Читать книгу Gesammelte Werke - Heinrich Mann - Страница 13
ОглавлениеDie ganze Festzeit ward verdüstert durch die Sorge wegen des Holländers. Sechstausend Mark für einen [pg 197]neuen Patent-Holländer System Maier! Das Geld war nicht da, und wie die Dinge lagen, nicht zu beschaffen. Es war ein unbegreifliches Verhängnis, ein schäbiger Widerstand von Menschen und Dingen, der Diederich erbitterte. Wenn Sötbier nicht dabei war, schlug er mit dem Pultdeckel und schleuderte Briefordner in die Ecken. Für den neuen Herrn, der die Zügel des Betriebes in seine feste Hand genommen hatte, mußten doch ohne weiteres neue Unternehmungen eintreten, die Erfolge warteten auf ihn, die Ereignisse hatten sich seiner Persönlichkeit anzupassen!... Nach dem Zorn kam der Kleinmut, Diederich traf Vorkehrungen für den Fall einer Katastrophe. Er war sanft mit Sötbier: vielleicht konnte der Alte noch einmal helfen. Auch demütigte er sich vor Pastor Zillich und bat ihn, den Leuten zu sagen, daß er mit der Predigt, von der alle sprachen, nicht auf ihn gezielt habe. Der Pastor versprach es auch, mit sichtlicher Reue, unter dem strafenden Blick seiner Gattin, die sein Versprechen bekräftigte. Dann ließen die Eltern Käthchen mit Diederich allein, und er war ihnen in seiner Niedergeschlagenheit so dankbar, daß er sich fast erklärt hatte. Käthchens Jawort, das auf ihren lieben, dicken Lippen wartete, wäre doch ein Erfolg gewesen, es hätte ihm Bundesgenossen gebracht gegen die feindliche Welt. Aber der unbezahlbare Holländer! Er würde ein Viertel der Mitgift verschlungen haben ... Diederich seufzte, er müsse nun wieder ins Geschäft; und Käthchen kniff die Lippen zusammen, ohne daß das Jawort zur Verwendung gelangt war.
Ein Entschluß mußte gefaßt werden, denn die Ankunft des Holländers stand bevor. Diederich sagte zu Sötbier: „Ich rate den Leuten nur, ihn auf Tag und Stunde zu liefern, sonst geb’ ich ihn ohne Gnade zurück.“ Aber Söt[pg 198]bier erinnerte an das Gewohnheitsrecht, das den Fabriken einige Tage Spielraum lasse. Trotz Diederichs Heftigkeit blieb er dabei. Übrigens traf die Maschine pünktlich ein. Sie war noch nicht ausgepackt, und schon wetterte Diederich. „Er ist zu groß! Die Leute haben mir garantiert, daß er kleiner sein soll als das alte System. Wozu kaufe ich ihn denn, wenn ich nicht mal Raum sparen soll!“ Und er ging, sobald der Holländer aufgestellt war, mit dem Metermaß um ihn herum. „Er ist zu groß! Ich laß mich nicht beschwindeln! Bezeugen Sie mir, Sötbier, daß er zu groß ist!“ Aber Sötbier klärte mit unbeirrbarer Rechtlichkeit den Fehler in Diederichs Messungen auf. Schnaufend zog Diederich sich zurück, um einen neuen Angriffsplan zu ersinnen. Er rief Napoleon Fischer herbei. „Wo ist denn der Monteur? Haben uns die Leute keinen Monteur mitgeschickt?“ Und dann entrüstete er sich. „Ich habe ihn doch bestellt!“ log er. „Die Leute scheinen ihr Geschäft zu verstehen. Ich werde mich nicht wundern, wenn ich für den Kerl täglich zwölf Mark bezahlen muß, und er glänzt durch Abwesenheit. Wer stellt mir das Unglücksding da nun auf?“
Der Maschinenmeister behauptete, er verstehe sich darauf. Diederich bewies ihm plötzlich großes Wohlwollen. „Sie können sich denken: Ihnen zahl’ ich lieber die Überstunden, als daß ich mein Geld für den fremden Menschen hinauswerfe. Schließlich sind Sie ein alter Mitarbeiter.“ Napoleon Fischer zog die Brauen hinauf, sagte aber nichts. Diederich berührte seine Schulter. „Sehen Sie mal, lieber Freund,“ sagte er halblaut, „ich bin von dem Holländer nämlich enttäuscht. Auf den Bildern im Prospekt sah er anders aus. Die Messerwalze sollte doch viel breiter sein, wo bleibt da die größere Leistungsfähigkeit, die die Leute uns versprochen haben. Was meinen Sie? Halten Sie [pg 199]den Zug für gut? Ich fürchte, der Stoff bleibt liegen.“ Napoleon Fischer sah Diederich an, prüfend, aber schon mit Verständnis. Man müsse es ausprobieren, meinte er zögernd. Diederich vermied seinen Blick, er tat, als untersuchte er die Maschine. Dabei sagte er aufmunternd: „Also schön. Sie stellen das Ding auf, ich zahle Ihnen die Überstunden mit fünfundzwanzig Prozent Aufschlag, und dann tragen Sie in Gottes Namen gleich Stoff ein. Wir werden die Bescherung ja sehen.“
„Es wird wohl ’ne nette Bescherung sein“, sagte der Maschinenmeister mit sichtlichem Entgegenkommen. Diederich griff, ehe er es selbst wußte, nach seinem Arm, Napoleon Fischer war ein Freund, ein Retter! „Kommen Sie mal mit, mein Lieber“ – seine Stimme war bewegt. Er führte Napoleon Fischer in das Wohnhaus, Frau Heßling mußte ihm ein Glas Wein einschenken, und Diederich drückte ihm, ohne hinzusehen, fünfzig Mark in die Hand. „Ich verlaß mich auf Sie, Fischer“, sagte er. „Wenn ich Sie nicht hätte, würde die Fabrik mich womöglich hineinlegen. Zweitausend Mark hab’ ich den Leuten schon in den Rachen geworfen.“
„Die müssen sie wieder hergeben“, sagte der Maschinenmeister gefällig. Diederich fragte dringend: „Das meinen Sie doch auch?“
Und schon tags darauf, nach der Mittagspause, die er zu Versuchen mit dem Holländer benutzt hatte, teilte Napoleon Fischer seinem Arbeitgeber mit, daß die neue Erwerbung nichts tauge. Der Stoff blieb liegen, man mußte mit dem Rührscheit nachhelfen, wie bei jedem Holländer ältester Konstruktion. „Also der offenbare Schwindel!“ rief Diederich. Auch brauchte der Holländer mehr als zwanzig Pferdestärken. „Das ist vertragswidrig! Müssen wir uns das gefallen lassen, Fischer?“
„Das müssen wir uns nicht gefallen lassen“, entschied der Maschinenmeister und strich mit seiner knotigen Hand über sein schwarz behaartes Kinn. Diederich sah ihn zum erstenmal fest an.
„Dann können Sie mir also bezeugen, daß der Holländer die bei Bestellung vereinbarten Bedingungen nicht erfüllt?“
In Napoleon Fischers schütterem Bart erschien ein dünnes Lächeln. „Kann ich“, sagte er. Diederich sah das Lächeln. Um so strammer machte er kehrt. „Na, dann sollen die Leute mich kennenlernen!“ Sogleich schrieb er einen energisch gehaltenen Brief an Büschli & Cie. in Eschweiler. Die Antwort kam umgehend. Man begreife seine Beanstandungen nicht, der neue Patentholländer System Maier sei schon von mehreren Papierfabriken, deren Verzeichnis beiliege, aufgestellt und erprobt worden. Von einer Zurücknahme und gar von einer Rückerstattung der angezahlten 2000 Mark könne daher nicht die Rede sein, vielmehr sei der Rest der vertragsmäßigen Kaufsumme sofort zu erlegen. Diederich schrieb darauf noch entschiedener als das erstemal und drohte mit einer Klage. Büschli & Cie. versuchten nun, ihn zu beschwichtigen, sie empfahlen eine nochmalige Probe. „Sie haben Angst“, sagte Napoleon Fischer, dem Diederich das Schreiben zeigte, und er fletschte die Zähne. „Eine Klage können sie nicht brauchen, denn ihr Holländer ist noch nicht genügend eingeführt.“ „Stimmt“, sagte Diederich. „Wir haben die Kerls in der Hand!“ Und mit erbitterter Siegesgewißheit lehnte er jeden Vergleich und die angebotene Preisermäßigung schroff ab. Als dann mehrere Tage lang nichts weiter erfolgte, ward er freilich unruhig. Vielleicht warteten sie nun doch seine Klage ab? Vielleicht [pg 201]strengten sie selbst eine an! Unsicher suchte sein Blick, oftmals am Tage, Napoleon Fischer, der ihn von unten erwiderte. Sie sprachen nicht mehr miteinander. Wie aber Diederich eines Vormittags um elf Uhr beim zweiten Frühstück saß, brachte das Mädchen eine Karte: Friedrich Kienast, Prokurist der Firma Büschli & Cie., Eschweiler; und indes Diederich sie noch hin und her wendete, trat der Besucher schon ein. An der Tür blieb er stehen. „Pardon,“ sagte er, „es muß ein Irrtum sein. Man hat mich hier ins Haus gewiesen, aber ich komme nämlich geschäftlich.“
Diederich hatte sich besonnen. „Ich kann es mir denken, aber das macht nichts, bitte, treten Sie doch näher. Doktor Heßling ist mein Name. Hier ist meine Mutter und meine Schwestern Emmi und Magda.“
Der Herr trat näher und verbeugte sich vor den Damen. „Friedrich Kienast“, murmelte er. Er war groß, blondbärtig und trug einen braunen wolligen Jackettanzug. Alle drei Damen lächelten hingebend. „Darf ich für den Herrn ein Gedeck auflegen?“ fragte Frau Heßling. Und Diederich: „Natürlich. Herr Kienast frühstückt doch mit uns?“
„Ich sage nicht nein“, erklärte der Vertreter von Büschli & Cie., und er rieb sich die Hände. Magda legte ihm Bücklinge vor, die er schon lobte, während er den ersten Bissen noch auf der Gabel hatte.
Diederich fragte ihn, harmlos lachend:
„Nüchtern machen Sie wohl auch nicht gern Geschäfte?“ Herr Kienast lachte auch. „Bei den Geschäften bin ich immer nüchtern.“ Diederich schmunzelte. „Na, dann werden wir uns wohl einigen.“ „Kommt darauf an, wie“; – und Kienasts schelmisch herausfordernde Worte begleitete ein Blick an Magda. Sie errötete.
Diederich schenkte dem Gast Bier ein. „Sie haben wohl [pg 202]sonst noch was vor in Netzig?“ Worauf Kienast zurückhaltend: „Man kann nie wissen.“
Versuchsweise sagte Diederich: „Bei Klüsing in Gausenfeld werden Sie nichts machen, er hat ’ne flaue Zeit.“ Und da der andere schwieg, dachte Diederich: „Sie haben ihn bloß wegen des Holländers hergeschickt, sie können keinen Prozeß brauchen!“ Da bemerkte er, daß Magda und der Vertreter von Büschli & Cie. gleichzeitig tranken und über die Gläser hinweg einander in die Augen sahen. Emmi und Frau Heßling saßen starr dabei. Diederich beugte sich schnaufend über seinen Teller; – plötzlich aber fing er an, das Familienleben zu preisen. „Sie haben Glück, mein lieber Herr Kienast, denn das zweite Frühstück ist ausgerechnet unsere schönste Stunde am Tage. Wenn man so mitten aus der Arbeit hier herauskommt, dann merkt man doch wieder mal, daß man sozusagen auch Mensch ist. Na, und das braucht man.“
Kienast bestätigte, daß man es brauche. Frau Heßlings Frage, ob er schon verheiratet sei, verneinte er und sah dabei auf Magdas Scheitel, denn sie hatte den Kopf gesenkt.
Diederich stand auf und schlug die Hacken zusammen. „Herr Kienast,“ sagte er schnarrend, „ich stehe zu Ihrer Verfügung.“
„Eine Zigarre nimmt Herr Kienast noch“, bat Magda. Kienast ließ sie sich von ihr anzünden und hoffte, die Damen nochmals begrüßen zu können, – wobei er Magda verheißungsvoll anlächelte. Aber im Hof änderte auch er vollständig den Ton. „Na ja, das sind auch noch alte, enge Lokalitäten“, bemerkte er kalt und wegwerfend. „Sie sollten mal unsere Anlagen sehen.“
„In einem Nest wie Eschweiler,“ erwiderte Diederich, genau so verächtlich, „da ist es kein Kunststück. Reißen Sie [pg 203]mal hier den Häuserblock nieder!“ Und dann rief er im schärfsten Befehlston nach dem Maschinenmeister, damit er den neuen Holländer in Betrieb setze. Da Napoleon Fischer nicht sofort kam, stürmte Diederich hin. „Sie sitzen wohl auf Ihren Ohren, Herr?“ Aber sobald er ihm gegenüberstand, verstummte sein Geschrei; mit leiser, fliegender Stimme, die Augen angestrengt aufgerissen, sagte er: „Fischer, ich hab’ es mir überlegt, ich bin mit Ihnen zufrieden, vom Ersten ab erhöhe ich Ihr Gehalt auf hundertachtzig Mark.“ Darauf nickte Napoleon Fischer kurz und verständnisvoll, und sie trennten sich. Sogleich begann Diederich wieder zu schreien. Die Leute hatten geraucht! Sie behaupteten, es sei nur seine eigene Zigarre, die er rieche. Zu dem Vertreter von Büschli & Cie. sagte er: „Übrigens bin ich versichert, aber Zucht muß sein. Tadelloser Betrieb, wie?“
„Veraltetes Aggregat“, entgegnete Herr Kienast, mit einem lieblosen Blick auf die Maschinen. Diederich versetzte höhnisch: „Weiß ich, mein Bester. Aber so gut wie Ihr Holländer allemal.“ Trotz Kienasts Protest fuhr er fort, die Leistungsfähigkeit der einheimischen Industrie herabzusetzen. Mit seiner neuen Einrichtung warte er bis zu seiner Reise nach England. Er gehe großzügig vor. Seit er selbst an der Spitze des Betriebes stehe, sei das Geschäft mächtig im Aufschwung. „Und es ist immer noch ausdehnungsfähig.“ Er erfand. „Jetzt hab’ ich Verträge mit zwanzig Kreisblättern. Die Berliner Warenhäuser machen mich überhaupt wahnsinnig ...“ Kienast unterbrach schneidend:
„Dann haben Sie wohl gerade alles abgeliefert, denn ich sehe nirgends fertige Ware.“
Diederich empörte sich. „Herr! Soll ich Ihnen was [pg 204]sagen? Erst gestern hab’ ich an sämtliche kleinen Kunden ein Rundschreiben geschickt: bis zur Vollendung meines Neubaus könne ich nichts mehr liefern.“
Der Maschinenmeister holte die Herren. Der neue Patentholländer war halb gefüllt, aber die Stoffbewegung blieb noch sehr schwach, der Arbeiter half mit dem Rührscheit nach. Diederich hielt die Uhr in der Hand. „Na also. Sie behaupten, in Ihrem Holländer braucht der Stoff für einen Umgang zwanzig bis dreißig Sekunden: ich zähle schon fünfzig ... Maschinenmeister, den Stoff ablassen ... Was ist denn los, das dauert ja ewig!“
Kienast hatte sich über die Schale gebeugt. Er richtete sich auf, er lächelte gewitzigt. „Ja, wenn die Ventile verstopft sind ...“ Und mit einem scharfen Blick in die Augen Diederichs, die nicht standhielten: „Was sonst noch mit dem Holländer angestellt ist, kann ich in der Eile nicht sehen.“ Diederich fuhr empor, plötzlich sehr rot. „Wollen Sie mir vielleicht insinuieren, daß ich mit meinem Maschinenmeister –?“
„Ich habe nichts gesagt“, stellte Kienast fest.
„Das müßte ich mir auch energisch verbitten.“ Diederich blitzte. Auf Kienast schien es keinen Eindruck zu machen, er behielt seine kalten Augen und das abgefeimte Grinsen in seinem am Kinn auseinandergebürsteten Bart. Wenn er sich rasiert und den Schnurrbart bis zu den Augenwinkeln hinaufgebunden haben würde, er hätte Ähnlichkeit mit Diederich bekommen! Er war eine Macht! Um so drohender trat Diederich auf. „Mein Maschinenmeister ist Sozialdemokrat: daß er mir einen Gefallen tun soll, ist lachhaft. Übrigens mache ich, als Reserveoffizier, Sie auf die Folgen Ihrer Äußerung aufmerksam!“
Kienast trat in den Hof hinaus. „Lassen Sie das nur, [pg 205]Herr Doktor“, sagte er kühl. „In Geschäften bin ich nüchtern, das hab’ ich Ihnen schon beim Frühstück gesagt. Jetzt brauch’ ich Ihnen nur noch zu wiederholen, daß wir den Holländer in tadellosem Zustand geliefert haben und an Rücknahme nicht denken.“ – Das werde man sehen, erklärte Diederich. Einen Prozeß hielten Büschli & Cie. wohl für besonders wirksam, zur Einführung ihres neuen Artikels? „Ich werde Ihnen in den Fachblättern noch eine besondere Empfehlung mitgeben!“ Darauf Kienast: auf Erpressungsversuche gehe er nicht ein. Und Diederich: einen satisfaktionsunfähigen Knoten werfe man einfach hinaus. – Da erschien drüben im Haustor Magda.
Sie hatte ihr Pelzjackett von Weihnacht an, und sie lächelte rosig. „Die Herren sind noch immer nicht fertig?“ fragte sie schalkhaft. „Das Wetter ist doch so schön, man muß ein bißchen hinaus vor dem Mittagessen. A propos“, sagte sie geläufig. „Mama läßt fragen, ob Herr Kienast zum Abendessen kommt.“ Da Kienast erklärte, er müsse leider danken, lächelte sie dringlicher. „Und mir würden Sie es auch abschlagen?“ Kienast lachte bitter. „Ich würde nicht nein sagen, Fräulein. Aber weiß ich denn, ob Ihr Herr Bruder –?“ Diederich schnaufte, Magda sah ihn flehend an. „Herr Kienast“, brachte er hervor. „Es wird mich freuen. Vielleicht, daß wir uns auch noch verständigen.“ Er hoffe es, sagte Kienast, worauf er sich weltmännisch erbot, das Fräulein ein Stück zu begleiten. „Wenn mein Bruder nichts dagegen hat“, sagte sie züchtig und ironisch. Diederich erlaubte auch dies noch; – und dann sah er ihr erstaunt nach, wie sie mit dem Prokuristen von Büschli & Cie. abzog. Was die auf einmal alles konnte!
Wie er zum Mittagessen kam, hörte er drinnen im Wohnzimmer die Schwestern mit scharfen Stimmen sprechen. [pg 206]Emmi warf Magda vor, sie benehme sich schamlos. „So macht man es denn doch nicht.“ – „Nein!“ rief Magda. „Ich werde dich um Erlaubnis bitten.“ – „Das würde gar nichts schaden. Überhaupt bin ich an der Reihe!“ – „Hast du sonst noch Sorgen?“ – Und Magda schlug ein Hohngelächter an. Da Diederich eintrat, verstummte sie sofort. Diederich rollte unzufrieden die Augen; aber Frau Heßling hätte nicht nötig gehabt, hinter ihren Töchtern die Hände zu ringen: in den Weiberstreit einzugreifen, war unter seiner Würde.
Beim Essen ward von dem Gast gesprochen. Frau Heßling rühmte den soliden Eindruck, den er mache. Emmi erklärte: wenn so ein Kommis nicht einmal solide sein sollte. Mit einer Dame reden könne er überhaupt nicht. Magda behauptete entrüstet das Gegenteil. Und da alle auf Diederichs Entscheidung warteten, entschloß er sich. Komment scheine der Herr freilich nicht viel zu haben. Akademische Bildung sei eben nicht zu ersetzen. „Aber als tüchtigen Geschäftsmann hab’ ich ihn kennengelernt.“ Emmi hielt sich nicht mehr.
„Wenn Magda den Menschen heiraten will, ich erkläre, daß ich nicht mit euch verkehre. Das Kompott hat er mit dem Messer gegessen!“
„Sie lügt!“ Magda brach in Schluchzen aus. Diederich empfand Mitleid; er herrschte Emmi an:
„Heirate du bitte einen regierenden Herzog, und dann lass’ uns in Ruh’.“
Da legte Emmi Messer und Gabel hin und ging hinaus. Am Abend vor Geschäftsschluß erschien Herr Kienast im Bureau. Er trug einen Gehrock, und sein Wesen war eher gesellschaftlich als geschäftlich. Beide hielten, in stillem Einverständnis, das Gespräch hin, bis der alte Sötbier [pg 207]seine Sachen zusammenpackte. Als er sich, mit einem mißtrauischen Blick, zurückgezogen hatte, sagte Diederich:
„Den Alten habe ich auf den Aussterbeetat gesetzt. Die wichtigeren Sachen mache ich allein.“
„Na, und haben Sie sich die unsere überlegt?“ fragte Kienast.
„Und Sie?“ erwiderte Diederich. Kienast zwinkerte vertraulich.
„Meine Vollmacht reicht eigentlich nicht so weit, aber ich nehme es auf meine Kappe. Geben Sie den Holländer in Gottes Namen zurück. Ein Defekt wird sich doch wohl finden.“
Diederich begriff. Er versprach: „Sie werden ihn finden.“ Kienast sagte sachlich:
„Für unser Entgegenkommen verpflichten Sie sich, alle Ihre Maschinen vorkommendenfalls nur bei uns zu bestellen. Einen Moment!“ bat er, da Diederich auffuhr. „Und außerdem ersetzen Sie unsere Unkosten und meine Reise mit fünfhundert Mark, die wir von Ihrer Anzahlung abziehen.“
„Aber hören Sie mal, das ist Wucher!“ Diederichs Gerechtigkeitssinn empörte sich laut. Auch Kienast erhob schon wieder die Stimme. „Herr Doktor!...“ Diederich faßte sich gewaltsam, er legte dem Prokuristen die Hand auf die Schulter. „Gehen wir jetzt nur hinauf, die Damen warten.“ „Wir hatten uns so weit ganz gut verstanden“, meinte Kienast besänftigt. „Die kleine Differenz wird sich auch noch aufklären“, verhieß Diederich.
Droben roch es festlich. Frau Heßling glänzte mit ihrem schwarzen Atlaskleid. Durch Magdas Spitzenbluse schimmerte mehr hindurch, als sie sonst im Familienkreis zum besten gab. Nur Emmis Anzug und Miene waren grau und alltäglich. Magda wies dem Gast seinen Platz an und [pg 208]ließ sich zu seiner Rechten nieder; und als man eben erst saß und sich noch räusperte, sagte sie schon, mit fieberhaft belebten Augen: „Jetzt sind die Herren aber mit den dummen Geschäften fertig.“ Diederich bestätigte, sie seien glänzend miteinander fertig geworden. Büschli & Cie. seien kulante Leute.
„Bei unserem Riesenbetrieb“, erklärte der Prokurist. „Zwölfhundert Arbeiter und Beamte, eine ganze Stadt mit einem eigenen Hotel für die Kunden.“ Er lud Diederich ein. „Kommen Sie nur, bei uns leben Sie vornehm und umsonst.“ Und da Magda neben ihm an seinen Lippen hing, rühmte er seine Stellung, seine Machtbefugnisse, die Villa, die er zur Hälfte bewohnte. „Wenn ich mich verheirate, kriege ich auch die andere Hälfte.“
Diederich lachte dröhnend. „Dann wäre es wohl das einfachste, Sie heirateten. Na prost!“
Magda schlug die Augen nieder, und Herr Kienast ging zu etwas anderem über. Ob Diederich auch wisse, warum er ihm so leicht entgegengekommen sei? „Ihnen, Herr Doktor, hab’ ich nämlich gleich angesehen, daß mit Ihnen später noch große Sachen zu machen sein werden, – wenn es hier jetzt auch noch etwas kleine Verhältnisse sind“, setzte er nachsichtig hinzu. Diederich wollte seine Großzügigkeit und die Ausdehnungsfähigkeit seines Unternehmens beteuern, aber Kienast ließ sich seinen Gedankengang nicht abschneiden. Menschenkenntnis sei nämlich seine Spezialität. Einen Geschäftsfreund müsse man vor allem auch in seinem Heim aufsuchen. „Wenn da alles so wohl bestellt ist wie hier –“
Gerade ward die duftende Gans aufgetragen, nach der Frau Heßling schon mehrmals heimlich ausgeblickt hatte. Schnell gab sie sich eine Miene, als sei die Gans eine höchst [pg 209]gewöhnliche Erscheinung. Herr Kienast machte trotzdem eine anerkennende Pause. Frau Heßling fragte sich, ob sein Blick wirklich auf der Gans oder, hinter ihrem süßen Qualm, auf Magdas durchbrochener Bluse ruhe. Jetzt riß er sich los und ergriff sein Glas. „Und darum: auf die Familie Heßling, auf die verehrte mütterliche Hausfrau und ihre blühenden Töchter!“ Magda wölbte die Brust, um das Blühen anschaulicher zu machen, und um so flacher sah Emmi aus. Auch stieß Herr Kienast zuerst mit Magda an.
Diederich erwiderte seinen Toast. „Wir sind eine deutsche Familie. Wen wir in unser Haus aufgenommen haben, den nehmen wir auch in unsere Herzen auf.“ Er hatte Tränen in den Augen, indes Magda wieder einmal errötete. „Und wenn es auch nur ein bescheidenes Haus ist, die Herzen sind treu.“ Er ließ den Gast hochleben, der seinerseits versicherte, er sei immer für Bescheidenheit gewesen, „besonders in Familien, wo junge Mädchen sind.“
Frau Heßling griff ein. „Nicht wahr? Woher soll denn sonst ein junger Mann den Mut nehmen –? Meine Töchter schneidern alles selbst.“ Dies war für Herrn Kienast das Stichwort, sich über Magdas Bluse zu beugen behufs eingehender Würdigung.
Zum Nachtisch schälte sie ihm eine Apfelsine und nippte ihm zu Ehren vom Tokaier. Wie man dann ins Wohnzimmer ging, blieb Diederich, die Arme um seine beiden Schwestern geschlungen, in der Tür stehen. „Ja, ja, Herr Kienast“, sagte er mit tiefer Stimme. „Das ist der Familienfriede, den sehen Sie sich nur an, Herr Kienast!“ Magda schmiegte sich, ganz Hingebung, an seine Schulter. Da Emmi von ihm fortstrebte, bekam sie rückwärts einen Stoß. „So geht es immer bei uns zu“, fuhr Diederich fort. „Ich arbeite den ganzen Tag für die Meinen, und der [pg 210]Abend vereint uns dann hier beim Lampenschimmer. Um die Leute da draußen und den Klüngel unserer sogenannten Gesellschaft bekümmern wir uns so wenig wie möglich, wir haben an uns selbst genug.“
Hier gelang es Emmi, sich loszumachen; man hörte sie draußen eine Tür zuschlagen. Ein um so zärtlicheres Bild boten Diederich und Magda, wie sie sich am mild beglänzten Tisch niederließen. Herr Kienast sah nachdenklich den Punsch kommen, den Frau Heßling in mächtiger Bowle still lächelnd hereintrug. Indes Magda dem Gast das Glas füllte, setzte Diederich auseinander, daß er dank dieser Beschränkung auf die stille Häuslichkeit imstande sein werde, seine Schwestern einmal gut zu verheiraten. „Denn der Aufschwung des Geschäftes kommt den Mädchen zugut, die Fabrik gehört ihnen mit, ganz abgesehen von der baren Mitgift; na, und wenn dann einer meiner künftigen Schwäger auch noch sein Kapital in den Betrieb stecken will –“
Aber Magda, die Herrn Kienasts Miene besorgt werden sah, lenkte ab. Sie fragte ihn nach seiner eigenen Familie und ob er denn ganz allein sei. Da bekam er gerührte Augen und rückte näher. Diederich saß dabei, trank und drehte die Daumen. Mehrmals versuchte er noch teilzunehmen an dem Gespräch der beiden, die sich ganz allein zu fühlen schienen. „Na, dann haben Sie also glücklich Ihren Einjährigen gemacht“, sagte er gönnerhaft und wunderte sich dabei über die Zeichen, die Frau Heßling hinter dem Rücken der anderen ihm gab. Erst als sie sich aus der Tür schlich, begriff er, nahm sein Punschglas und ging in das dunkle Nebenzimmer zum Klavier. Er tastete ein wenig darauf umher, geriet unversehens in die Burschenlieder und sang dröhnend mit: „Sie wissen den Teufel, was Freiheit heißt.“ Als er fertig war, horchte er [pg 211]hinüber; es war drinnen aber so still, als sei man eingeschlafen; und obwohl er sich gern wieder etwas aus der Bowle geschöpft hätte, stimmte er doch aus Pflichtgefühl von neuem an: „Im tiefen Keller sitz’ ich hier.“