Читать книгу Gesammelte Werke - Heinrich Mann - Страница 20
ОглавлениеAm Abend des nächsten Tages waren alle Spiegel des Hauses im Wohnzimmer zusammengetragen. Emmi, Magda und Inge Tietz drehten sich dazwischen umher, bis ihnen die Hälse schmerzten; dann ließen sie sich nervös auf den Rand eines Stuhles nieder. „Mein Gott, es ist doch Zeit!“ Aber Diederich war fest entschlossen, nicht wieder zu früh zu kommen, wie beim Prozeß Lauer. Die ganze Wirkung der Persönlichkeit ging zum Teufel, wenn man zu früh da war. Als sie endlich gingen, entschuldigte Inge Tietz sich nochmals bei Frau Heßling, daß sie ihr den Platz im Wagen wegnehme. Nochmals sagte Frau Heßling: „Ach Gott, es ist gern geschehen. Ich alte Frau bin zu schwach für so was Großes. Genießt ihr es nur, Kinder!“ Und sie umarmte unter Tränen ihre Töchter, die kühl abwehrten. Denn sie wußten, daß die Mutter bloß Angst hatte, weil jetzt überall von nichts weiter gesprochen wurde als von der furchtbaren Klatschgeschichte, an der sie selbst schuld war.
Im Wagen fing Inge gleich wieder davon an. „Na, Bucks und Daimchens! Gespannt bin ich bloß, ob sie heute die edle Dreistigkeit haben und da sind.“ Magda sagte ruhig: „Das müssen sie wohl. Sonst geben sie ja zu, daß es wahr ist.“ – „Wennschon“, erklärte Emmi. „Ich finde, daß das ihre Sache ist. Ich rege mich darüber nicht auf.“ – „Ich [pg 288]auch nicht“, setzte Diederich hinzu. „Ich habe es eigentlich erst heute abend von Ihnen gehört, Fräulein Tietz.“
Hierüber geriet Inge Tietz außer sich. So leicht dürfe man den Skandal denn doch nicht nehmen. Ob er glaube, daß sie sich das Ganze ausgedacht habe. „Die Bucks haben schon längst Butter auf dem Kopf wegen der Sache: das wissen ihre eigenen Dienstboten.“ – „Also Dienstbotenklatsch“, sagte Diederich, während er einen kleinen Stoß erwiderte, den Magda ihm mit dem Knie gab. Dann mußte man schon aussteigen und die Stufen hinuntergehen, die den neuen Teil der Kaiser-Wilhelm-Straße mit der tief gelegenen alten Riekestraße verbanden. Diederich fluchte; denn es begann zu regnen, die Ballschuhe wurden naß; auch standen vor dem Festlokal Proleten, die feindselig gafften. Hätte man nicht, als der ganze Stadtteil höher gelegt wurde, auch dieses Gerümpel niederreißen können? Das historische Harmoniehaus hatte erhalten werden sollen – als ob die Stadt nicht die Mittel gehabt hätte, in zentraler Lage ein modernes, erstklassiges Gesellschaftsgebäude zu bauen. In dem alten Kasten roch es ja nach Moder! Und gleich beim Eingang kicherten immer die Damen, weil eine Statue der Freundschaft dastand, die zwar eine hohe Perücke, aber sonst nichts anhatte. „Vorsicht,“ sagte Diederich auf der Treppe, „sonst brechen wir ein.“ Denn die beiden dünnen Bogen der Treppe griffen durch die Luft wie zwei vom Alter abgemagerte Arme. Das braune Rosa ihres Holzes war blaß geworden. Droben aber, wo sie sich vereinigten, lächelte auf dem Geländer aus seinem blanken Marmorgesicht noch immer der bezopfte Bürgermeister, der dies alles der Stadt hinterlassen hatte und der ein Buck gewesen war. Diederich sah ungnädig an ihm vorbei.
In der tiefen Spiegelgalerie war es ganz still; eine einzelne Dame nur hielt sich dahinten auf, sie schien durch einen Türspalt in den Festsaal zu spähen – und plötzlich wurden die Mädchen von Entsetzen ergriffen: die Vorstellung hatte begonnen! Magda stürzte durch die Galerie und brach in Weinen aus. Da drehte die Dame sich um, mit dem Finger auf den Lippen. Es war Frau von Wulckow, die Dichterin. Sie lächelte erregt und flüsterte: „Es geht gut, mein Stück gefällt. Sie kommen gerade rechtzeitig, Fräulein Heßling, gehen Sie nur und kleiden sich um.“ Ach ja! Emmi und Magda hatten erst im zweiten Akt zu tun. Auch Diederich hatte den Kopf verloren. Indes die Schwestern mit Inge Tietz, die ihnen helfen sollte, durch die Nebenräume nach der Garderobe eilten, stellte er sich der Präsidentin vor und blieb ratlos stehen. „Jetzt dürfen Sie nicht hinein, es würde stören“, sagte sie. Diederich stammelte Entschuldigungen, und dann rollte er die Augen, wobei er zwischen den gemalten Ranken der halb erblindeten Wandspiegel seinem geheimnisvoll blassen Abbild begegnete. Der zartgelbe Lack der Wände zeigte launische Sprünge, und auf den Panneaus starben die Farben der Blumen und Gesichter ... Frau von Wulckow schloß eine kleine Tür, durch die jemand einzutreten schien, eine Schäferin mit ihrem bebänderten Stab. Sie schloß die Tür ganz vorsichtig, damit nur die Vorstellung nicht gestört werde, aber es flog doch ein wenig Staub auf, als sei es Puder aus dem Haar der gemalten Schäferin.
„Dies Haus ist so romantisch“, flüsterte Frau von Wulckow. „Finden Sie nicht auch, Herr Doktor? Wenn man sich hier im Spiegel sieht, glaubt man einen Reifrock anzuhaben“ – worauf Diederich, immer ratloser, ihr Hängekleid ansah. Die entblößten Schultern waren hohl [pg 290]und nach vorn gebogen, die Haare von slawischem Weißblond, und Frau von Wulckow trug einen Zwicker.
„Sie passen hier glänzend herein, Frau Präsidentin ... Frau Gräfin“, verbesserte er und sah sich mit einem Lächeln belohnt für seine kühne Schmeichelei. Nicht jeder würde Frau von Wulckow so treffsicher daran erinnert haben, daß sie eine geborene Gräfin Züsewitz war!
„Tatsächlich“, bemerkte sie, „sollte man kaum glauben, daß dies Haus seinerzeit nicht für eine wirklich vornehme Gesellschaft gebaut worden ist, sondern nur für die guten Netziger Bürger.“ Sie lächelte nachsichtig.
„Ja, das ist komisch“, bestätigte Diederich mit einem Kratzfuß. „Aber heute können sich zweifellos nur Frau Gräfin hier ganz zu Hause fühlen.“
„Sie haben gewiß Sinn für das Schöne“, vermutete Frau von Wulckow; und da Diederich es bestätigte, erklärte sie, dann dürfe er den ersten Akt doch nicht ganz versäumen, sondern müsse durch den Türspalt sehen. Sie selbst trat schon längst von einem Fuß auf den anderen. Sie wies mit dem Fächer nach der Bühne. „Herr Major Kunze wird gleich abgehen. Er ist ja nicht besonders gut, aber was wollen Sie, er sitzt im Vorstand der Harmonie und hat den Leuten die künstlerische Bedeutung meines Werkes erst zum Verständnis gebracht.“ Indes Diederich den Major unschwer wiedererkannte, denn er hatte sich gar nicht verändert, erläuterte die Dichterin ihm mit fliegender Geläufigkeit die Vorgänge. Das junge Bauernmädchen, mit dem Kunze sich unterhielt, war seine natürliche Tochter, also eine Grafentochter, weshalb das Stück denn auch „Die heimliche Gräfin“ hieß. Gerade klärte Kunze sie, bärbeißig wie immer, über diesen Umstand auf. Auch eröffnete er ihr, er werde sie mit einem armen Vetter verhei[pg 291]raten und ihr die Hälfte seiner Besitztümer vererben. Hierüber herrschte, als er abgegangen war, laute Freude bei dem Mädchen und ihrer Pflegemutter, der braven Pächtersfrau.
„Wer ist denn die schreckliche Person?“ fragte Diederich, bevor er es bedacht hatte. Frau von Wulckow war erstaunt.
„Es ist doch die komische Alte vom Stadttheater. Wir hatten sonst niemand für die Rolle; aber meine Nichte spielt ganz gern mit ihr.“
Und Diederich erschrak; mit der schrecklichen Person hatte er die Nichte gemeint. „Das Fräulein Nichte ist ganz reizend“, beteuerte er schnell und blinzelte entzückt nach dem dicken roten Gesicht, das gleich auf den Schultern saß – und es waren Wulckows Schultern! „Talent hat sie aber auch“, setzte er der Sicherheit wegen hinzu. Frau von Wulckow wisperte: „Passen Sie nur auf“ – und da kam aus der Kulisse Assessor Jadassohn. Welch eine Überraschung! Er hatte ganz neue Bügelfalten und trug in seinem imposant geschweiften Cutaway eine riesenhafte Plastronkrawatte mit einem roten Funkelstein von entsprechendem Umfang. Aber so sehr der Stein auch funkelte, Jadassohns Ohren überstrahlten ihn. Da sein Kopf frisch geschoren und sehr platt war, standen die Ohren frei heraus und beleuchteten wie zwei Lampen seine festliche Pracht. Er spreizte die gelb behandschuhten Hände, als plädierte er für viele Jahre Zuchthaus; und tatsächlich sagte er der Nichte, die geradezu konsterniert schien, und der heulenden komischen Alten die peinlichsten Dinge ... Frau von Wulckow wisperte: „Er ist ein schlechter Charakter.“
„Und ob“, sagte Diederich mit Überzeugung.
„Kennen Sie denn mein Stück?“
„Ach so. Nein. Aber ich sehe schon, was er will.“
Nämlich Jadassohn der der Sohn und Erbe des alten Grafen Kunze war, hatte gelauscht und war durchaus nicht gesonnen, die Hälfte seiner ihm von Gott verliehenen Besitztümer an die Nichte abzutreten. Er verlangte gebieterisch, daß sie augenblicklich das Feld räume; widrigenfalls er sie als Erbschleicherin verhaften und Kunze entmündigen lassen werde.
„Das ist eine Gemeinheit“, bemerkte Diederich. „Sie ist doch seine Schwester.“ Die Dichterin erklärte ihm:
„Nun ja. Aber andererseits hat er recht, wenn er ein Fideikommiß aus den Gütern machen will. Er arbeitet eben für das ganze Geschlecht, mag auch der einzelne zu kurz kommen. Für die heimliche Gräfin ist das natürlich tragisch.“
„Wenn man es recht bedenkt –“, Diederich war hocherfreut. Dieser aristokratische Gesichtspunkt kam auch ihm selbst zustatten, wenn er keine Neigung fühlte, Magda bei ihrer Verheiratung am Geschäft zu beteiligen.
„Frau Gräfin, Ihr Stück ist erstklassig“, sagte er, durchdrungen. Aber da zog Frau von Wulckow ihn angstvoll am Arm: im Publikum entstanden Geräusche, es scharrte, schnupfte sich aus und kicherte. „Er übertreibt“, stöhnte die Dichterin. „Ich habe es ihm immer gesagt.“
Denn Jadassohn führte sich wirklich unerhört auf. Die Nichte samt der komischen Alten klemmte er hinter den Tisch ein und füllte mit den tobenden Bekundungen seiner gräflichen Persönlichkeit die ganze Bühne. Je mehr das Haus ihn mißbilligte, desto herausfordernder lebte er dort oben sich aus. Jetzt zischte man sogar; ja, mehrere wandten sich nach der Tür um, hinter der Frau von Wulckow bebte, und zischten. Vielleicht geschah es nur, weil die Tür kreischte – aber die Dichterin fuhr zurück, sie verlor den Zwicker und tastete in hilflosem Entsetzen durch die Luft, [pg 293]bis Diederich ihn ihr zurückbrachte. Er versuchte, sie zu trösten. „Es hat nichts zu sagen, Jadassohn geht doch hoffentlich bald ab?“ Sie horchte durch die geschlossene Tür. „Ja, Gott sei Dank“, plapperte sie, und die Zähne schlugen ihr aufeinander. „Jetzt ist er fertig, jetzt flieht meine Nichte mit der komischen Alten, und dann kommt Kunze wieder mit dem Leutnant, wissen Sie.“
„Ein Leutnant spielt auch mit?“ fragte Diederich achtungsvoll.
„Ja, das heißt, er ist noch auf dem Gymnasium, er ist ein Sohn des Herrn Landgerichtsdirektors Sprezius: der arme Verwandte, wissen Sie, den der alte Graf seiner Tochter zum Mann geben will. Er verspricht dem Alten, daß er die heimliche Gräfin in der ganzen Welt suchen wird.“
„Sehr begreiflich“, sagte Diederich. „Es liegt in seinem eigenen Interesse.“
„Sie werden sehen, er ist ein edler Mensch.“
„Aber Jadassohn, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, Frau Gräfin, den hätten Sie nicht mitspielen lassen sollen“, sagte Diederich vorwurfsvoll und mit heimlicher Genugtuung. „Schon wegen der Ohren.“
Frau von Wulckow sagte niedergeschlagen:
„Ich dachte nicht, daß sie auf der Bühne so wirken würden. Glauben Sie nun, daß es ein Mißerfolg wird?“
„Frau Gräfin!“ Diederich legte die Hand auf das Herz. „Ein Stück wie die ‚heimliche Gräfin‘ ist nicht so leicht Umzubringen!“
„Nicht wahr? Es kommt beim Theater doch wohl auf die künstlerische Bedeutung an.“
„Gewiß. Freilich, so ein Paar Ohren haben auch viel Einfluß“ – und Diederich machte ein bedenkliches Gesicht.
Frau von Wulckow rief flehend aus:
„Wo doch der zweite Akt noch viel besser ist! Er spielt in einer protzigen Fabrikantenfamilie, und die heimliche Gräfin dient dort als Stubenmädchen. Dann ist da ein Klavierlehrer, kein feiner Mensch, eine der Töchter hat er sogar geküßt, und nun macht er der Gräfin einen Heiratsantrag, den sie natürlich weit von sich weist. Ein Klavierlehrer! Wie könnte sie!“
Diederich bestätigte, es sei ausgeschlossen.
„Aber nun sehen Sie, wie tragisch: die Tochter, die sich von dem Klavierlehrer hat küssen lassen, verlobt sich auf einem Ball mit einem Leutnant, und wie der Leutnant ins Haus kommt, da ist es derselbe Leutnant, der –“
„O Gott, Frau Gräfin!“ Diederich streckte schützend die Hände vor, ganz erregt durch so viele Verwicklungen. „Wie kommen Sie nur auf all die Geschichten?“
Die Dichterin lächelte leidenschaftlich.
„Ja, nämlich das ist das Interessanteste: Nachher weiß man es nicht mehr. Es geht so geheimnisvoll zu im Gemüt! Manchmal denke ich mir, ich muß es geerbt haben.“
„Haben Sie denn so viele Dichter in Ihrer werten Familie?“
„Das nicht. Aber wenn nicht mein großer Vorfahre die Schlacht bei Kröchenwerda gewonnen hätte, wer weiß, ob ich die ‚heimliche Gräfin‘ geschrieben haben würde. Es kommt schließlich immer auf das Blut an!“
Bei dem Namen der Schlacht machte Diederich einen Kratzfuß, und er wagte nichts mehr zu fragen.
„Jetzt muß gleich der Vorhang fallen“, sagte Frau von Wulckow. „Hören Sie etwas?“
Er hörte nichts; nur für die Dichterin gab es nicht Tür noch Wände. „Jetzt schwört der Leutnant der fernen Gräfin die ewige Treue“, flüsterte sie. „So“; und alles [pg 295]Blut wich ihr aus dem Gesicht. Gleich darauf schoß es heftig zurück; man klatschte: nicht stürmisch; aber man klatschte. Die Tür ward von drinnen geöffnet. Dort hinten rollte nochmals der Vorhang hinauf, und da der junge Sprezius und die Wulckowsche Nichte hervorkamen, ward der Beifall lebhafter. Plötzlich schnellte aus der Kulisse Jadassohn, pflanzte sich vor die beiden und machte Miene, den Erfolg einzuheimsen – worauf gezischt ward. Frau von Wulckow wandte sich entrüstet ab. Der Schwiegermutter des Bürgermeisters Scheffelweis und der Landgerichtsrätin Harnisch, die ihr Glück wünschten, erklärte sie: „Herr Assessor Jadassohn ist als Staatsanwalt unmöglich. Ich werde es meinem Mann sagen.“
Die Damen gaben den Ausspruch sofort weiter und hatten viel Erfolg damit. Plötzlich war die Spiegelgalerie voll von Gruppen, die über Jadassohns Ohren herfielen. „Die Präsidentin hat recht wacker gedichtet; nur Jadassohns Ohren –.“ Als man hörte, daß Jadassohn im zweiten Akt nicht mehr wiederkomme, war man doch enttäuscht. Wolfgang Buck ging mit Guste Daimchen auf Diederich zu. „Haben Sie gehört?“ fragte er. „Jadassohn soll eine Amtshandlung vornehmen und seine Ohren konfiszieren.“ Diederich sagte mißbilligend: „Ich mache keine Witze, wenn es jemandem schlecht geht.“ Und dabei überwachte er eifrig die Blicke, die Buck und seine Begleiterin trafen. Alle Mienen lebten auf, wenn sie die beiden erblickten; Jadassohn war vergessen. Vom Ausgang trug die dünne Schreistimme des Professor Kühnchen etwas durch den Wirrwarr, das klang wie „Affenschande“. Da die Pastorin Zillich ihm beschwichtigend die Hand auf den Arm legte, wandte er sich her, und jetzt verstand man es deutlich: „Eine ausgewachsene Affenschande ist es!“
Guste sah sich um; sie bekam Schlitzaugen. „Dort sprechen sie auch davon“, sagte sie geheimnisvoll.
„Wovon?“ stammelte Diederich.
„Wir wissen schon. Und wer es aufgebracht hat, weiß ich auch.“
Hier brach Diederich der Schweiß aus. „Was haben Sie denn?“ fragte Guste. Buck, der durch die Seitentür nach dem Büfett schielte, sagte phlegmatisch:
„Heßling ist ein vorsichtiger Politiker, er hört nicht gern mit an, daß der Bürgermeister zwar einerseits ein guter Ehemann ist, aber andererseits auch seiner Schwiegermutter nichts abschlagen kann.“
Sofort ward Diederich dunkelrot.
„Das ist eine Gemeinheit! Wie kann jemand sich solch eine Gemeinheit ausdenken!“
Guste kicherte heftig. Buck blieb unbewegt. „Erstens scheint es Tatsache zu sein, denn die Frau Bürgermeister hat die beiden überrascht und sich einer Freundin anvertraut. Dann aber lag es ja auf der Hand.“
Guste brachte hervor: „Na Sie, Herr Doktor, wären natürlich nie darauf gekommen.“ Dabei blinzelte sie verliebt ihrem Verlobten zu. Diederich blitzte. „Aha!“ sagte er stramm. „Jetzt weiß ich freilich genug.“ Und er drehte ihnen den Rücken. Sie erfanden also selbst Gemeinheiten, noch dazu über den Bürgermeister! Diederich durfte den Kopf hoch tragen. Er stieß zu der Gruppe Kühnchens, die sich nach dem Büfett hin bewegte und ein Kielwasser von sittlicher Entrüstung hinterließ. Die Schwiegermutter des Bürgermeisters schwur mit rotem Gesicht, „diese Gesellschaft“ werde ihr Haus künftig nur noch von außen sehen, und mehrere Damen schlossen sich ihrem Vorsatz an, trotz Abraten des Warenhausbesitzers Herrn [pg 297]Cohn, der bis auf weiteres alles in Zweifel zog, weil eine derartige sittliche Entgleisung bei einem bewährten alten Liberalen wie dem Herrn Buck ganz ausgeschlossen erscheine. Professor Kühnchen war vielmehr der Meinung, daß ein zu weit gehender Radikalismus auch die Moral gefährde. Selbst Doktor Heuteufel, der doch die Sonntagsfeiern für freie Menschen veranstaltete, machte die Bemerkung, an Familiensinn, man könne auch sagen Nepotismus, habe es dem alten Buck niemals gefehlt. „Beispiele dafür liegen Ihnen allen auf der Zunge. Und daß er jetzt, um das Geld in der Familie zu erhalten, sich anschickt, seine unehelichen Kinder mit seinen ehelichen zu verheiraten, das, meine Herrschaften, würde ich ärztlich als greisenhafte Ausschreitung einer früher noch beherrschten Naturanlage diagnostizieren.“ Hierbei bekamen die Damen erschreckte Gesichter, und die Pastorin Zillich schickte ihr Käthchen in die Garderobe nach ihrem Schnupftuch.
Auf ihrem Wege kam Käthchen an Guste Daimchen vorbei, aber sie begrüßte sie nicht, sondern schlug die Augen nieder; da machte Guste ein betretenes Gesicht. Am Büfett bemerkte man es und äußerte Mißbilligung, vermischt mit Mitleid. Guste mußte nun eben erfahren, was es hieß, sich über die öffentliche Moral hinwegzusetzen. Mochte ihr zugebilligt werden, daß sie vielleicht getäuscht und schlecht beeinflußt sei: Frau Oberinspektor Daimchen aber, die wußte doch wohl Bescheid, und sie war gewarnt! Die Schwiegermutter des Bürgermeisters berichtete von ihrem Besuch bei Gustes Mutter und von ihren vergeblichen Anstrengungen, durch Anklopfen ein Geständnis hervorzulocken aus der verhärteten alten Frau, der eine legitime Verbindung mit dem Hause Buck wohl einen Jugendtraum erfüllte!...
„Na, und der Herr Rechtsanwalt Buck!“ kreischte Kühnchen. Tatsächlich, wen wollte dieser Herr glauben machen, daß er über die neue Schande, die seine Familie traf, nicht genau unterrichtet sei? Waren ihm die Verbrechen im Hause Lauer etwa unbekannt gewesen? Und doch sah man ihn nicht zögern, die schmutzige Wäsche seiner Schwester und seines Schwagers öffentlich vor Gericht auszubreiten, nur um von sich reden zu machen! Doktor Heuteufel, den es noch immer drängte, seine eigene Haltung im Prozeß nachträglich zu verbessern, erklärte: „Das ist kein Verteidiger, das ist ein Komödiant!“ Und als Diederich zu bedenken gab, Buck habe nun einmal gewisse, wenn auch anfechtbare Überzeugungen in Politik und Moral, da ward ihm erwidert: „Herr Doktor, Sie sind sein Freund. Daß Sie für ihn eintreten, spricht zu Ihren Gunsten, aber Sie machen uns nichts weiß;“ – worauf Diederich sich zurückzog, mit bekümmerter Miene, aber nicht ohne einen Blick auf den Redakteur Nothgroschen, der bescheiden an einer Schinkensemmel kaute und alles hörte.
Plötzlich entstand eine Stille, denn drinnen, nahe der Bühne, erblickte man den alten Herrn Buck in einem Kreis junger Mädchen. Es schien, er erklärte ihnen die Malereien an den Wänden, das Leben von ehemals, das verblichen und heiter den ganzen Saal umgab, mit dem Umkreis der Stadt, wie sie gewesen war, mit verschwundenen Wiesen und Gärten und den Menschen allen, lärmend einst als Herren hier in diesem Festhaus, nun aber in hingetäuschte Tiefen gebannt vor dem Geschlecht, das eben jetzt lärmte ... Jetzt sah es gar aus, als ahmten sie, die Mädchen und der Alte, den Figuren nach. Gerade über ihnen war das Burgtor abgebildet, und ein Herr in Perücke und Amtskette trat heraus, derselbe, der aus Marmor zu [pg 299]Häupten der Treppe stand. In dem lieblichen Gehölz voller Blumen aber, das damals wohl dort, statt der Papierfabrik Gausenfeld, geblüht hatte, tanzten ihm helle Kinder entgegen, warfen einen Kranz über ihn und wollten ihn damit umherdrehen. Der Widerschein von rosigen kleinen Wolken fiel auf sein glückliches Gesicht. So glücklich lächelte in diesem Augenblick auch der alte Buck, ließ sich von den Mädchen hin und her ziehen und war von ihnen gefangen, wie in einem lebenden Kranz. Seine Sorglosigkeit war unbegreiflich, sie war aufreizend. Hatte er schon sein Gewissen bis zu dem Grade abgestumpft, daß er seine natürliche Tochter –: „Unsere Töchter sind eben doch keine natürlichen Kinder“, sagte Frau Warenhausbesitzer Cohn. „Meine Sidonie mit Guste Daimchen Arm in Arm!“... Buck und seine jungen Freundinnen merkten gar nicht, daß sie sich am Ende eines leeren Raumes befanden. Vorn bildete feindliches Publikum eine Mauer; die Augen fingen zu funkeln an, und der Mut wuchs. „Die Familie ist die längste Zeit obenauf gewesen! Einen haben sie schon in der Vogtei, gleich kommt Nummer zwei!“... „Das ist ja der reinste Rattenfänger!“ murrte es; und drüben: „Ich sehe es nicht noch länger mit an!“ Jäh entrangen sich zwei Damen dem allgemeinen Druck, nahmen einen Anlauf und durchkreuzten den leeren Raum. Frau Rat Harnisch, die in ihrer roten Samtschleppe dahinkugelte, traf am Ziel pünktlich auf die gelbe Frau Cohn, mit demselben Griff bemächtigte die eine sich ihrer Sidonie, die andere ihrer Meta, und welch eine Genugtuung, als sie wieder anlangten! „Ich war einer Ohnmacht nahe“, sagte die Pastorin Zillich, da nun gottlob auch Käthchen sich einfand.
Die gute Laune kehrte zurück, man scherzte über den [pg 300]alten Sünder und verglich ihn mit dem Grafen im Stück der Präsidentin. Freilich, Guste war keine heimliche Gräfin; in einer Dichtung konnte man, der Präsidentin zu gefallen, mit solchen Zuständen sympathisieren. Übrigens waren sie dort noch erträglich, denn die Gräfin sollte nur ihren Vetter heiraten, während Guste –!
Der alte Buck, der niemand mehr um sich sah, als seine künftige Schwiegertochter und eine seiner Nichten, bekam eine fragende Miene; ja, unter den Blicken, die ihn in seiner Verlassenheit musterten, ward er sichtlich verlegen. Man machte einander darauf aufmerksam; – und Diederich sogar fragte sich, ob Frau Heßlings alte Skandalgeschichte denn etwa gar wahr sei? Da er das Phantom, das er selbst in die Welt geschickt hatte, hier einen Körper annehmen und immer drohender um sich greifen sah, war ihm selber bange geworden. Diesmal galt es nicht irgendeinem Lauer, es galt dem alten Herrn Buck, der ehrwürdigsten Figur aus Diederichs Kindertagen, dem großen Mann der Stadt, der Verkörperung ihres Bürgersinnes, dem zum Tode Verurteilten von Achtundvierzig! Im eigenen Herzen fühlte Diederich ein Sträuben gegen sein Unterfangen. Auch schien es Wahnwitz; ein Streich wie dieser zerschmetterte den Alten noch längst nicht. Kam es aber heraus, wer der Urheber war, dann mußte Diederich darauf gefaßt sein, daß alle sich gegen ihn wendeten ... Gleichwohl blieb es ein Streich, und er hatte getroffen. Jetzt war es nicht mehr bloß die Familie, die bröckelte und an dem Alten als Last hing: der Bruder vor dem Bankerott, der Schwiegersohn im Gefängnis, die Tochter auf Reisen mit einem Liebhaber, und von den Söhnen einer verbauert, der andere verdächtig durch Gesinnung und Lebensführung, – jetzt schwankte er, zum ersten Male, [pg 301]selbst. Herunter mit ihm, damit Diederich hinaufkam! Trotzdem war es Diederich bange bis in den Leib hinein, er machte sich auf, um die Nebenräume zu besuchen.
Er lief, denn es klingelte schon zum zweiten Akt: da stieß er mit der Schwiegermutter des Bürgermeisters zusammen, die es aus einem anderen Grund ebenso eilig hatte. Sie kam gerade noch rechtzeitig, um zu verhindern, daß ihr Schwiegersohn, gelenkt von seiner Frau, sich auf den alten Buck zu bewege und ihn mit seiner Autorität decke. „Mit deiner Autorität als Bürgermeister, einen solchen Skandal!“ Sie war heiser vor Aufregung. Die Frau aber mit ihrer grellen kleinen Stimme blieb dabei, die Bucks seien nun einmal die feinsten Leute hier, und noch gestern habe Milli Buck ihr ein fabelhaftes Schnittmuster gegeben. Mit versteckten Püffen trieb jede ihn nach ihrer Seite; er gab ihnen abwechselnd recht, seine blassen Bartkotelettes flohen nach links und nach rechts, und er hatte Augen wie ein Hase. Die Vorübergehenden stießen einander an und wiederholten flüsternd als einen Witz, was Diederich durch Wolfgang Buck wußte. Angesichts so wichtiger Vorgänge vergaß er seine Leibschmerzen, blieb stehen und beschrieb einen herausfordernden Gruß. Der Bürgermeister gab sich Haltung, verließ seine Damen, er streckte Diederich die Hand hin. „Mein lieber Doktor Heßling, es freut mich, das ist einmal ein gelungenes Fest, wie?“
Aber Diederich zeigte sich gar nicht geneigt, auf die nichtssagende Herzlichkeit einzugehen, die Doktor Scheffelweis so sehr liebte. Er richtete sich auf wie das Verhängnis und blitzte.
„Herr Bürgermeister, ich fühle mich nicht berechtigt, Sie im unklaren zu lassen über gewisse Dinge, die –“