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III. Die deutsche Geisteskultur

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Auf der Trep­pe, die er zur Re­dak­ti­on des »Ber­li­ner Nacht­ku­ri­er« hin­auf­stieg, blen­de­te den jun­gen Mann der ganz neue und doch be­reits arg be­su­del­te Tep­pich. Al­les im Hau­se war reich und durch den re­gen Ge­schäfts­be­trieb mit­ge­nom­men. Jüng­lin­ge mit kot­be­spritz­ten Bein­klei­dern, sonst sehr ele­gant, has­te­ten an dem Be­su­cher vor­über. Dro­ben in dem großen War­te­zim­mer schob sich eine be­trächt­li­che Men­schen­men­ge durch­ein­an­der. An­dre­as, der ge­gen die Wand ge­drängt wur­de, blick­te durch eine Glas­schei­be in einen lan­gen, kah­len Saal hin­ein, wo un­ge­fähr drei­ßig jun­ge Leu­te an Pul­ten sa­ßen. Ei­ni­ge la­sen Zei­tun­gen, an­de­re plau­der­ten, in­des sie Blei­stif­te spitz­ten oder ihre Nä­gel pfleg­ten.

Eine Flü­gel­tür ward auf­ge­sto­ßen, und ein reich aus­se­hen­der Herr mit ra­sier­ter Ober­lip­pe und rot­blon­den Ko­te­let­ten, den Hut in der Stirn, rief ins Vor­zim­mer hin­ein:

»Kommt denn der Che­fre­dak­teur nicht?«

Der her­bei­ei­len­de Re­dak­ti­ons­die­ner ver­beug­te sich:

»Muss so­fort da sein, Herr Ge­ne­ral­kon­sul!«

»End­lich, mein lie­ber Dok­tor!« rief der Herr und streck­te die Hand mit mat­ter An­mut ei­nem großen, ele­gan­ten Man­ne ent­ge­gen, der von der Trep­pe her ein­trat und dem Die­ner Hut und Pa­le­tot1 zu­warf. Be­vor die bei­den hin­ter der Flü­gel­tür ver­schwan­den, hör­te man den Ge­ne­ral­kon­sul fra­gen:

»Sie wa­ren im Aus­wär­ti­gen Amt? Nun, was sagt un­ser Mi­nis­ter?«

An­dre­as er­schau­er­te vor Ehr­furcht, wäh­rend er be­dach­te, wel­che Unend­lich­keit von Macht und An­se­hen die­se Wor­te ah­nen lie­ßen. Wer hier im Vor­zim­mer des »Nacht­ku­ri­er« stand, war ge­wis­ser­ma­ßen in den Be­reich ei­ner Or­ga­ni­sa­ti­on ein­ge­tre­ten, die es an Aus­deh­nung und Fes­tig­keit selbst mit der des Staa­tes auf­nahm. Dok­tor Be­die­ner ging im Palais der Wil­helm­stra­ße aus und ein wie der Staats­se­kre­tär selbst. Sein Kol­le­ge war ein Mi­nis­ter des In­nern, dem kein Wil­le im Lan­de leicht­fer­tig zu­wi­der­han­del­te. Die Äm­ter wa­ren ver­teilt ge­nau nach dem Vor­bil­de des Staa­tes, von den Bot­schaf­tern in al­len Haupt­städ­ten der Welt bis hin­ab zu je­ner Schar von über­schüs­si­gen klei­nen Be­am­ten, un­be­zahl­ten Re­fe­ren­da­ren, die ihre Blei­stif­te spitz­ten und sich die Nä­gel pfleg­ten. Hoch über die­ser un­per­sön­li­chen Ver­wal­tungs­ma­schi­ne aber, hin­ter dem Ge­he­ge der Ge­set­ze und ge­deckt durch die Verant­wort­lich­keit sei­ner Mi­nis­ter, die er be­rief und entließ, thron­te der große Je­ku­ser, der Be­sit­zer des »Nacht­ku­ri­er«, ein kon­sti­tu­tio­nel­ler Mon­arch. Von den Ta­ges­mei­nun­gen un­ab­hän­gig wie an­de­re ge­krön­te Häup­ter, be­wahr­te er den­noch einen un­be­schränk­teren Ein­fluss als die­se, da er so­gar die Volks­ver­tre­ter ver­mö­ge sei­nes »par­la­men­ta­ri­schen Bü­ros« zu zen­sie­ren und zu maß­re­geln ver­moch­te. Und er war rei­cher als sie, denn von den Ab­ga­ben sei­nes Vol­kes, von den fünf­zehn Pfen­ni­gen, die Hun­dert­tau­sen­de von Le­sern täg­lich er­leg­ten, blieb der grö­ße­re Teil in sei­ner Ta­sche zu­rück.

Die Flü­gel­tür öff­ne­te sich halb, ohne dass je­mand sicht­bar wur­de. Aber in der war­ten­den Men­ge pflanz­te sich so­gleich ein Stoß fort, den schließ­lich der ge­gen die Wand ge­drück­te An­dre­as vor die Brust er­hielt. Er griff has­tig in die Ta­sche, die sei­ne Pa­pie­re ent­hielt. Glück­li­cher­wei­se fand sich der Brief des Herrn Schmücke noch vor. Seit ei­nem Jah­re hat­te der jun­ge Mann nicht mehr des Emp­feh­lungs­schrei­bens ge­dacht, das ihm der alte Herr in Gum­plach, der sich mit Li­te­ra­tur be­fass­te, an den Dok­tor Be­die­ner mit­ge­ge­ben hat­te. An­dre­as kam mit zu großer Ehr­furcht vor den Mäch­ti­gen der Erde nach Ber­lin, um sich gleich an­fangs bis zu ei­nem von ih­nen vor­drän­gen zu wol­len. Herr Schmücke war ge­wiss ein bra­ver li­be­ra­ler Bür­ger, aber ob der Che­fre­dak­teur des »Nacht­ku­ri­er« auf sei­ne Emp­feh­lung großes Ge­wicht le­gen wür­de, war mehr als zwei­fel­haft. Um den Brief nicht un­be­nutzt zu las­sen, übergab An­dre­as ihn ei­nem vor­über­ge­hen­den Die­ner, der mit ei­ner Hand­voll De­pe­schen das Er­schei­nen des Chefs er­war­te­te. Gleich dar­auf ver­ab­schie­de­te sich der Ge­ne­ral­kon­sul, den Dok­tor Be­die­ner bis zur Trep­pe be­glei­te­te. An­dre­as ver­folg­te mit scheu­em Blick jede Be­we­gung des Man­nes, von dem sein Schick­sal ab­hing. Er sah ihn mit ei­ni­gen jun­gen Leu­ten, die zu­nächst an sei­nem Wege stan­den, lei­se Wor­te wech­seln und nach­denk­lich, die Hand, auf der ein großer Bril­lant blitz­te, an sei­nem grau­en Spitz­bart, in sei­nem Ka­bi­nett ver­schwin­den. Wel­che be­täu­ben­de Fül­le von Ge­schäf­ten und wie we­nig Hoff­nung für einen be­schei­de­nen Neu­ling, hier ans Ziel zu ge­lan­gen! Doch schon nach we­ni­gen Mi­nu­ten trat ganz un­er­war­te­ter­wei­se der­sel­be Die­ner, dem An­dre­as sei­ne Emp­feh­lung an­ver­traut hat­te, auf den jun­gen Mann zu, um ihn zum Ein­tritt in das Büro des Herrn Che­fre­dak­teurs auf­zu­for­dern. An­dre­as durch­schritt blut­über­gos­sen die Rei­hen der War­ten­den. Er mein­te, die Be­vor­zu­gung, die ihm zu­teil ward, müs­se je­der­mann auf­fal­len.

Und dann führ­te er eine mög­lichst kor­rek­te Ver­beu­gung vor Dok­tor Be­die­ner aus, der ihm lä­chelnd die Hand mit dem Bril­lan­ten ent­ge­gen­streck­te.

»Sie sind mir als ein sehr aus­sichts­rei­ches Ta­lent emp­foh­len, Herr – re…«

»Zum­see«, er­gänz­te An­dre­as.

»Herr Zum­see«, wie­der­hol­te Dok­tor Be­die­ner.

Er wies auf einen Ses­sel, und An­dre­as, der dem Lei­ter des »Nacht­ku­ri­er« ge­gen­über Platz nahm, sag­te sich, dass der Empfang gar nicht güns­ti­ger hät­te sein kön­nen. Dok­tor Be­die­ner be­gann wie­der:

»Die Emp­feh­lung, die Sie gel­tend ma­chen, ist mir be­son­ders wert­voll, weil sie von ei­nem lang­jäh­ri­gen, lie­ben Freun­de kommt. Ich hof­fe, es geht mei­nem al­ten Schmücke gut?«

An­dre­as er­teil­te be­frie­di­gen­de Aus­kunft über die Ge­sund­heit des al­ten Herrn. Aber er er­fuhr mit Er­stau­nen die na­hen Be­zie­hun­gen des Che­fre­dak­teurs zu Schmücke, der sich de­ren nie ge­rühmt hat­te.

»Ich mei­ne so­gar, Ihren Na­men schon ir­gend­wo ge­fun­den zu ha­ben, Herr, Herr – re…«

»Zum­see«, er­gänz­te An­dre­as.

»Herr Zum­see«, wie­der­hol­te Dok­tor Be­die­ner, und er strich mit zwei ge­spreiz­ten Fin­gern su­chend über sei­ne hohe Stirn. Dach­te er an den »Gum­pla­cher An­zei­ger«? An­dre­as hät­te gern von sei­nen Er­fol­gen und Hoff­nun­gen, von den Ge­dich­ten, der No­vel­le, Köpf, dem »Café Hur­ra« und Türk­hei­mer des län­ge­ren ge­spro­chen. Aber durch die un­ge­ahn­te Lie­bens­wür­dig­keit des mäch­ti­gen Man­nes ward in ihm ein sol­ches Ent­zücken er­regt, dass er, mi­nu­ten­lang stumm und rot vor hef­ti­ger Schwär­me­rei, den Dok­tor Be­die­ner an­sah.

Nie im Le­ben hat­te An­dre­as sol­che aus­ge­such­ten Ma­nie­ren ken­nen­ge­lernt, sol­che welt­män­ni­sche Hal­tung, sol­che na­tür­li­che Glät­te in je­der Be­we­gung, je­dem Blick und je­dem Wor­te. Dok­tor Be­die­ner saß ein we­nig seit­wärts über die Leh­ne ge­neigt, auf die er einen Arm stütz­te. Mit dem an­de­ren be­schrieb er zu­wei­len eine flüch­ti­ge, doch un­nach­ahm­lich run­de Ges­te, die al­les zu er­klä­ren schi­en, was er an­deu­ten woll­te. Sein Lä­cheln war of­fen­bar so ganz für sein Ge­gen­über be­stimmt, dass die­ses sich nicht den­ken konn­te, er wer­de je ei­nem an­de­ren so viel Auf­merk­sam­keit schen­ken. Er sprach zö­gernd, mit leicht ver­schlei­er­ter Stim­me und ließ das R weit hin­ten im Hal­se ver­schwin­den, was dis­tin­guiert klang. Er moch­te mit ei­nem ar­men jun­gen Man­ne noch so fa­mi­li­är tun, ohne es zu wol­len, be­wahr­te Dok­tor Be­die­ner in sei­nem gan­zen We­sen stets eine so vor­neh­me Zu­rück­hal­tung, dass es An­dre­as vor­kam, als stei­ge er aus ei­ner hö­he­ren Di­plo­ma­ten­sphä­re her­nie­der, wo­hin er je­den Au­gen­blick ent­rückt zu wer­den droh­te.

Er ließ die Fra­ge, wo er An­dre­as’ Na­men schon ge­fun­den ha­ben moch­te, nach ei­ni­ger Über­le­gung auf sich be­ru­hen, um sich zu er­kun­di­gen:

»Ha­ben Sie schon li­te­ra­ri­schen An­schluss ge­fun­den?«

»Es ist mir als ganz un­be­kann­tem An­fän­ger sehr schwer ge­fal­len«, er­wi­der­te An­dre­as be­schei­den.

»Ich ken­ne ein paar Re­dak­teu­re, zum Bei­spiel Dok­tor Pohl­atz.«

»Oh, Pohl­atz«, sag­te Dok­tor Be­die­ner mit ei­ner Hand­be­we­gung, die nicht viel Hochach­tung aus­zu­drücken schi­en. Doch setz­te er hin­zu:

»Ich schät­ze Pohl­atz per­sön­lich hoch, ich kann so­gar sa­gen, dass wir recht gute Freun­de sind.«

»Schon wie­der je­mand, mit dem ich ver­kehrt habe, ohne zu wis­sen, dass er mit dem Che­fre­dak­teur des ›Nacht­ku­rier‹ be­freun­det ist«, dach­te An­dre­as.

»Nur möch­te ich Ih­nen da­von ab­ra­ten«, fuhr Dok­tor Be­die­ner fort, »an sei­nem Blat­te mit­zu­ar­bei­ten. Es wür­de für Sie we­nig Wert ha­ben – dies un­ter uns.«

An­dre­as ver­beug­te sich, voll Ver­gnü­gen über die ver­trau­li­che Mit­tei­lung, de­ren er ge­wür­digt wur­de. Wie gut, dass Pohl­atz gar nicht dar­an ge­dacht hat­te, ihn beim »Ka­bel« ein­zu­füh­ren! Er lausch­te atem­los auf Dok­tor Be­die­ners Be­leh­rung.

»Alle die­se Blät­ter mit stren­ger Par­tei­rich­tung tau­gen nichts für ein aus­sichts­rei­ches Ta­lent«, sag­te der Che­fre­dak­teur. »Sie wür­den sich dort kom­pro­mit­tie­ren, ohne für den Ver­lust Ih­rer Selbst­stän­dig­keit ent­schä­digt zu wer­den. Bei uns da­ge­gen, wis­sen Sie wohl, be­hält je­der Mit­ar­bei­ter sei­ne Ei­gen­art. Der ›Nacht­ku­rier‹ hat vor al­len an­de­ren er­kannt, dass die Par­tei­pres­se sich über­lebt hat. Dass man eine ge­sun­de li­be­ra­le Wirt­schafts­po­li­tik ver­tritt, ver­steht sich von selbst; wir wä­ren ver­rückt, wenn wir es nicht tä­ten. (Hier voll­führ­te Dok­tor Be­die­ner eine Arm­be­we­gung, die ei­ner län­ge­ren Par­en­the­se gleich­kam.) Im Üb­ri­gen be­trach­ten wir uns als ein Or­gan der deut­schen Geis­tes­kul­tur.«

Dok­tor Be­die­ner hielt an; er war bei­na­he warm ge­wor­den. Aber er er­lang­te so­fort sein vor­neh­mes Gleich­ge­wicht wie­der, des­sen au­gen­blick­li­ches Ab­han­den­kom­men An­dre­as in sei­ner Hin­ge­ris­sen­heit gar nicht be­merkt hat­te. Der Che­fre­dak­teur be­trach­te­te den Ein­druck, den er auf den jun­gen Mann mach­te, mit Wohl­wol­len. Er lä­chel­te so­gar, denn er hat­te die Be­mer­kung ge­macht, dass An­dre­as’ Blick, der zwi­schen dich­ten und lan­gen Wim­pern her­vor­kam, in sei­ner Treu­her­zig­keit merk­wür­dig ein­schmei­chelnd sei, und dass die be­din­gungs­lo­se Ver­eh­rung, die er aus­drück­te, ei­ner Dame über­aus an­ge­nehm sein müs­se. Flüch­tig dach­te er so­gar an Frau Türk­hei­mer. Er zö­ger­te noch, denn der miss­lun­ge­ne schwar­ze Rock, der dem gut ge­wach­se­nen Jüng­ling et­was Un­ge­schick­tes gab, for­der­te zur Vor­sicht auf. Das Haar war er­bärm­lich ge­schnit­ten, doch trug An­dre­as den Kopf recht gut. Dann ent­schloss sich Dok­tor Be­die­ner.

»Sie soll­ten sich vor al­lem beim Thea­ter ein­füh­ren, ich mei­ne in den Krei­sen, die dem Thea­ter na­he­ste­hen.«

»Schon wie­der das Thea­ter«, dach­te An­dre­as. »Es muss doch et­was da­mit los sein.«

Er öff­ne­te den Mund, aber Dok­tor Be­die­ner schnitt sei­nen Ein­wand ab.

»Sie wer­den noch nichts für die Büh­ne ge­schrie­ben ha­ben, das tut nichts zur Sa­che. Man er­obert die Welt nicht mehr von der Schreib­stu­be aus. Auch der Schrift­stel­ler muss heut­zu­ta­ge mit sei­ner Per­son ein­tre­ten. Sie wer­den sich in der Ge­sell­schaft um­se­hen müs­sen.«

»Kom­men jetzt Türk­hei­mers?« frag­te sich An­dre­as.

Aber der Che­fre­dak­teur zö­ger­te wie­der.

»Hal­ten Sie sich vor­läu­fig an uns«, sag­te er. »Un­se­re Sonn­tags­bei­la­ge ›Die Neu­zeit‹ steht den jun­gen Ta­len­ten of­fen. Schi­cken Sie uns et­was, und nach zwei, drei Ver­su­chen rech­nen wir Sie zu un­se­ren Haus­dich­tern, die bei den Büh­nen na­tür­lich einen Vor­sprung ha­ben. Das ist das, was ich Ih­nen ver­spre­chen kann.«

Die letz­ten Wor­te sprach er lang­sa­mer, er schi­en auf et­was zu war­ten. Aber An­dre­as sah schon die Spal­ten des »Nacht­ku­ri­er« zu sei­nem Empfan­ge weit ge­öff­net. Sei­ne san­gui­ni­schen Hoff­nun­gen wur­den alle wie­der wach. Es ward ihm ganz heiß, und ohne sich zu be­dan­ken, ver­setz­te er:

»Herr Dok­tor, ohne die große un­ver­dien­te Güte, die Sie mir ent­ge­gen­brin­gen, wür­de ich nie ge­wagt ha­ben, Sie dar­um zu bit­ten, ver­zei­hen Sie, dass ich es jetzt wage: wür­den Sie mich als Vo­lon­tär auf­neh­men?«

Dok­tor Be­die­ners Mie­ne drück­te plötz­lich tie­fe Be­sorg­nis aus.

»Sie ir­ren sich«, sag­te er. »Ich mei­ne es mit den jun­gen Leu­ten, die mir emp­foh­len sind, zu gut, um sie auf die von Ih­nen be­zeich­ne­te Art kalt­zu­stel­len. Ha­ben Sie die drei­ßig Un­glück­li­chen ge­se­hen, die dort drü­ben die Zeit tot­schla­gen?«

An­dre­as be­griff, dass das Fens­ter im War­te­zim­mer zu sei­ner und sei­nes­glei­chen Ab­schre­ckung an­ge­bracht sei.

»Wen Herr Je­ku­ser dort hin­setzt, das geht mich nichts an«, fuhr Dok­tor Be­die­ner fort. »Aber ich sehe, dass man dort durch das vie­le Her­um­lun­gern faul und un­brauch­bar wird. Wer es am längs­ten aus­ge­hal­ten hat, bringt es schließ­lich zu ei­ner klei­nen An­stel­lung bei ei­nem Pro­vinz­blatt. Be­schrän­ken sich Ihre Träu­me dar­auf? – Nein, mein Lie­ber«, so schloss der Che­fre­dak­teur, »wir ha­ben es bes­ser mit Ih­nen im Sinn. Was wir Ih­nen ver­spre­chen kön­nen, habe ich schon ge­sagt. Sie wis­sen ja, wel­cher wirk­sa­men Emp­feh­lung Sie un­ser Wohl­wol­len ver­dan­ken.«

Bei je­dem der von Dok­tor Be­die­ner ge­brauch­ten, ge­schäfts­mä­ßig küh­len »wir« über­rie­sel­te es An­dre­as kalt. Er ward sich be­wusst, dass sei­ne per­sön­li­che Un­ter­re­dung mit ei­nem ho­hen Gön­ner be­en­det sei, und dass er sich nur noch als na­men­lo­ser Bitt­stel­ler ei­nem Mäch­ti­gen ge­gen­über be­fin­de. Und dies bloß in­fol­ge sei­ner plum­pen Un­ge­schick­lich­keit; weil er durch eine dum­me Bit­te den gan­zen schö­nen Er­folg des bis­he­ri­gen Ge­sprä­ches zer­stört hat­te! Nun fühl­te er Dok­tor Be­die­ners Blick mit der deut­li­chen An­kün­di­gung auf sich ru­hen, dass die Au­di­enz be­en­det sei. Und nun wand­te sich der Che­fre­dak­teur ganz un­ver­hoh­len der Stutz­uhr auf dem brei­ten Schreib­ti­sche zu. Der arme jun­ge Mann biss sich auf die Lip­pen. Er war bleich und ver­wirrt, doch fest ent­schlos­sen, sich lie­ber vom Re­dak­ti­ons­die­ner hin­aus­set­zen zu las­sen, als un­ver­rich­te­ter Din­ge frei­wil­lig zu ge­hen.

»Ich habe nichts mehr zu ris­kie­ren«, sag­te sich An­dre­as. »Gehe ich jetzt, so hin­ter­las­se ich den denk­bar schlech­tes­ten Ein­druck.« – »Ich muss die Emp­feh­lung an Türk­hei­mer ha­ben«, wie­der­hol­te er sich hart­nä­ckig und starr­te auf den hell­ge­blüm­ten eng­li­schen Tep­pich, der den Bo­den des Zim­mers be­deck­te. Er woll­te ein nied­rig hän­gen­des Öl­ge­mäl­de be­trach­ten, doch ver­sag­te ihm der Mut. Sein Blick wag­te sich nicht hö­her als bis zu Dok­tor Be­die­ners Lack­schu­hen und den wei­ßen Ga­ma­schen, über die das graue Bein­kleid mit un­säg­li­cher Ele­ganz her­ab­fiel. Wäre der Che­fre­dak­teur nur ein be­lie­bi­ges großes Tier ge­we­sen, vor dem ein ar­mer jun­ger Mann wie An­dre­as im Stau­be krie­chen muss­te! Aber er ge­bot ihm Ach­tung als Per­sön­lich­keit; dar­in lag das De­mü­ti­gen­de. Vor Er­re­gung ward An­dre­as von Ohren­sau­sen be­fal­len. Da­zwi­schen hör­te er Dok­tor Be­die­ner auf den Rand des Schreib­ti­sches trom­meln. Er warf einen ängst­li­chen Blick von un­ten her­auf, die Si­tua­ti­on war nicht län­ger halt­bar. Aber zu sei­ner Ver­wun­de­rung dreh­te der Che­fre­dak­teur Herrn Schmückes Brief in der Hand. Er sah so­gar mit ei­nem hal­b­en Lä­cheln dar­über hin­weg auf den jun­gen Mann, des­sen Stand­haf­tig­keit ihm schließ­lich viel­leicht Ach­tung ab­ge­wann. Der schwar­ze Rock muss­te al­ler­dings mit in den Kauf ge­nom­men wer­den. Den­noch über­wog das Emp­feh­len­de in An­dre­as’ Er­schei­nung. Auch war Herr Schmücke Gum­plachs ge­wich­tigs­ter li­be­ra­ler Wäh­ler.

»Die ge­sell­schaft­li­chen Ver­bin­dun­gen«, sag­te Dok­tor Be­die­ner, »be­trach­te ich, wie ge­sagt, als eine Haupt­sa­che. Ich bin auch gern be­reit, Ih­nen den An­fang zu er­leich­tern. War­ten Sie, ich wer­de Sie an ein Haus emp­feh­len, wo die aus­sichts­rei­chen Ta­len­te stets mit Wohl­wol­len auf­ge­nom­men wer­den. Die Haus­frau sam­melt die Blü­te un­se­rer kunst­sin­ni­gen Ge­sell­schaft um sich, Sie wer­den ein­fluss­rei­chen Leu­ten be­geg­nen. Pro­fi­tie­ren Sie von dem Ton, der bei Türk­hei­mers herrscht, lie­ber Freund!«

Da­mit übergab er An­dre­as die Vi­si­ten­kar­te, die er wäh­rend des Spre­chens mit ein paar Zei­len be­schrie­ben hat­te. Der jun­ge Mann sprang auf. In dem Stolz, den er über die Er­rei­chung sei­nes Zie­les emp­fand, steck­te er den kost­ba­ren Um­schlag so flüch­tig in die Brust­ta­sche, als käme es ihm gar nicht dar­auf an. Die­ser Zug moch­te den Bei­fall des Che­fre­dak­teurs fin­den, der die Hand auf An­dre­as’ Schul­ter leg­te und ihn sehr freund­lich zur Tür ge­lei­te­te. Im Vor­zim­mer konn­te je­der­mann hö­ren, wie Dok­tor Be­die­ner zu dem sich Ver­ab­schie­den­den sag­te:

»Auf Wie­der­se­hen, lie­ber Freund!«

»Merk­wür­dig«, dach­te An­dre­as, der blind vor Glück die Trep­pe hin­a­beil­te, »ich mein­te schon, es ganz mit ihm ver­dor­ben zu ha­ben, und jetzt bin ich gar sein lie­ber Freund, wie Schmücke und Pohl­atz. Nur nicht ängst­lich!« sag­te er sich tri­um­phie­rend, aber auf dem Trep­pen­ab­satz rann­te er mit ei­nem her­auf­stür­men­den Men­schen so hef­tig zu­sam­men, dass bei­de sich an­ein­an­der­klam­mern muss­ten, um nicht um­zu­fal­len.

»Wa­rum sa­gen Sie das nicht gleich?« ver­setz­te der Frem­de, wäh­rend sie sich um­armt hiel­ten. Dann hob er die Blu­me auf, die sei­nem Knopf­loch ent­glit­ten war.

Trotz ih­rer stür­mi­schen Be­geg­nung emp­fing An­dre­as einen güns­ti­gen Ein­druck von dem an­de­ren. Es war ein mit­tel­großer, un­ter­setz­ter jun­ger Mann, der einen Zy­lin­der trug. Sei­ne Klei­dung war ziem­lich ele­gant, von ei­ner Al­ler­welt­se­le­ganz, die nir­gends auf­fal­len konn­te. Sein Ge­sicht zeig­te eben­falls nichts Her­vor­ste­chen­des, er konn­te einen mit sei­nem for­schen­den Hun­de­blick an­se­hen und ei­nem ge­ra­de un­ter der Nase um­her­schnüf­feln, ohne dass man dies un­ver­schämt fand. Er hat­te et­was so Hei­te­res und Gut­mü­ti­ges an sich, dass man ihn ge­wiss an­stands­los über­all ein­ließ, ihm al­les mög­li­che an­ver­trau­te und da­bei gar nicht auf ihn ach­te­te. Was wäre für einen Re­por­ter wün­schens­wer­ter? Schon wie er An­dre­as lie­bens­wür­dig bei­sei­te schob, um sich Platz zu ma­chen, war es deut­lich, dass er über­all durch­kom­men und al­les er­fah­ren muss­te, was er woll­te, ohne auf Hin­der­nis­se zu tref­fen. So un­per­sön­lich wie er aus­sah, war ein Zu­sam­men­stoß mit ihm ei­gent­lich gar kei­ner.

Er stieg zwei Stu­fen hö­her, kam aber ei­lig zu­rück und sag­te:

»Ach, Par­don, hö­ren­se­mal! Da wir nun doch Be­kannt­schaft ge­macht ha­ben, kön­nen Sie mir viel­leicht sa­gen, ob der Chef gu­ter Lau­ne ist. Sie kom­men doch vom Chef.«

»Ich war beim Dok­tor Be­die­ner«, be­stä­tig­te An­dre­as.

»Kön­nen Sie mir sa­gen, was Sie da ge­macht ha­ben?« frag­te der an­de­re, und er schlug da­bei einen so freund­schaft­lich zu­spre­chen­den Ton an, dass An­dre­as so­fort die Über­zeu­gung ge­wann, er kön­ne im ei­ge­nen In­ter­es­se nichts Bes­se­res tun, als dem Frem­den sa­gen, was er beim Dok­tor Be­die­ner ge­macht habe.

»Nun, ich war an den Che­fre­dak­teur emp­foh­len«, ver­setz­te er.

»Aha, Sie sind wohl ein neu­er Kol­le­ge. Sehr er­freut!«

Er schüt­tel­te An­dre­as die Hand, ver­beug­te sich und sag­te:

»Kaf­lisch, vom ›Nacht­ku­rier‹.«

»An­dre­as Zum­see.«

»Vo­lon­tär, was?«

»Doch nicht«, sag­te An­dre­as stolz ab­leh­nend, als habe er nie den Wunsch ge­hegt, als Hilfs­ar­bei­ter in die Re­dak­ti­on ein­zu­tre­ten.

»Dann hat er Ih­nen wohl die Mit­ar­beit an der ›Neu­zeit‹ an­ge­bo­ten?«

An­dre­as sah den schlau lä­cheln­den Jour­na­lis­ten an. Kaf­lisch nahm die Über­ra­schung des Neu­lings für eine Ant­wort und frag­te wei­ter:

»Sa­gen­se­mal, hat er Sie auch an Türk­hei­mers emp­foh­len?«

»Na, herz­li­chen Glück­wunsch!« sag­te er, als An­dre­as be­jah­te. »Ein fei­nes Haus und ’ne schö­ne Frau.«

Er schmatz­te da­bei so stim­mungs­voll, dass An­dre­as plötz­lich al­ler­lei dunkle Be­gier­den emp­fand.

»Und bes­ten Dank, sehr ge­ehr­ter Herr. Wenn der Alte einen zu Türk­hei­mers schickt, dann ist er un­fehl­bar gu­ter Lau­ne. Dann kann ich ihm mit mei­nen Ge­schich­ten kom­men. Es ist ja ’n Elend, nie mehr als zehn Pfen­ni­ge für die Zei­le und da­bei noch den Staat er­hal­ten! Jetzt will ich vor den Ge­richts­voll­zie­hern nach Bres­lau flüch­ten, wis­sen­se, wo jetzt der Lust­mord­pro­zess an­fängt. Be­die­ner gibt mir die Be­richt­er­stat­tung, pas­sen­se mal auf. Wenn er zu Ih­nen so nett ist und Sie zu Türk­hei­mers schickt, dann tut er mir auch ’ne Lie­be. Na, Mahl­zeit, und viel Ver­gnü­gen! Auf Wie­der­se­hen!«

Er war schon dro­ben im Vor­zim­mer ver­schwun­den, als An­dre­as ihm noch nach­schau­te. Die­ser Kaf­lisch be­frem­de­te ihn zwar et­was, aber sein We­sen war nicht ge­ra­de ab­sto­ßend. Er ver­söhn­te mit sei­ner zu­dring­li­chen Neu­gier da­durch, dass er auch in sei­nen ei­ge­nen An­ge­le­gen­hei­ten kei­ne Dis­kre­ti­on kann­te.

Auf der Stra­ße wand­te sich An­dre­as um und sah zur Fassa­de des Hau­ses em­por, über die die In­schrift »Ber­li­ner Nacht­ku­ri­er« in mäch­ti­gen Re­lief­let­tern quer hin­über­lief. Der Au­gen­blick schi­en ihm fei­er­lich, er fühl­te, dass hier die ihm vor­ge­schrie­be­ne Lauf­bahn be­gann.

Zu Hau­se ging er so­fort an die Sich­tung sei­ner Gar­de­ro­be. Es hat­te sei­ne Schwie­rig­keit, einen pas­sen­den Vi­si­ten­an­zug zu­sam­men­zu­stel­len, da je­des der hel­len Bein­klei­der den einen oder an­de­ren Man­gel auf­wies. Seuf­zend ent­schloss sich der arme jun­ge Mann zu der Frack­ho­se, die zu­sam­men mit dem ver­un­glück­ten schwar­zen Rock schon dem Dok­tor Be­die­ner un­vor­teil­haft auf­ge­fal­len war. An­dre­as hat­te dies wohl be­merkt. Er be­saß ein an­ge­bo­re­nes Ver­ständ­nis für gute Klei­dung, das sich in Ber­lin rasch aus­ge­bil­det hat­te. So oft er über die Fried­rich­stra­ße ging, fing er den wohl­wol­len­den Blick ir­gend­ei­nes hüb­schen Mäd­chens auf, den sie aber ei­lig zu­rück­zog, so­bald sie den Rock des jun­gen Man­nes ab­ge­schätzt hat­te. Die­se schlan­ken, blon­den Mäd­chen, die am Arm klei­ner ge­schnie­gel­ter Her­ren mit blan­ken Zy­lin­dern auf schwarz­ge­lock­ten Häup­tern da­hin­wan­del­ten, ahn­ten nicht, wie tief sie An­dre­as ver­wun­de­ten. Heu­te, wie schon oft, stu­dier­te er lan­ge in sei­nem Ra­sier­spie­gel, und er sah bes­ser als je­der an­de­re, warum der An­zug, der doch we­nig ge­tra­gen war, ihm so et­was trau­rig Un­ge­schick­tes ver­lieh. Der Ge­dan­ke, dass in ganz Ber­lin kein Schnei­der auf sein Glück und Ta­lent ver­trau­en und ihm Kre­dit ge­ben wür­de, drück­te ihn tief da­nie­der und hielt ihn zwei Tage von dem Be­su­che bei Frau Türk­hei­mer ab.

Mit dem Mute der Verzweif­lung schlug er end­lich den Weg in die Pots­da­mer Stra­ße ein. Er ging die Kö­ni­gin-Au­gus­ta-Stra­ße ent­lang und bog ent­schlos­sen in die Hil­de­brandt-Pri­vat­stra­ße ein, eine stil­le mit Sand be­streu­te Al­lee, die an bei­den En­den durch ein Git­ter ab­ge­schlos­sen war. Das Palais Türk­hei­mer fiel als das groß­ar­tigs­te un­ter den Ge­bäu­den je­dem Passan­ten auf. Es war in ei­nem deut­schen Re­naissance­stil er­baut, den man auf sei­ne Echt­heit nicht nä­her an­se­hen durf­te. An­dre­as schell­te an dem rei­chen bron­ze­nen Gar­ten­tor, und es öff­ne­te sich ohne das Er­schei­nen ei­nes Men­schen. Ein­sam wie der Mär­chen­prinz, der ein ver­wun­sche­nes Schloss er­obert, schritt der jun­ge Mann über eine Art von Bur­g­hof, be­trat eine ma­je­stä­ti­sche Freitrep­pe und stand vor der ele­gan­ten Glas­tür, die in die Wöl­bung des kunst­voll ge­mei­ßel­ten Por­tals von pro­fa­nen Hän­den ein­ge­fügt schi­en.

Die Tür ging auf, doch der grün-sil­ber­ne La­kai, der An­dre­as ent­ge­gen­trat, be­saß die Macht, den mu­ti­gen Ero­be­rer von der Schwel­le sei­nes Pa­ra­die­ses zu­rück­zu­scheu­chen. Er sag­te, dass die gnä­di­ge Frau nicht zu Hau­se sei. Un­ter dem ers­ten Ein­druck die­ser Nach­richt übergab ihm der jun­ge Mann sei­ne Kar­te und das Bil­lett des Dok­tor Be­die­ner. Gleich dar­auf fiel ihm ein, dass er dies nicht hät­te tun sol­len. Er blick­te bleich vor Wut dem Die­ner in das un­ver­schäm­te Ge­sicht und stand im Be­grif­fe, einen Schlag hin­ein­zu­ver­set­zen. »Wenn es nicht mei­nem In­ter­es­se zu­wi­der­lie­fe«, sag­te er sich, »wür­de ich es tun. Üb­ri­gens kann ich ihm sei­ne Un­ver­schämt­heit nicht nach­wei­sen, sie ist ver­steckt wie im­mer bei sol­chen Men­schen.«

Er ging mit der Last sei­ner ver­nich­te­ten Hoff­nung auf der Brust die Stra­ße zu Ende und be­fand sich am Tier­gar­ten. Zwei Stun­den lang trieb ihn sein ent­täusch­ter Ehr­geiz in den ent­laub­ten We­gen um­her. Er fühl­te sich so leer und ziel­los wie an dem Tage, als er mit dem »Café Hur­ra« zu bre­chen be­schloss. Aber in­zwi­schen hat­te er Schrit­te ge­tan, die nicht so leicht zu wie­der­ho­len wa­ren. Wenn nun der fre­che La­kai, der ihn wie einen stel­lung­su­chen­den Kan­di­da­ten ge­mus­tert hat­te, die Kar­te des Che­fre­dak­teurs nicht ab­gab?

Aber schon am fol­gen­den Mor­gen er­hielt An­dre­as mit der Post eine Ein­la­dung zum Abend des zehn­ten No­vem­ber von Frau Adel­heid Türk­hei­mer.

1 leich­ter, zwei­rei­hi­ger Her­ren­man­tel <<<

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