. Zu allem Überfluss kam es auch noch zum Zerwürfnis mit Scaliger, der Grund dafür ist nicht bekannt. Jedenfalls begab sich Nostradamus um 1538 erneut auf Wanderschaft. Diese Zeit liegt weitgehend im Dunkeln und gab Anlass zur Bildung einiger Legenden.

1544 tauchte Nostradamus dann in Marseille auf, das unter einer Pestepidemie litt. Ende Mai 1546 rief man ihn in das etwa 30 km nördlich von Marseille gelegene Aix-en-Provence, wo er ebenfalls als Pestarzt tätig war. Nicht gesichert ist ein Aufenthalt in Lyon, weil sich für die fragliche Zeit (1546/1547) dort keine Pestepidemie belegen lässt.

Sicher ist dagegen, dass Nostradamus 1547 einem Ruf nach Salon-de-Provence folgte, wo sein Bruder Bertrand de Nostredame das Amt des Stadthauptmannes bekleidete. Salon-de-Provence liegt verkehrsgünstig zwischen Marseille und Avignon sowie zwischen Arles und Aix-en-Provence. Umgeben ist es von der wasserarmen Großen Crau, einer Steinsteppe, nach der Salon früher Salon-de-Crau hieß.

In Salon schloss Nostradamus am 11. November 1547 vor dem Notar einen Ehevertrag mit der reichen Kaufmannswitwe Anne Ponsarde. Die beiden bezogen ein Wohnhaus, das bis heute erhalten ist, wenn auch nicht im Originalzustand. Nachdem die Ehe zunächst kinderlos geblieben war, kamen ab 1551 sechs Kinder (drei Mädchen und drei Knaben) zur Welt, das letzte 1561.

Mit dem Vermögen seiner Frau im Hintergrund konnte es sich Nostradamus leisten, seinen Neigungen nachzugehen, oder wie man heute sagen würde, seinen Hobbys zu frönen. Er begann zu schreiben, u.a. eine Abhandlung über Kosmetika und Konfitüren („Traicté des fardemens et confitures“) sowie seine berühmten Almanache[3]. Nostradamus beteiligte sich auch finanziell am Bau eines Kanals, den der Baumeister Adam de Craponne im August 1554 in Angriff nahm. Dieser Kanal, den es noch heute gibt und der Rhone und Durance verbindet, sollte neben einer besseren Verkehrserschließung der Großen Crau das dringend benötigte Wasser zuführen.

Zu Adel und Prominenz der Stadt Salon hatte Nostradamus anscheinend gute Kontakte, während ihm das einfache Volk eher ablehnend gegenüberstand. Jedenfalls beklagte sich Nostradamus im „Traicté des fardemens et confitures“, dass er unter „stumpfsinnigen Tieren, rohen Menschen, Todfeinden der Gelehrsamkeit und des Schrifttums“ leben müsse. Diese wiederum verdächtigten Nostradamus als Hexenmeister und heimlichen Hugenotten[4]. Dies mag auf seine Verbindungen zum Landadel zurückzuführen gewesen sein, dem die Ideen der Reformation zupass kamen, um sich vom katholischen Königtum abzugrenzen und seine Selbständigkeit zu betonen. Mit seinem Verdacht, Nostradamus sei ein heimlicher Hugenotte, hatte das einfache Volk so Unrecht nicht, denn in zwei seiner Verse zeigte er recht deutlich Sympathie für die Reformation.

VI.15

Dessoubz la tombe sera trouvé le prince,

Qu’aura le pris par dessus Nuremberg:

L’Espaignol Roy en Capricorne mince,

Fainct et trahy par le grand Vvitemberg.

Im Grab wird der Fürst gefunden,

der den Preis über Nürnberg bekommt.

Der spanische König im Steinbock klein,

getäuscht und verraten von dem großen Vvitemberg.

Ein interessantes Wort ist Vvitemberg am Ende des Verses. Wenn man ein W als doppeltes V ansieht, dann wird Vvitemberg zu Witemberg, was Wittenberg sehr nahe kommt. In Wittenberg lehrte Martin Luther an der Universität und dort verfasste er auch seine berühmten Thesen. Dass Nostradamus Luther le grand Vvitemberg nennt, zeigt, dass er insgeheim mit Luther sympathisierte.

Luther wurde von Karl V., dem 1516 im Wege der Erbfolge Spanien zugefallen war (daher spanischer König), in dem beim Reichstag zu Worms 1521 verfassten so genannten „Wormser Edikt“ geächtet. Dennoch wurde Wittenberg zum Zentrum der Reformation, die sich weiter ausbreitete, nicht zuletzt mit Unterstützung verschiedener Landesherren, die dem neuen Bekenntnis aufgeschlossen gegenüberstanden. Karl V. musste schließlich 1532 den Nürnberger Religionsfrieden gewähren, damit er von den evangelischen Reichsständen Hilfe gegen die Türken bekam.[5] Die dritte und vierte Zeile wären in diesem Fall keine Vorhersage, sondern eine Rückschau, die allerdings notwendig ist, um die ersten beiden Zeilen zu verstehen.

Capricorne in der dritten Zeile ist eine verschlüsselte Zeitangabe, die auf den Zeitraum zwischen dem 19. Januar und dem 16. Februar hinweist. Luther verbrannte im Dezember 1520 die Bulle „Exsurge Domini“, die Papst Leo X. am 15. Juni 1520 gegen ihn erlassen hatte. Da Luther nicht widerrief, exkommunizierte ihn der Papst durch eine weitere Bulle („Decet Romanum Pontificem“). Durch persönlichen Einfluss erreichte Kurfürst Friedrich der Weise, dass Luther seine Position vor dem nächsten Reichstag noch einmal erläutern und verteidigen durfte. Diese Vorgänge fielen in den Zeitraum zwischen 19. Januar und 16. Februar 1521.

Bei Nürnberg bezog 1632 das schwedische Heer unter dem Kommando von König Gustav Adolf II. Stellung. Nicht weit entfernt, rund um die „Alte Veste“ bei Zirndorf westlich von Fürth, befand sich das Feldlager von Wallensteins Heer. Es kam jedoch nicht zum Treffen, sondern beide Heere zogen auf getrennten Wegen nach Nordosten und erst bei Lützen kam es zur Schlacht, in der Gustav Adolf fiel. Die beiden ersten Zeilen prophezeien Gustav Adolfs Tod, wobei die zweite Zeile folgendermaßen zu lesen ist: „der Nürnberg einnimmt“, denn pris(e) bedeutet unter anderem Einnahme, Eroberung.

II.64

Seicher de faim, de soif gent Genevoise

Espoir prochain viendra au defaillir,

Sur point tremblant sera loy Gebenoise.

Classe au grand port ne se peult acuilir.

Ausgetrocknet vom Hunger, vom Durst Genfer[6] Leute.

Nahende Hoffnung schwindet.

Dabei erbebt der Cevennen Gesetz.

Flotte kann im großen Hafen nicht aufgenommen werden.

Die Genfer Leute sind die Calvinisten, da Genf ein Zentrum der Reformation war. Dort wirkte der aus Noyon in Nordfrankreich stammende Jean Cauvin, besser bekannt als Johann Calvin. 1541 entstand die Genfer Kirchenordnung. Genf wurde schließlich zum führenden Zentrum der protestantischen Welt.

Die erste Zeile hat mit tatsächlichem Hunger und Durst nichts zu tun, sondern ist eine Anspielung auf die Bergpredigt: „Selig sind, die Hunger und Durst haben nach der Gerechtigkeit, denn sie werden gesättigt werden.“ [7]

Gebenoise in der dritten Zeile ist vom lateinischen Gebenna abgeleitet, das auch Cebenna geschrieben wird. Gemeint sind die Cevennen in Südfrankreich, die in den von Hugenotten dominierten Gebieten lagen. Sie stehen hier stellvertretend für alle hugenottischen Gebiete Frankreichs. Mit dem Edikt von Nantes gewährte Heinrich IV. im Jahre 1598 den Hugenotten Gewissensfreiheit, beschränkte Kultausübung, politische Gleichberechtigung und Sicherheitsplätze. Nicht einmal hundert Jahre später strebte Ludwig XIV. die Aufhebung des Edikts von Nantes an. Um 1680 begann die gewaltsame Konvertierung mit der Einquartierung von Soldaten in die Häuser der Hugenotten. Als Ludwig XIV. am 18. Oktober 1685 in Fontainebleau das Edikt von Nantes widerrief, waren bereits viele Hugenotten zum katholischen Glauben übergetreten. Trotz des im Revokationsedikt ausgesprochenen Verbotes verließ etwa eine halbe Million Hugenotten Frankreich, unter ihnen befanden sich viele Spezialisten aus technischen, kaufmännischen und handwerklichen Berufen. Dieser Aderlass hatte verheerende Folgen für die Wirtschaftskraft des Landes. Ungeachtet der Diskriminierung hielten sich auch in Frankreich weiter Hugenotten, wie die in den Cevennen lebenden Camisarden, die 1702 einen Aufstand gegen Ludwigs Regime wagten.

Nachdem sich die dritte Zeile eindeutig auf den Camisardenaufstand von 1702 bezieht, könnte auch die vierte Zeile in dieser Zeit handeln. Seit 1701 tobte der Spanische Erbfolgekrieg, bei dem es auch zu zahlreichen Aktionen zur See kam. Eine der bedeutenderen Aktionen war im Jahre 1702 der gescheiterte Versuch des englischen Admirals Sir George Rooke, den Hafen von Cadiz in Spanien einzunehmen.

Am 4. Mai 1555 erschien bei Macé Bonhomme in Lyon der erste Teil der Schrift, die Nostradamus weit über die Grenzen der Provence und Frankreichs hinaus bekannt (und berühmt) machen sollte. Die Erstausgabe trug den Titel „Les propheties de M. Michel Nostradamus“ und enthielt neben dem an Nostradamus’ Sohn César gerichteten Vorwort 353 vierzeilige Verse mit Prophezeiungen.

Offenbar hatten die „Propheties“ das Interesse Katharinas von Medici geweckt, die ihren Gemahl, König Heinrich II. überredete, Nostradamus an den Hof einzubestellen. Die Vorladung übermittelte der Gouverneur der Provence, Claudius von Savoyen, Graf von Tende.

Am 14. Juli 1556 verließ Nostradamus Salon, vermutlich mit gemischten Gefühlen, denn der Chronist von Lyon berichtete über Nostradamus’ Durchreise und dessen Befürchtung, dass man ihm am Königshof übel mitzuspielen könnte und er in großer Gefahr sei, „dass man ihm dort noch vor dem 25. August den Kopf abschlagen würde, wegen Dingen, die er gesagt hätte.“ [8]

Nostradamus erreichte Paris am 15. August 1556. Eine Reise, die mit dem Hochgeschwindigkeitszug TGV heute nur wenige Stunden dauert, beanspruchte im 16. Jahrhundert vier Wochen! Da die königliche Post (poste royale), die seit 1507 auch Privatleute mitnahm, für die Strecke von der Provence nach Paris nur etwa zwei Wochen benötigte, muss Nostradamus unterwegs öfter pausiert haben, um sich von den Strapazen zu erholen. Immerhin reiste man in schlecht gefederten Wagen auf Straßen, die schlechten Feldwegen glichen.

Über den Besuch bei Hofe ist viel geschrieben worden, darunter auch vieles, das wahrscheinlich vollkommen aus der Luft gegriffen ist. Die hauptsächliche Quelle ist Nostradamus’ Sohn César, der 1553 oder 1554 geboren wurde und die Ereignisse lange nach dem Tode seines Vaters niederschrieb, wobei er entsprechend schöngefärbt haben dürfte. Tatsache ist, dass Details über den Besuch bei Hofe nicht bekannt sind.

Im Gegensatz zu seiner Gemahlin zeigte König Heinrich II. wenig Interesse an Wahrsagerei und dergleichen. Als ihn der Astrologe Luca Gaurico[9], mit dem Katharina von Medici in Verbindung stand, in einem Brief vom Februar 1556[10] davor warnte, um das 41. Lebensjahr an einem Zweikampf teilzunehmen,[11] soll der König nur gleichgültig abgewinkt haben. Es ist deshalb anzunehmen, dass er auch mit Nostradamus nur wenige Worte wechselte.

Anders wahrscheinlich Katharina von Medici, die ein Faible für Astrologie hatte, was nicht zuletzt auch darauf zurückzuführen war, dass Luca Gaurico mehrere zutreffende Vorhersagen über Katharinas Verwandte gemacht hatte.

Anscheinend hatte Nostradamus seine Reisekasse klein gehalten, denn er musste sich in Paris von dem Gelehrten Jean Morel einen größeren Betrag leihen. Monsieur Morel wartete lange auf sein Geld. Am 30. November 1561 entschuldigte sich Nostradamus in einem Brief für seine Säumigkeit. Er sei der Meinung gewesen, der Hof habe die Schulden längst beglichen. Dabei hatte es Nostradamus nicht nötig, Monsieur Morel zu prellen. In seinem Testament vom 17. Juni 1566 ist seine Barschaft auf 3.444 Kronen und 10 Sous veranschlagt. Hinzu kamen noch Schuldscheine von 1.600 Kronen. In heutige Kaufkraft umgerechnet würde sich Nostradamus’ Barvermögen auf ca. sieben Millionen Euro belaufen, er war also auch nach heutigen Maßstäben ein reicher Mann.

Nach seiner Rückkehr nach Salon widmete sich Nostradamus weiterhin seinen Studien, gab seine Almanache heraus und arbeitete an den „Propheties“. Außerdem nahm der Fortgang von Craponnes Kanalprojekt seine Aufmerksamkeit in Anspruch.

Im März 1559 fand die Einweihung von Craponnes Kanal statt, an dessen Gelingen Nostradamus nicht unbeteiligt war. Am 1. Juli 1559 verunglückte König Heinrich II. bei einem Turnier anlässlich der Feierlichkeiten zur Hochzeit seiner ältesten Tochter und seiner Schwester Margarete schwer. Ein Splitter von der Lanze seines Gegners, des Kommandanten der schottischen Garde, Gabriel de Lorge Graf Montgomery, drang über dem rechten Auge des Königs in seinen Schädel ein. Heinrich II. starb am 10. Juli 1559 qualvoll. Schon bald bezog man Vers I.35 auf dieses Turnier.

I.35

Le lyon ieune le vieux surmontera,

En champ bellique par singulier duelle,

Dans cage d’or les yeux luy crevera:

Deux classes une, puis mourir, mort cruelle.

Der junge Löwe überwindet den Alten,

auf dem Kampfplatz, im Zweikampf der Berittenen.

Im goldenen Käfig sticht er ihm die Augen aus.

Zwei Trompetensignale. Einer stirbt dann, grausamer Tod.

In der Nostradamus-Literatur ist meist zu lesen, dass sowohl der König als auch sein Gegner Graf Montgomery einen Löwen im Wappen geführt hätten. Wenn lyon jedoch nur zu ieune gehören sollte, ist vieux nicht als Adjektiv sondern als Substantiv zu lesen: „Der junge Löwe überwindet den Alten.“ Dass Montgomery nur wenige Jahre jünger war als Heinrich II. steht dieser Interpretation nicht entgegen.

Im modernen Französisch steht belliqueux für kriegerisch, so dass champ bellique wörtlich als kriegerisches Feld zu übersetzen ist, nicht aber als Schlachtfeld, das im modernen Französisch champ de bataille heißt. Die lateinische Wurzel von champ ist campus (Feld, Ebene, Acker, Platz usw.) und die von belliqueux ist bellicus (kriegerisch, kampflustig); das zu Grunde liegende bello bedeutet Krieg führen, kämpfen. Demnach kann man champ bellique auch als Kampfplatz übersetzen.

Im Französischen hat singulier die Bedeutung merkwürdig, eigenartig, doch wäre die Übersetzung eigenartiges Duell nichts sagend. Ein ähnlicher Ausdruck ist combat singulier, der Zweikampf bedeutet. Im Lateinischen findet man singulares, das berittene Ordonnanzen oder ein berittenes Elitekorps bezeichnete. In diesem Sinne ist singulier duelle als Zweikampf der Berittenen zu lesen.

Die wörtliche Übersetzung von classes wäre Klassen, aber es passt ebenso wenig zu einem Zweikampf wie Flotten oder Heere (von lateinisch classis: Flotte, Heer). Bei Ritterturnieren war es Brauch, jeden Waffengang mit Fanfarenstößen anzukündigen. Ein solches Signal hieß im Lateinischen classicum, was von classes gar nicht weit entfernt ist.

Zum Turnier am 1. Juli 1559 will aber die dritte Zeile nicht recht passen, denn der Splitter von Montgomerys Lanze traf nicht des Königs Augen, sondern trat oberhalb des rechten Auges in den Schädel ein. Statt des Plurals yeux müsste in der dritten Zeile also der Singular œil stehen. Betrachten wir die Abweichung getrost als Produkt der dichterischen Freiheit.

Mit dem tödlichen Unfall König Heinrichs II. soll auch der folgende Vers zusammenhängen.

IV.57

Ingnare envie au grand Roy supportée,

Tiendra propos deffendre les escriptz:

Sa femme non femme par un autre tentée,

Plus double deux ne fort ne criz.

Unwissend Verlangen dem großen König vorgetragen,

hat Absicht die Schriften zu verbieten.

Seine Frau nicht Frau von einem anderen unterstützt

Mehr als doppelte zwei rufen nicht stark genug.

Es wird berichtet, dass auch Heinrichs Mätresse Diana von Poitiers den König beschworen haben soll, auf das Turnier zu verzichten. Im Französischen bedeutet femme nicht nur Frau, sondern auch Ehefrau, so dass „sa femme non femme“ in etwa als „seine Frau, die nicht seine Ehefrau ist“, zu lesen ist. Die vierte Zeile bedeutet, dass mehr als vier (doppelte zwei) Personen König Heinrich zum Verzicht auf das Turnier bewegen wollten. Da waren zunächst Katharina von Medici und Diana von Poitiers, also die beiden Frauen, die den König wohl am nächsten standen. Dann die beiden Astrologen Gaurico und Nostradamus. Nach der „Histoire de France et des Français“ von André Castelot und Alain Decaux soll auch der zukünftige Schwager des Königs, Emmanuel-Philibert, und selbst Montgomery den König beschworen haben, den Kampf abzubrechen.

Interessant ist die zweite Zeile. Befürchtete Nostradamus nur, der König könnte seine Schriften verbieten oder trug sich Heinrich II. tatsächlich mit dieser Absicht? Da Vers IV.57 erst in der Teilausgabe von 1557 enthalten war, ist es möglich, dass Nostradamus in diesem Vers eine Information verarbeitete, die er erst bei seinem Paris-Besuch im Jahre 1556 erhalten hatte, vielleicht aus dem Munde Katharinas von Medici. Damit wäre der Vers keine echte Prophezeiung.

Jedenfalls begründete Vers I.35 trotz der darin enthaltenen Ungereimtheiten Nostradamus’ Ruhm als Prophet. Luca Gaurico jedoch ist heute so gut wie vergessen.

Das gemeine Volk betrachtete Nostradamus jedoch eher als Schwarzmagier und gab ihm die Schuld am Tode des Königs. Nüchterner dachte der Schwager des Königs, Emmanuel Philibert, Herzog von Savoyen. Er besuchte im Oktober 1559 Salon und hielt sich dort längere Zeit auf, im Dezember gefolgt von seiner Gattin Margarete. Die Bekanntschaft mit der Schwester des tödlich verunglückten Königs und ihrem Gemahl stärkte Nostradamus’ Ansehen in der besseren Gesellschaft, nicht jedoch beim einfachen Volk, das ihn am liebsten auf dem Scheiterhaufen gesehen hätte.

Ein letzter Höhepunkt in Nostradamus’ Leben war der 17. Oktober 1564. Auf einer Rundreise durch Frankreich machte der Hofstaat mit dem unmündigen Karl IX. und Katharina von Medici in Salon Station. Mit von der Partie war auch Heinrich von Navarra (der spätere König Heinrich IV.) mit seiner Mutter Johanna von Albret, einer überzeugten Hugenottin. Für Salon, das damals zwischen 6.000 und 7.000 Einwohner zählte, war der Besuch der hohen Herrschaften eine Sensation. Der König und seine Mutter empfingen Nostradamus.

Zwei Jahre später ging Nostradamus’ Lebensweg zu Ende. Die chronische Gicht, an der er seit 1556 litt, machte ihm immer mehr zu schaffen. Am 17. Juni 1566 ließ er vom Notar sein Testament aufsetzen, zu dem am 30. Juni 1566 ein Zusatz verfasst wurde. Versehen mit den Sterbesakramenten starb Michael de Nostredame, genannt Nostradamus, in den frühen Morgenstunden des 2. Juli 1566.

Gemäß seiner testamentarischen Verfügung setzte man Nostradamus’ sterbliche Hülle in der Kirche des Franziskanerklosters von Salon bei. Das Grab besuchten sowohl Ludwig XIII. als auch sein Sohn Ludwig XIV. Auf Ludwig XIII. soll sich Vers IX.18 beziehen.

IX.18

Le lys Dauffois portera dans Nansy

Iusques en Flandres electeur de l’empire,

Neufve obturee au grand Montmorency,

Hors lieux provez delivre à clere peyne.

Des Dauphins Lilie nach Nancy getragen,

bis nach Flandern der Kurfürst.

Neues Hindernis dem großen Montmorency.

Außerhalb gezeigten Ortes deutlicher Strafe ausgeliefert.

Als Bourbone führte Ludwig XIII. die Lilien im Wappen. Er behielt noch als König den Titel Dauphin bei, den er als Kronprinz getragen hatte. Ludwig XIII. engagierte sich im Dreißigjährigen Krieg. 1632 nahm Marschall d’Estrées Trier ein, um den Erzbischof von Trier, der zugleich deutscher Kurfürst (electeur de l’empire) war, wieder einzusetzen. Am 24. September 1633 eroberte Ludwig XIII. Nancy, das zu Lothringen und damit nicht zu Frankreich gehörte. 1635 nahmen die Spanier den Erzbischof von Trier, der sich unter französischen Schutz gestellt hatte, gefangen und brachten ihn nach Brüssel. 1635 stieß Ludwig XIII. nach Flandern vor, wo er die Stadt Löwen belagerte. 1636 schlug Richelieu die Habsburger ins Rheintal zurück und begann nach Erweiterung des französischen Heeres von 60.000 auf 150.000 Mann mit einer Offensive gegen Spanien und Österreich, die bis zu seinem Tode andauerte.

Heinrich von Montmorency, der Enkel des bekannten Konnetabel[12], eroberte 1628 im Auftrag Richelieus La Rochelle, den letzten Sicherheitsplatz der Hugenotten. Doch 1632 organisierte er zusammen mit Gaston von Orléans, dem Bruder des Königs, einen Aufstand gegen die Krone. Die Verschwörer wurden geschlagen und Heinrich gelangte schwer verwundet in die Hände der königlichen Truppen. Am 30. Oktober 1632 wurde er in Toulouse enthauptet. Seine Familie soll, nachdem sie sich vergeblich um seine Begnadigung bemüht hatte, das zweifelhafte Privileg erwirkt haben, dass die Hinrichtung nicht öffentlich stattfand. Das Todesurteil soll ein Soldat namens Clerepeyne vollstreckt haben.

Dieser Vers gilt als Beleg für Nostradamus’ Sehergabe: „Kemmrich zeigt in seinem Buch ,Die Prophezeiungen’ S. 385, dass die Wahrscheinlichkeit, die Namen Montmorency und Clerepeyne zu erraten gleich 1 : 2 ½ Millionen mal 200.000 oder 1 : 5.000 Milliarden ist. Wer also der Meinung ist, dass Nostradamus durch Zufall die Namen erraten habe, muss eins gegen 5.000 Milliarden wetten.“ [13]

Während der Revolutionswirren, im Jahre 1791, erhielt Nostradamus’ Grab Besuch ganz anderer Art. Betrunkene Nationalgardisten aus Marseille brachen das Grab auf und verstreuten die Gebeine des Propheten. Einer der Nationalgardisten soll Wein aus Nostradamus’ Schädel getrunken haben und anderntags durch die Kugel eines royalistischen Heckenschützen umgekommen sein. Auf dieses Vorkommnis soll sich Vers IX.7 beziehen.

IX.7

Qui ouvrira le monument trouvé,

Et ne viendra le serrer promptement.

Mal luy viendra et ne pourra prouvé,

Si mieux doit estre roy Breton ou Normand.

Wer das gefundene Monument öffnet

und es nicht schnell schließt,

dem widerfährt Böses und kann nicht zeigen,

ob es besser ist, bretonischer oder normannischer König zu sein.

Der Bürgermeister von Salon ließ aufsammeln, was von den Gebeinen übrig war und man bestattete sie in der Dominikanerkirche Saint-Laurent erneut, wo sich das Grab noch heute befindet.

Weltuntergang 2019

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