Читать книгу Gesammelte Werke - Heinrich Mann - Страница 9

Оглавление

Erhobenen Hauptes verließ er die Fabrik. Im schwarzen Rock machte er sich auf, um den wichtigsten Herren der Stadt die Aufmerksamkeit seines Besuches zu erweisen. Von der Meisestraße konnte er, um zum Bürgermeister Doktor Scheffelweis in die Schweinichenstraße zu gelangen, einfach der Wuchererstraße folgen, die jetzt Kaiser-Wilhelm-Straße hieß. Er wollte es auch; im entscheidenden Augenblick aber, wie auf eine Verabredung, die er vor sich selbst geheimgehalten hätte, bog er dennoch in die Fleischhauergrube ein. Die zwei Stufen vor dem Hause des alten Herrn Buck waren abgewetzt von den Füßen der ganzen Stadt und von den Vorgängern dieser [pg 121]Füße. Der Klingelzug an der gelben Glastür bewirkte drinnen ein langes Rasseln im Leeren. Dann ging dort hinten eine Tür auf, und die alte Magd schlich über die Diele. Aber sie war noch längst nicht angelangt, da trat vorn der Hausherr aus seinem Bureau und öffnete selbst. Er zog Diederich, der sich eifrig verbeugte, bei der Hand herein.

„Mein lieber Heßling! Ich habe Sie erwartet, man hatte mir Ihre Ankunft berichtet. Willkommen denn in Netzig, mein Herr Doktor.“

Sofort hatte Diederich Tränen in den Augen und stammelte:

„Sie sind zu gütig, Herr Buck. Natürlich habe ich zuerst und vor allem Ihnen, Herr Buck, meine Aufwartung machen wollen und Ihnen versichern, daß ich immer ganz – daß ich immer ganz – zu Ihren Diensten stehe“, schloß er, freudig wie ein guter Schüler. Der alte Herr Buck hielt ihn noch fest, mit seiner Hand, die warm und dennoch leicht und weich war.

„Dienste –“ er schob Diederich selbst den Sessel zurecht, „die wollen Sie doch natürlich nicht mir leisten, sondern Ihren Mitbürgern – die es Ihnen danken werden. Zum Stadtverordneten werden Ihre Mitbürger Sie in kurzem wählen, das glaube ich Ihnen versprechen zu können, denn damit belohnen sie eine verdiente Familie. Und dann“ – der alte Buck beschrieb eine Gebärde feierlicher Freigebigkeit „– verlasse ich mich auf Sie, daß Sie es uns recht bald ermöglichen werden, Sie im Magistrat zu begrüßen.“

Diederich verbeugte sich, beglückt lächelnd, als werde er schon begrüßt. „Die Gesinnung unserer Stadt,“ fuhr Herr Buck fort, „ich sage nicht, daß sie in allen Teilen gut [pg 122]ist –“ Er versenkte seinen weißen Knebelbart in die seidene Halsbinde. „Aber noch ist Raum“ – der Bart tauchte wieder auf – „und will’s Gott noch lange, für wahrhaft liberale Männer.“

Diederich beteuerte: „Ich bin selbstverständlich durchaus liberal.“

Darauf strich der alte Buck über die Papiere auf seinem Schreibtisch. „Ihr seliger Vater hat mir hier oft gegenüber gesessen, und besonders häufig damals, als er die Papiermühle errichtete. Dabei konnte ich ihm zu meiner großen Freude förderlich sein. Es handelte sich um den Bach, der jetzt durch Ihren Hof fließt.“

Diederich sagte mit tiefer Stimme: „Wie oft, Herr Buck, hat mein Vater mir erzählt, daß er den Bach, ohne den wir gar nicht existieren könnten, nur Ihnen verdankt.“

„Nur mir, dürfen Sie nicht sagen, sondern den gerechten Zuständen unseres Gemeinwesens, an denen aber –“ der alte Herr Buck erhob seinen weißen Zeigefinger, er sah Diederich tief an, „gewisse Leute und eine gewisse Partei manches ändern würden, sobald sie könnten.“ Stärker und mit Pathos: „Der Feind steht vor dem Tore, es heißt zusammenhalten.“

Er ließ eine Pause verstreichen und sagte in leichterem Ton, sogar mit einem kleinen Schmunzeln: „Sind Sie nicht, mein werter Herr Doktor, in einer ähnlichen Lage, wie damals Ihr Vater? Sie wollen sich vergrößern? Sie haben Pläne?“

„Allerdings.“ Und Diederich setzte eifrig auseinander, was alles geschehen müsse. Der Alte hörte ihm aufmerksam zu, er nickte, nahm eine Prise ... Endlich sagte er: „Ich sehe so viel, daß der Umbau Ihnen nicht nur große Kosten, sondern unter Umständen auch Schwierigkeiten [pg 123]mit der städtischen Baupolizei verursachen wird – mit der ich übrigens im Magistrat zu tun habe. Nun überzeugen Sie sich, mein lieber Heßling, was hier auf meinem Schreibtisch liegt.“

Da erkannte Diederich einen genauen Aufriß seines Grundstückes, samt dem dahinter gelegenen. Sein verblüfftes Gesicht bewirkte bei dem alten Buck ein Lächeln der Genugtuung. „Ich kann wohl dafür sorgen,“ sagte er, „daß keine erschwerenden Umstände eintreten.“ Und auf Diederichs Danksagungen: „Wir dienen dem großen Ganzen, wenn wir jedem unserer Freunde vorwärtshelfen. Denn die Freunde einer Volkspartei sind alle, außer den Tyrannen.“

Nach diesen Worten lehnte der alte Buck sich tiefer in den Sessel und faltete die Hände. Seine Miene hatte sich entspannt, er wiegte den Kopf wie ein Großvater. „Als Kind hatten Sie so schöne blonde Locken“, sagte er.

Diederich begriff, daß der offizielle Teil des Gespräches beendet sei. „Ich weiß noch,“ erlaubte er sich zu sagen, „wie ich als kleiner Junge hier ins Haus kam, wenn ich mit Ihrem Herrn Sohn Wolfgang Soldaten spielte.“

„Ja, ja. Und jetzt spielt er wieder Soldat.“

„Oh! Er ist sehr beliebt bei den Offizieren. Er hat es mir selbst gesagt.“

„Ich wünschte, mein lieber Heßling, er hätte mehr von Ihrer praktischen Veranlagung.... Nun, er wird ruhiger werden, wenn ich ihn erst verheiratet habe.“

„Ich glaube,“ sagte Diederich, „daß Ihr Herr Sohn etwas Geniales hat. Daher ist er mit nichts zufrieden, er weiß nicht, ob er General werden soll oder sonst ein großer Mann.“

„Inzwischen macht er leider dumme Streiche.“ Der [pg 124]Alte sah aus dem Fenster. Diederich wagte seine Neugier nicht zu zeigen.

„Dumme Streiche? Das kann ich gar nicht glauben, denn mir hat er immer imponiert, gerade durch seine Intelligenz. Schon früher, seine Aufsätze. Und was er mir neulich über unseren Kaiser gesagt hat, daß er eigentlich gern der erste Arbeiterführer wäre....“

„Davor behüte Gott die Arbeiter.“

„Wieso?“ Diederich war tieferstaunt.

„Weil es ihnen schlecht bekommen würde. Uns anderen ist es auch nicht gut bekommen.“

„Aber wir haben doch, dank den Hohenzollern, das einige Deutsche Reich.“

„Wir haben es nicht“, sagte der alte Buck und stand ungewöhnlich rasch vom Stuhl auf. „Denn wir müßten, um unsere Einigkeit zu beweisen, einem eigenen Willen folgen können; und können wir’s? Ihr wähnt euch einig, weil die Pest der Knechtschaft sich verallgemeinert! Das hat Herwegh, ein Überlebender wie ich, im Frühjahr Einundsiebzig den Siegestrunkenen zugerufen. Was würde er heute sagen!“

Diederich konnte, vor dieser Stimme aus dem Jenseits, nur stammeln: „Ach ja, Sie sind ein Achtundvierziger.“

„Mein lieber junger Freund, Sie wollen sagen, ein Narr und ein Besiegter. Ja! Wir sind besiegt worden, weil wir närrisch genug waren, an dieses Volk zu glauben. Wir glaubten, es würde alles das selbst vollbringen, was es jetzt für den Preis der Unfreiheit von seinen Herren entgegennimmt. Wir dachten es mächtig, reich, voll Einsicht in seine eigenen Angelegenheiten und der Zukunft ergeben. Wir sahen nicht, daß es, ohne politische Bildung, deren es weniger hat als alle anderen, bestimmt sei, nach [pg 125]seinem Aufschwung den Mächten der Vergangenheit anheimzufallen. Schon zu unserer Zeit gab es allzu viele, die unbekümmert um das Ganze, ihren Privatinteressen nachjagten und zufrieden waren, wenn sie in irgendeiner Gnadensonne sich wärmend, den unedlen Bedürfnissen eines anspruchsvollen Genußlebens genügen konnten. Seitdem sind sie Legion geworden, denn die Sorge um das öffentliche Wohl ist ihnen abgenommen. Zur Großmacht haben eure Herren euch schon gemacht, und indes ihr Geld verdient, wie ihr könnt, und es ausgebt, wie ihr mögt, werden sie euch – oder vielmehr sich – auch noch die Flotte bauen, die wir damals uns selbst gebaut haben würden. Unser Dichter damals wußte, was ihr erst jetzt lernen sollt: Und in den Furchen, die Kolumb gezogen, geht Deutschlands Zukunft auf!“

„Bismarck hat eben wirklich etwas getan“, sagte Diederich, leise triumphierend.

„Das ist es gerade, daß er es hat tun dürfen! Und dabei hat er alles nur faktisch getan, formell aber im Namen seines Herrn. Da waren wir Bürger von achtundvierzig ehrlicher, das darf ich sagen, denn ich habe damals selbst bezahlt, was ich gewagt hatte.“

„Ich weiß wohl, Sie sind zum Tode verurteilt worden“, sagte Diederich, wieder eingeschüchtert.

„Ich bin verurteilt worden, weil ich die Souveränität der Nationalversammlung gegen eine Partikularmacht verteidigte und das Volk, das sich in Notwehr befand, zum Aufstand führte. So war in unseren Herzen die deutsche Einheit: sie war eine Gewissenspflicht, die eigene Schuld jedes einzelnen, für die er einstand. Nein! Wir huldigten keinem sogenannten Schöpfer der deutschen Einheit. Als ich damals, besiegt und verraten, hier oben [pg 126]im Hause mit meinen letzten Freunden die Soldaten des Königs erwartete, da war ich, groß oder gering, ein Mensch, der selbst am Ideal schuf: einer aus vielen, aber ein Mensch. Wo sind sie heute?“

Der Alte hielt an und machte ein Gesicht, als lauschte er. Diederich war es schwül. Er fühlte, daß er zu dem allen nicht länger schweigen dürfe. Er sagte: „Das deutsche Volk ist eben, Gott sei Dank, nicht mehr das Volk der Denker und Dichter, es strebt modernen und praktischen Zielen zu.“ Der Alte kehrte aus seinen Gedanken zurück, er deutete nach der Zimmerdecke.

„Damals war die ganze Stadt bei mir zu Hause. Jetzt ist es so einsam wie nie, zuletzt ging noch Wolfgang fort. Ich würde alles dahingeben, aber, junger Mann, wir sollen Respekt haben vor unserer Vergangenheit – auch wenn wir besiegt worden sind.“

„Zweifellos“, sagte Diederich. „Und dann sind Sie immer noch der mächtigste Mann in der Stadt. Die Stadt, sagt man immer, gehört dem Herrn Buck.“

„Das will ich aber gar nicht, ich will, daß sie sich selbst gehört.“ Er atmete tief aus. „Das ist eine weitläufige Sache, Sie werden sie allmählich kennenlernen, wenn Sie Einblick in unsere Verwaltung bekommen. Wir werden nämlich jeden Tag heftiger bedrängt von der Regierung und ihren junkerlichen Auftraggebern. Heute will man uns zwingen, den Gutsbesitzern, die uns keine Steuern zahlen, unser Licht zu geben, morgen werden wir ihnen Straßen bauen müssen. Zuletzt geht es um unsere Selbstverwaltung. Sie werden sehen, wir leben in einer belagerten Stadt.“

Diederich lächelte überlegen. „So schlimm kann es wohl nicht sein, denn unser Kaiser ist doch eine so moderne Persönlichkeit.“

„Nun ja“, sagte der alte Buck. Er erhob sich, wiegte den Kopf – und dann zog er es vor, zu schweigen. Er reichte Diederich die Hand.

„Mein lieber Doktor, Ihre Freundschaft wird mir gerade so wertvoll sein, als die Ihres Vaters mir war. Nach unserer Unterredung habe ich die Hoffnung, daß wir in allem einig gehen werden.“

Unter dem warmen blauen Blick des Alten schlug Diederich sich auf die Brust. „Ich bin ein durchaus liberaler Mann!“

„Vor allem warne ich Sie vor dem Regierungspräsidenten von Wulckow. Er ist der Feind, der uns hier in die Stadt gesetzt worden ist. Der Magistrat unterhält nur die unumgänglichen Beziehungen zum Präsidenten. Ich selbst habe die Ehre, von dem Herrn nicht gegrüßt zu werden.“

„Oh!“ machte Diederich, ehrlich erschüttert.

Der alte Buck öffnete ihm schon die Tür, schien aber noch etwas zu überlegen. „Warten Sie!“ Er trat eilig zu seiner Bibliothek, bückte sich und tauchte aus einer staubigen Tiefe mit einem kleinen, fast quadratischen Buch auf. Er steckte es Diederich rasch zu, verstohlenen Glanz in seinem Gesicht, das errötet war. „Da, nehmen Sie! Es sind meine ‚Sturmglocken‘! Man war auch Dichter – damals.“ Und er schob Diederich sanft hinaus.

Die Fleischhauergrube stieg beträchtlich an, aber Diederich schnaufte nicht nur deshalb. Nachdem er zuerst nur eine gewisse Betäubung empfunden hatte, stellte sich allmählich das Gefühl heraus, daß er sich habe verblüffen lassen. „So ein alter Schwätzer ist doch bloß noch eine Vogelscheuche, und mir imponiert er!“ Unbestimmt gedachte er der Kinderzeit, als ihm der alte Herr Buck, [pg 128]der zum Tode verurteilt worden war, ebensoviel Hochachtung und ein ähnliches Grausen einflößte wie der Polizist an der Ecke oder das Burggespenst. „Werd’ ich denn ewig so weich bleiben? Ein anderer hätte sich nicht so behandeln lassen!“ Auch konnte es peinliche Folgen haben, daß er zu so vielen kompromittierenden Reden geschwiegen oder nur matt widersprochen hatte. Er legte sich energische Antworten zurecht, für das nächste Mal. „Das Ganze war eine Falle! Er hat mich einfangen und unschädlich machen wollen ... Aber er soll sehen!“ Diederich ballte die Faust in der Tasche, indes er stramm durch die Kaiser-Wilhelm-Straße ging. „Vorläufig muß man sich noch mit ihm verhalten, aber wehe, wenn ich der Stärkere bin!“

Das Haus des Bürgermeisters war mit Ölfarbe neu gestrichen, und die Spiegelscheiben glänzten wie je. Ein nettes Stubenmädchen empfing ihn. Über eine Treppe mit einem freundlichen Knaben aus Biskuit, der eine Lampe trug, und durch ein Vorzimmer, worin fast vor jedem Möbel ein kleiner Teppich lag, ward Diederich in das Eßzimmer geführt. Es war aus hellem Holz mit appetitlichen Bildern, zwischen denen der Bürgermeister und noch ein Herr beim zweiten Frühstück saßen. Doktor Scheffelweis reichte Diederich seine weißliche Hand hin und musterte ihn dabei über den Klemmer weg. Trotzdem wußte man nie genau, ob er einen ansah, so unbestimmt war der Blick seiner Augen, die farblos schienen wie das Gesicht und die seitwärts fliehenden, dünnen Bartkoteletts. Der Bürgermeister setzte mehrmals zum Sprechen an, bis er endlich etwas fand, das man auf alle Fälle sagen konnte. „Schöne Schmisse“, sagte er; und zu dem anderen Herrn: „Finden Sie nicht?“

Der andere Herr legte Diederich zunächst große Zurückhaltung auf, denn er sah stark jüdisch aus. Aber der Bürgermeister stellte vor: „Herr Assessor Jadassohn, von der Staatsanwaltschaft“ – was dann allerdings eine vollwertige Begrüßung nötig machte.

„Setzen Sie sich nur gleich,“ sagte der Bürgermeister, „wir fangen gerade an.“ Er schenkte Diederich Porter ein und legte ihm Lachsschinken vor. „Meine Frau und meine Schwiegermutter sind ausgegangen, die Kinder in der Schule, dies ist die Stunde des Junggesellen, prost!“

Der jüdische Herr von der Staatsanwaltschaft hatte vorläufig nur für das Stubenmädchen Augen. Während sie neben ihm am Tisch zu tun hatte, war seine Hand verschwunden. Dann ging sie, und er wollte von öffentlichen Angelegenheiten beginnen, aber der Bürgermeister ließ sich nicht unterbrechen. „Die beiden Damen kommen vor dem Mittagessen nicht zurück, denn meine Schwiegermutter ist beim Zahnarzt. Ich kenne das, es kostet Mühe mit ihr, und inzwischen gehört uns das Haus.“ Er holte einen Likör aus dem Büfett, rühmte ihn, ließ sich seine Güte von den Gästen bestätigen und fuhr fort, eintönig und vom Kauen unterbrochen, das Idyll seiner Vormittage zu preisen. Allmählich ward, in allem Glück, seine Miene immer besorgter, er fühlte wohl, das Gespräch könne so nicht weitergehen; und nachdem eine Minute lang alle geschwiegen hatten, entschloß er sich.

„Ich darf annehmen, Herr Doktor Heßling –: mein Haus liegt ja nicht in nächster Nachbarschaft des Ihren, und so würde ich es durchaus begreiflich finden, wenn Sie vor mir einige andere Herren aufgesucht hätten.“

Diederich errötete schon für die Lüge, die er noch nicht ausgesprochen hatte. „Es würde herauskommen“, dachte [pg 130]er noch rechtzeitig, und er sagte: „Tatsächlich habe ich mir erlaubt –. Das heißt, natürlich war mein erster Weg zu Ihnen, Herr Bürgermeister. Nur im Andenken an meinen Vater, der eine so große Verehrung für den alten Herrn Buck hatte –“

„Begreiflich, durchaus begreiflich.“ Der Bürgermeister nickte mit Nachdruck. „Herr Buck ist der älteste unter unseren verdienten Bürgern und übt daher einen zweifellos legitimen Einfluß aus.“

„Vorläufig noch!“ sagte mit unerwartet scharfer Stimme der jüdische Herr von der Staatsanwaltschaft und sah Diederich herausfordernd an. Der Bürgermeister hatte sich über seinen Käse gebeugt, Diederich fand sich schutzlos, er blinzelte. Da der Blick des Herrn durchaus ein Bekenntnis verlangte, brachte er etwas hervor von „eingefleischtem Respekt“ und führte sogar Kindheitserinnerungen an, die es entschuldigen sollten, daß er zuerst bei Herrn Buck gewesen war. Dabei betrachtete er schreckerfüllt die ungeheuren, roten und weit abstehenden Ohren des Herrn von der Staatsanwaltschaft. Dieser ließ Diederich fertig stammeln, wie einen Angeklagten, der sich verfing; endlich versetzte er schneidend:

„Der Respekt ist in gewissen Fällen dazu da, daß man sich ihn abgewöhnt.“

Diederich stutzte; dann entschloß er sich zu einem verständnisvollen Gelächter. Der Bürgermeister sagte mit blassem Lächeln und einer versöhnlichen Geste:

„Herr Assessor Doktor Jadassohn ist nun einmal gern geistreich, – was ich persönlich ganz besonders an ihm schätze. In meiner Stellung freilich bin ich genötigt, die Dinge objektiv und voraussetzungslos zu betrachten. Und da muß ich denn sagen: einerseits ...“

„Kommen wir gleich zum Andererseits!“ verlangte Assessor Jadassohn. „Für mich als Vertreter einer staatlichen Behörde wie als überzeugten Anhänger der bestehenden Ordnung sind dieser Herr Buck und sein Genosse, der Reichstagsabgeordnete Kühlemann, nach ihrer Vergangenheit und Gesinnung einfach Umstürzler, und damit fertig. Ich mache aus meinem Herzen keine Mördergrube, ich halte das nicht für deutsch. Volksküchen gründen, meinetwegen; aber das beste Futter für das Volk ist eine gute Gesinnung. Eine Idiotenanstalt mag auch ganz nützlich sein.“

„Aber nur eine kaisertreue!“ ergänzte Diederich. Der Bürgermeister machte beschwichtigende Zeichen. „Meine Herren!“ flehte er. „Meine Herren! Wenn wir uns denn aussprechen sollen, so ist es gewiß richtig, daß bei aller bürgerlichen Hochschätzung der genannten Herren andererseits doch –“

„Andererseits!“ wiederholte Jadassohn streng.

„– das tiefste Bedauern zurückbleibt über unsere leider so ungünstigen Beziehungen zu den Vertretern der Staatsregierung – wenn ich auch zu bedenken bitte, daß die ungewöhnliche Schärfe des Herrn Regierungspräsidenten von Wulckow gegenüber den städtischen Behörden –“

„Gegenüber schlecht gesinnten Körperschaften!“ warf Jadassohn ein. Diederich erlaubte sich: „Ich bin ein durchaus liberaler Mann, aber das muß ich sagen –“

„Eine Stadt,“ erklärte der Assessor, „die sich den berechtigten Wünschen der Regierung verschließt, darf allerdings nicht darüber erstaunen, daß ihr die kalte Schulter gezeigt wird.“

„Von Berlin nach Netzig“, versicherte Diederich, „könnte man in der halben Zeit fahren, wenn wir besser mit den Herren oben ständen.“

Der Bürgermeister ließ sie ihr Duett beenden, er war bleich und hielt hinter dem Klemmer die Lider gesenkt. Plötzlich sah er sie an mit einem dünnen Lächeln.

„Meine Herren, bemühen Sie sich nicht, ich weiß, daß es eine zeitgemäßere Gesinnung gibt als die von den städtischen Behörden bekundete. Glauben Sie, bitte, daß es nicht mein Verschulden war, wenn an Seine Majestät gelegentlich ihrer letzten Anwesenheit in der Provinz, während der vorjährigen Manöver, kein Huldigungstelegramm geschickt worden ist ...“

„Die Weigerung des Magistrats war durchaus undeutsch“, stellte Jadassohn fest.

„Das nationale Banner muß hochgehalten werden“, verlangte Diederich. Der Bürgermeister erhob die Arme.

„Meine Herren, das weiß ich. Aber ich bin nur der Vorsitzende des Magistrats und muß leider seine Beschlüsse ausführen. Ändern Sie die Verhältnisse! Herr Doktor Jadassohn erinnert sich noch an unseren Streit mit der Regierung wegen des sozialdemokratischen Lehrers Rettich. Ich konnte den Mann nicht maßregeln. Herrn von Wulckow ist bekannt,“ – der Bürgermeister kniff ein Auge zu – „daß ich es sonst getan haben würde.“

Man schwieg eine Weile und betrachtete einander. Jadassohn blies durch die Nase, als genügte ihm das Gehörte. Aber Diederich konnte nicht länger an sich halten. „Die Vorfrucht der Sozialdemokratie ist der Liberalismus“! rief er. „Solche Leute wie Buck, Kühlemann und Eugen Richter machen unsere Arbeiter frech. Mein Betrieb legt mir die schwersten Opfer an Arbeit und Verantwortung auf, und dann hab’ ich noch Konflikte mit meinen Leuten. Und warum? Weil wir nicht einig sind gegen die rote Gefahr und es gewisse Arbeitgeber gibt, [pg 133]die im sozialistischen Fahrwasser schwimmen, wie zum Beispiel der Schwiegersohn des Herrn Buck. Was seine Fabrik einbringt, daran beteiligt der Herr Lauer seine Arbeiter. Das ist unmoralisch!“ Hier blitzte Diederich. „Denn es untergräbt die Ordnung, und ich stehe auf dem Standpunkt, in dieser harten Zeit haben wir Ordnung nötiger als je, und darum brauchen wir ein festes Regiment, wie unser herrlicher junger Kaiser es führt. Ich erkläre, daß ich in allem fest zu Seiner Majestät stehe ...“ Hier machten die beiden anderen Herren eine Verbeugung, die Diederich entgegennahm, indes er weiterblitzte. Im Gegensatz zu dem demokratischen Mischmasch, an den die absterbende Generation noch glaube, sei der Kaiser der Vertreter der Jugend, die persönlichste Persönlichkeit, von erfreulicher Impulsivität und ein höchst origineller Denker. „Einer soll Herr sein! Auf allen Gebieten!“ Diederich legte das vollständige Bekenntnis einer scharfen und schneidigen Gesinnung ab und erklärte, daß mit dem alten freisinnigen Schlendrian auch in Netzig von Grund aus aufgeräumt werden müsse.

„Jetzt kommt eine neue Zeit!“

Jadassohn und der Bürgermeister hörten still zu, bis er alles herausgesagt hatte; Jadassohns Ohren wurden dabei noch größer. Dann krähte er: „Auch in Netzig gibt es kaisertreue Deutsche!“ Und Diederich noch lauter: „Die aber, die es nicht sind, werden wir uns einmal näher ansehen. Es wird sich zeigen, ob gewissen Familien die Stellung, die sie einnehmen, noch zukommt. Vom alten Buck zu schweigen: wer sind denn seine Leute? Die Söhne verbauert oder verbummelt, ein Schwiegersohn, der Sozialist ist, und die Tochter soll ja –“

Man sah einander an. Der Bürgermeister kicherte und [pg 134]rötete sich blaß. Vor Vergnügen platzte er aus: „Und die Herren wissen noch gar nicht, daß der Bruder des Herrn Buck pleite ist!“

Man äußerte lärmende Genugtuung. Der mit den fünf eleganten Töchtern! Der Vorsitzende der „Harmonie“! Aber zu essen, das wußte Diederich, bekamen sie aus der Volksküche. Daraufhin schenkte der Bürgermeister nochmals Schnäpse ein und reichte Zigarren. Er zweifelte plötzlich nicht mehr, daß ein Umschwung bevorstehe. „In anderthalb Jahren sind die Neuwahlen zum Reichstag. Bis dahin werden die Herren arbeiten müssen.“

Diederich schlug vor: „Betrachten wir drei uns schon jetzt als das engere Wahlkomitee!“

Jadassohn erklärte es für die erste Notwendigkeit, Fühlung zu nehmen mit dem Herrn Regierungspräsidenten von Wulckow. „Streng vertraulich“, setzte der Bürgermeister hinzu und zwinkerte. Diederich bedauerte, daß die „Netziger Zeitung“, das größte Organ der Stadt, sich im freisinnigen Fahrwasser bewege. „So ein Judenblatt!“ sagte Jadassohn. Wohingegen das regierungstreue Kreisblatt in der Stadt fast ohne Einfluß sei. Aber der alte Klüsing in Gausenfeld lieferte das Papier für beide Blätter. Es schien Diederich nicht unmöglich, durch ihn, der in der „Netziger Zeitung“ Geld hatte, ihre Haltung zu beeinflussen. Er mußte Angst bekommen, sonst das Kreisblatt zu verlieren. „Denn es gibt ja noch eine Papierfabrik in Netzig“, sagte der Bürgermeister und schmunzelte. Da trat das Zimmermädchen ein und verkündete, sie müsse nun den Tisch zum Mittagessen decken; die gnädige Frau werde gleich zurück sein – „und auch die Frau Hauptmann“, setzte sie hinzu. Bei der Nennung dieses Titels erhob der Bürgermeister sich sofort. Wie [pg 135]er seine Gäste hinausgeleitete, hielt er den Kopf gesenkt und war, trotz der genossenen Schnäpse, ganz milchfarben. Auf der Treppe zog er Diederich am Ärmel. Jadassohn war zurückgeblieben, und man hörte das Mädchen leise kreischen. An der Haustür läutete es schon.

„Mein lieber Herr Doktor,“ wisperte der Bürgermeister, „Sie haben mich doch nicht mißverstanden. Bei alledem habe ich natürlich einzig das Interesse der Stadt im Auge. Mir liegt es selbstverständlich ganz fern, irgend etwas zu unternehmen, worin ich mich nicht einig weiß mit den Körperschaften, an deren Spitze zu stehen ich die Ehre habe.“

Er blinzelte eindringlich. Bevor Diederich sich besonnen hatte, betraten die Damen das Haus, und der Bürgermeister ließ Diederichs Ärmel los, um ihnen entgegenzueilen. Seine Frau, verhutzelt und mit Sorgenfalten, hatte kaum Zeit, die Herren zu begrüßen; sie mußte die Kinder trennen, die einander prügelten. Ihre Mutter aber, einen Kopf höher und noch jugendlich, musterte streng die geröteten Gesichter der Frühstücksgäste. Dann schritt sie junonisch auf den Bürgermeister zu, den man kleiner werden sah ... Assessor Dr. Jadassohn hatte sich schon von dannen gemacht, Diederich vollführte formelle Verbeugungen, die unerwidert blieben, und eilte hinterdrein. Ihm war aber beklommen, er sah unruhig auf der Straße umher, hörte nicht, was Jadassohn sagte, und plötzlich kehrte er um. Er mußte mehrmals und heftig läuten, denn drinnen war großer Lärm. Die Herrschaften standen noch am Fuße der Treppe, auf der die Kinder sich schreiend umherstießen, und sie debattierten. Die Frau Bürgermeister wünschte, daß ihr Gatte beim Schuldirektor etwas gegen einen Oberlehrer unternehme, der ihren Sohn schlecht behandelte. Dagegen forderte die Frau Hauptmann [pg 136]von ihrem Schwiegersohn, er solle den Oberlehrer zum Professor ernennen, denn seine Frau habe den größten Einfluß im Vorstand der Bethlehemstiftung für gefährdete Mädchen. Der Bürgermeister beschwor sie abwechselnd mit den Händen. Endlich konnte er ein Wort anbringen.

„Einerseits ...“, sagte er.

Aber da hatte Diederich ihn am Ärmel ergriffen. Nach vielen Entschuldigungen in der Richtung der Damen zog er ihn beiseite, und er flüsterte bebend: „Verehrter Herr Bürgermeister, es liegt mir daran, Mißverständnissen vorzubeugen. Ich darf daher wiederholen, daß ich ein durchaus liberaler Mann bin.“

Doktor Scheffelweis versicherte flüchtig, daß er hiervon gerade so überzeugt sei wie von seiner eigenen, gut liberalen Gesinnung. Schon ward er abgerufen, und Diederich verließ, ein wenig erleichtert, das Haus. Jadassohn erwartete ihn grinsend.

„Sie haben wohl Angst gehabt? Lassen Sie nur! Mit unserem Stadtoberhaupt kompromittiert sich niemand, er ist immer, wie der liebe Gott, mit den stärksten Bataillonen. Heute wollte ich nur feststellen, wie weit er sich schon mit Herrn von Wulckow eingelassen hat. Es steht nicht übel, wir können uns ein Stück vorwagen.“

„Vergessen Sie, bitte, nicht,“ sagte Diederich, mit Zurückhaltung, „daß ich in der Netziger Bürgerschaft zu Hause und natürlich auch liberal bin.“

Jadassohn sah ihn von der Seite an. „Neuteutonia?“ fragte er. Und als Diederich sich erstaunt umwandte: „Wie geht es denn meinem alten Freund Wiebel?“

„Sie kennen ihn? Er war mein Leibbursch!“

„Kennen! Ich habe mit ihm gehangen.“

Diederich ergriff die Hand, die Jadassohn hinhielt, sie [pg 137]schüttelten einander kraftvoll. „Na dann!“ „Na also!“ Und Arm in Arm gingen sie in den Ratskeller, Mittag essen.

Gesammelte Werke

Подняться наверх