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IV. Türkheimers

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An­dre­as Zum­see er­schi­en, weil er dies für vor­neh­mer hielt, sehr spät auf der Soi­ree in der Hil­de­brandt­stra­ße. An dem bron­ze­nen Gat­ter, das dies­mal weit auf­stand, stieß ein ma­je­stä­ti­scher Por­tier sei­nen Stab auf den Bo­den. An­dre­as blick­te ihm ins Ge­sicht, es drück­te aber nur im­po­san­te Käl­te aus. Der La­kai, der ihm sei­nen Man­tel ab­nahm, war zu­fäl­lig der­sel­be, den er kann­te. An­dre­as sah ihn nicht ein­mal an. »Du hast mich nicht hin­dern kön­nen, her­zu­kom­men«, dach­te er.

Das Selbst­be­wusst­sein, mit dem er sei­nen Ein­tritt voll­führ­te, er­stick­te sei­ne ge­hei­me Ver­le­gen­heit, mach­te ihn aber auch un­vor­sich­tig. Als­bald stieß ihm ein klei­nes Un­glück zu. Ne­ben der Gar­de­ro­be lag ein Vor­zim­mer, das An­dre­as auf den ers­ten Blick für leer hielt. Er be­trat es, ohne sich an­zu­kün­di­gen, aber schon nach zwei Schrit­ten stand er auf der Schlep­pe ei­nes Abend­man­tels. Es war ein Man­tel aus gel­ber Sei­de mit Bro­kat­sti­cke­rei, ge­füt­tert mit Sa­tin-Du­ches­se. Und An­dre­as konn­te sich nicht schnell ge­nug zu­rück­zie­hen, um nicht mehr zu be­mer­ken, dass die Be­sit­ze­rin des Man­tels von dem jun­gen Man­ne, der ihn ihr ab­nahm, einen Kuss emp­fing. Es war eine große star­ke Blon­di­ne, und das wü­ten­de Ge­sicht mit der auf­ge­stülp­ten Nase, das sie An­dre­as zu­wand­te, er­füll­te ihn mit sol­chem Schre­cken, dass er un­ter ge­stam­mel­ten Ent­schul­di­gun­gen recht kläg­lich bei­sei­te schlich.

Gleich dar­auf, wie er die Trep­pe zum ers­ten Stock hin­an­stieg, fie­len ihm die geist­reichs­ten Wen­dun­gen ein, mit de­nen er sein Un­ge­schick hät­te gut­ma­chen kön­nen. Ganz zer­schla­gen von dem Be­wusst­sein, der Lage nicht ge­wach­sen ge­we­sen zu sein, ließ er sich durch zwei Säle von ei­nem Strom von Gäs­ten fort­zie­hen, der ihn an das Bü­fett führ­te. Im Ge­drän­ge stieß er ei­nem dis­tin­guiert aus­se­hen­den al­ten Herrn hef­tig ge­gen die Schul­ter und brach­te nicht ein­mal mehr ein Wort der Ab­bit­te her­vor, ganz ent­setzt über sein neu­es Miss­ge­schick. In­des sag­te der alte Herr ver­bind­lich »Par­don« und reich­te An­dre­as Tel­ler und Be­steck. Der arme jun­ge Mann ge­wahr­te jetzt die sei­de­nen St­rümp­fe des Haus­hof­meis­ters und wand­te sich mit blut­ro­tem Ge­sicht hin­weg.

Vor ihm stan­den Kü­bel mit Sekt­fla­schen. Ein Die­ner war­te­te auf sei­nen Wink, um ihm ein­zu­schen­ken. Aber An­dre­as be­fürch­te­te, man möch­te ihm an­se­hen, dass er noch nie­mals Cham­pa­gner ge­nos­sen habe. Er woll­te einen Wein wäh­len, als man hin­ter ihm lach­te. Die ver­schie­de­nen De­mü­ti­gun­gen, die er in so kur­z­er Zeit er­lit­ten hat­te, brach­ten ihn au­ßer sich, er war im Be­grif­fe, sei­ne Zu­kunft durch einen Skan­dal zu ver­der­ben. Sehr bleich dreh­te er sich nach zwei Her­ren in sei­ner Nach­bar­schaft um, er war ent­schlos­sen, den ers­ten, der ihn schief an­zu­se­hen wag­te, zu ohr­fei­gen. Als die bei­den je­doch sein Ge­sicht be­merk­ten, schie­nen sie es gar nicht ge­we­sen zu sein. Der eine von ih­nen sprach An­dre­as an, und auch das stärks­te Miss­trau­en konn­te in sei­ner Stim­me nur ru­hi­ge Höf­lich­keit ent­de­cken.

»Ich rate Ih­nen zu dem Cha­b­lis dort«, sag­te er. »Es ist das Feins­te, was hier zu ha­ben ist.«

An­dre­as dank­te und trank mit wie­der­ge­won­ne­ner Fas­sung meh­re­re Glä­ser. Da der Wein in einen nüch­ter­nen Ma­gen ge­lang­te, brach­te er bald die freund­lichs­te Wir­kung her­vor. Als An­dre­as den letz­ten Trop­fen ge­trun­ken hat­te, tri­um­phier­te er. »Die bei­den Job­ber ha­ben vor mei­nem Ge­sicht Furcht ge­habt«, sag­te er sich.

Er emp­fand das Be­dürf­nis, zu spre­chen; man schi­en sich hier ja un­be­kann­ter­wei­se an­zu­re­den.

»Da ist ja Kaf­lisch!« rief er plötz­lich, als be­grüß­te er einen lan­ge ver­miss­ten Freund. Der Jour­na­list zeig­te sich am Arm ei­nes kor­pu­len­ten Herrn mit kur­z­em schwar­zen Spitz­bart, schwe­ren Li­dern und von dem Aus­se­hen ei­ner be­deu­ten­den Per­sön­lich­keit. An­dre­as mein­te ihn zu er­ken­nen.

Kaf­lisch mus­ter­te den Fremd­ling. Als er ihn in sei­nem Ge­dächt­nis un­ter­ge­bracht hat­te, schüt­tel­te er ihm die Hand.

»Freut mich, Sie wie­der­zu­se­hen. Nu sehn­se­woll, wie ’ne Emp­feh­lung von un­ser’m Al­ten hier wirkt?«

»Fa­mos!« sag­te An­dre­as. Er fühl­te sich un­ter­neh­mungs­lus­tig. Er er­kun­dig­te sich:

»Wis­sen Sie nicht, wo die Haus­frau ist?«

»Kom­men Sie von Ra­ti­bohr?« frag­te der kor­pu­len­te Herr. Der jun­ge Mann stutz­te.

»Nein, von Gum­plach«, er­wi­der­te er.

Der Herr lä­chel­te ihn wohl­wol­lend an. Kaf­lisch brach in Ge­läch­ter aus.

»Gold­herz meint, ob Sie der Haus­frau von Herrn Ra­ti­bohr was zu sa­gen ha­ben. Sie wol­len sich ihr wohl nur vor­stel­len? Hat ja gar kei­nen Zweck.«

Der kor­pu­len­te Herr folg­te ge­lang­weilt dem Ruf ei­nes Be­kann­ten. Kaf­lisch nahm An­dre­as’ Arm wie den ei­nes Ju­gend­freun­des.

»War das der be­rühm­te Ver­tei­di­ger?« frag­te der jun­ge Mann.

»Ihn selbst ha­ben Ihre sterb­li­chen Au­gen ge­se­hen. Wis­sen­se, den müs­sen Sie ken­nen­ler­nen.«

Im Men­tor­ton setz­te Kaf­lisch hin­zu:

»Von de­nen, die hier sind, kann kei­ner sa­gen, dass er ihn nicht ei­nes Ta­ges nö­tig ha­ben wird.«

»Wie geht es Ih­nen sonst?« frag­te er gleich dar­auf. »Ist Be­die­ner nett zu Ih­nen?«

»Sehr«, sag­te An­dre­as. »Vo­ri­gen Sonn­tag ist was von mir er­schie­nen.«

»Aha, das Ge­dicht in der ›Neu­zeit‹.«

»Ha­ben Sie es ge­le­sen?«

»Das kön­nen Sie nicht ver­lan­gen. Aber von je­dem aus­sichts­rei­chen Ta­lent, das an den Al­ten emp­foh­len ist, bringt die ›Neu­zeit‹ ein Ge­dicht. Auf das zwei­te kön­nen Sie lan­ge war­ten. – Da ha­ben Sie Asta«, setz­te er schnell hin­zu, stieß An­dre­as an und wand­te sich un­ver­fro­ren nach ei­ner vor­über­ge­hen­den Dame um.

»Wer, Asta?« frag­te An­dre­as, der Kaf­lisch’ Bei­spiel folg­te. Aber sei­ne wein­se­li­ge Auf­ge­räumt­heit räch­te sich so­fort, er trat der Dame auf die Schlep­pe, und sie zeig­te ihm ein Ge­sicht vol­ler Ver­ach­tung.

»Nu ha­ben Sie sie doch mal an­ge­se­hen«, sag­te Kaf­lisch freund­lich. Die Dame ging wei­ter, ei­nem lan­gen, blon­den Herrn mit schüt­term Bart ent­ge­gen, der ihr über den Köp­fen der Men­ge, hin­ten an der Tür zu­wink­te.

An­dre­as war jetzt nicht mehr so leicht aus der Fas­sung zu brin­gen. Er frag­te, über­mü­tig la­chend:

»Sa­gen Sie doch, wer ist denn die Asta?«

»Die Toch­ter vom Hau­se, mein jun­ger Freund. Und wenn die hier spa­zie­ren­geht, so kön­nen Sie glau­ben, dass die Mut­ter ganz wo an­ders ist.«

»Wa­rum?« frag­te An­dre­as. Er war doch leicht er­schro­cken.

»Wa­rum? Die lie­be Un­schuld! Asta ist ’n Mäd­chen mit Grund­sät­zen, das heißt, sie geht à la Ib­sen fri­siert, mo­der­nes Weib, mehr in­tel­lek­tu­ell als Ge­schlechts­we­sen, ver­stehn­se mich, sehr ge­ehr­ter Herr?«

Kaf­lisch sprach mit der Nase dicht an An­dre­as’ Mund und sehr laut. Es lag ihm of­fen­bar nichts dar­an, sein Licht un­ter den Schef­fel zu stel­len. Um sie her fing man an zu la­chen. An­dre­as fühl­te die Auf­merk­sam­keit auf sich ge­rich­tet, was ihm schmei­chel­te.

»Und die Mut­ter?« frag­te er mit er­ho­be­ner Stim­me, wäh­rend sie weiter­schlen­der­ten.

»Die ist ’ne gute Frau«, er­klär­te Kaf­lisch leicht­hin. »So­gar zu gut ge­gen uns jun­ge Leu­te.«

»Ich ver­ste­he«, sag­te An­dre­as mit ei­ner Be­to­nung, die er für viel­sa­gend hielt.

»Kommt dort nicht Liz­zi Laffé?« frag­te er. Der Name je­ner Dame, die er schon im Vor­zim­mer durch sei­ne In­dis­kre­ti­on be­lei­digt hat­te, war ihm zu sei­nem Schre­cken ein­ge­fal­len. Er kann­te sie von der Büh­ne her, der sie an­ge­hör­te, und Liz­zis Be­zie­hun­gen zu Türk­hei­mer wa­ren im »Café Hur­ra« des öf­te­ren er­ör­tert.

»Abend, Liz­zi«, sag­te Kaf­lisch, der ihr im Vor­über­ge­hen die Hand schüt­tel­te. Sie be­merk­te An­dre­as gar nicht, der voll Ehr­furcht fest­stell­te, dass ihre Toi­let­te, seit sie den gelb­sei­de­nen Man­tel ab­ge­legt, an Prunk noch nichts ver­lo­ren hat­te. Er schau­te ihr vor­sich­tig nach, wie sie in ih­rer alle ein­schüch­tern­den Üp­pig­keit, mit Bril­lan­ten über­sät, am Arm des­sel­ben Herrn da­hin­schritt, mit dem er sie über­rascht hat­te. Es war ein ge­schnie­gel­ter jun­ger Mann, mit bart­lo­sem, doch her­aus­for­dern­dem Ge­sicht, breit­schult­rig, be­leibt und von der Hal­tung ei­nes Korps­stu­den­ten.

»Also Liz­zi ist auch da!«

An­dre­as be­müh­te sich, recht harm­los zu spre­chen. Die Be­geg­nung mit die­ser Frau, die ei­ner be­lei­dig­ten Her­zo­gin glich, hat­te ihn völ­lig er­nüch­tert. Auch sah ihr Beglei­ter ge­fähr­lich aus.

»Na, sie ge­hört hier ja zum In­ven­tar«, setz­te An­dre­as hin­zu. Kaf­lisch grins­te.

»So­lan­ge es dau­ert, heißt das. Türk­hei­mer soll sie satt ha­ben. Ko­misch, ge­ra­de jetzt, wo sei­ne Frau den Edel­berg los ist, wis­sen­se?«

»Hab’ ich auch ge­hört«, log An­dre­as, der sich vor­nahm, ohne wei­te­res al­les zu be­grei­fen.

»Es ist aber nicht schön von Liz­zi«, sag­te er ver­trau­lich, »was ich vor­hin zwi­schen ihr und dem jun­gen Mann ge­se­hen habe, mit dem sie eben vor­bei­kam.«

Kaf­lisch horch­te auf.

»Mit dem, der so staats­er­hal­tend aus­sieht?« frag­te er. »Nun, was mach­ten sie denn?«

»Sie küss­ten sich.«

»Mehr nicht?«

Kaf­lisch war ent­täuscht. An­dre­as such­te sich zu ent­schul­di­gen.

»Na, hier im Hau­se –« mein­te er.

»Un­sinn. Die­de­rich Klemp­ner ist ja ihr Schoß­hünd­chen. So’n Pos­ten soll­ten Sie sich auch su­chen, mein Lie­ber. Klemp­ner ist ein Stre­ber, aber ohne Liz­zi wäre er nichts ge­wor­den.«

»Was ist er denn?« frag­te An­dre­as.

»Das wis­sen Sie nicht? Dra­ma­ti­ker doch!«

»Klemp­ner? Ich habe ihn nie auf dem Thea­ter­zet­tel ge­se­hen.«

»Die lie­be Un­schuld! Ist ja gar nicht nö­tig, er schreibt nie was, aber Dra­ma­ti­ker ist er doch.«

»Wie­so?« frag­te An­dre­as ziem­lich kurz. Er fand den Aus­druck »Die lie­be Un­schuld« et­was zu her­ab­las­send. Kaf­lisch er­läu­ter­te:

»Wenn er was schrei­ben wür­de, dann wür­de es viel­leicht ein Dra­ma wer­den. Ver­stehn­se mich?«

Sie be­tra­ten jetzt den ers­ten der drei großen Sa­lons, in de­ren Tie­fe man hin­einsah. Er war blass­grün, der zwei­te pur­pur­rot und der drit­te bleu mou­rant1 und Ro­ko­ko. Eine er­staun­li­che Men­schen­men­ge er­schwer­te das Wei­ter­kom­men, aber Kaf­lisch be­saß das Ta­lent, über­all Platz zu fin­den. An­dre­as wun­der­te sich über die Men­ge von Hän­de­drücken, die er rechts und links aus­teil­te. Er schob die Leu­te mit ei­nem freund­schaft­li­chen Scherz bei­sei­te und wand sich hin­durch.

Man hör­te schon von Wei­tem eine Grup­pe von Her­ren strei­ten, die Bör­sen­be­su­cher sein muss­ten, denn sie spra­chen von ei­nem Herrn Schme­er­bauch, der die Ge­wohn­heit hat­te, je­den Tag mit ei­ner neu­en Hose zur Bör­se zu kom­men. Heu­te hat­te er eine schon be­kann­te an­ge­habt, was al­ler­lei Zwei­fel er­reg­te. Man rief einen un­ter­setz­ten, be­hä­bi­gen Herrn an, der mit ei­ner schlan­ken jun­gen Blon­di­ne vor­über­ging.

»Blosch! Wis­sen Sie was über Schme­er­bauch?«

»Ist ja al­les nicht wahr!« sag­te Blosch phleg­ma­tisch.

»Das mit der Hose?« frag­te je­mand.

»Ein An­fall von Me­lan­cho­lie«, ver­setz­te Blosch. »Schme­er­bauch hat eine un­glück­li­che Lie­be.«

Schme­er­bauchs Kre­dit war wie­der her­ge­stellt.

»Der Glück­li­che!« seufz­te ein schlan­ker jun­ger Mann mit fei­nem schwar­zen Schnurr­bart und man­del­för­mi­gen dunklen Samtau­gen, de­nen ge­wiss noch kei­ne wi­der­stan­den hat­te.

»Duschnitz­ki, wenn Sie re­nom­mie­ren, möch­te man Sie prü­geln, so dumm se­hen Sie aus«, sag­te ein an­de­rer. Duschnitz­ki ent­geg­ne­te sanft:

»Süß! Die lie­be Un­schuld!«

»Schon wie­der die lie­be Un­schuld«, be­merk­te An­dre­as für sich.

»Da ist ja Kaf­lisch!« rie­fen die an­de­ren.

»Kaf­lisch, wis­sen Sie was von ›Ra­che!‹?«

»Durch!« ant­wor­te­te der Jour­na­list. »Türk­hei­mer hat es durch sei­nen Schwie­ger­sohn in spe beim Po­li­zei­prä­si­den­ten durch­ge­setzt.«

»Ja, wenn man einen Schwie­ger­sohn im Mi­nis­te­ri­um hat. Hochs­tet­ten ist doch Ge­hei­mer Rat?«

»Und nicht zu sei­nem Ver­gnü­gen. Vor­läu­fig muss er Türk­hei­mer einen Or­den ver­schaf­fen. Man weiß nicht wel­chen, aber ir­gend­ei­ner soll im Hei­rats­kon­trakt in­be­grif­fen sein. Der Son­nen­or­den von Pu­er­to Vergo­gna tut es nicht mehr. Und dann muss er ›Ra­che!‹ auf­füh­ren las­sen.«

»Ganz und gar?«

»Mit lum­pi­gen Än­de­run­gen«, er­klär­te Kaf­lisch. »Der Bar­ri­ka­den­kampf, die Er­mor­dung des Ver­wal­tungs­rats durch die em­pör­ten Pro­le­ta­ri­er, die Aus­peit­schung der Ban­kiers­frau auf of­fe­ner Stra­ße, al­les darf blei­ben. Bloß das biss­chen Kir­chen­schän­dung und die Be­nut­zung der ge­weih­ten Ge­fäße zu un­sau­be­ren Zwe­cken muss weg.«

»Zu­stand!«

»Frech­heit!«

Man rief durch­ein­an­der.

»Darf man nur uns auf der Büh­ne ver­ge­wal­ti­gen und die Pfaf­fen nicht? Was ha­ben die vor uns vor­aus?«

»Die Re­li­gi­on ist doch eine Sa­che für sich«, sag­te die schlan­ke jun­ge Frau, die mit Blosch ge­kom­men war. Ei­ner der Her­ren be­merk­te:

»Die lie­be Un­schuld!«

An­dre­as wun­der­te sich nicht mehr, dass man ihn selbst mit dem Aus­druck an­re­de­te, da er auch ei­ner Dame an den Kopf ge­wor­fen wur­de. Üb­ri­gens kehr­te das Wort im­mer wie­der. Je­der, der nur zwei Sät­ze sprach, war es sich schul­dig, es zu ge­brau­chen. In­des fühl­te An­dre­as die Ver­pflich­tung, für die jun­ge Frau Par­tei zu neh­men. Auch fürch­te­te er al­bern da­zu­ste­hen, wenn er noch län­ger schwieg.

»Die gnä­di­ge Frau hat recht«, sag­te er mit Ent­schie­den­heit. »Die Re­li­gi­on muss aus dem Spiel blei­ben.«

»Kann sein«, mein­te ei­ner zö­gernd, aber Duschnitz­ki er­griff eif­rig die um­schla­gen­de Stim­mung.

»So ist es. Sie ha­ben recht, gnä­di­ge Frau, und Sie, Herr, Herr –«

»An­dre­as Zum­see«, sag­te An­dre­as.

»Schrift­stel­ler«, setz­te Kaf­lisch hin­zu. Duschnitz­ki fuhr fort:

»Heut­zu­ta­ge, bei den Zu­stän­den kann man al­les ver­ul­ken und mit Fü­ßen tre­ten, die Ehre des Bür­ger­tums –«

»Und un­ser ruhm­rei­ches Heer!« rief Süß.

»Die al­ler­höchs­ten Per­so­nen!« mein­te ein an­de­rer.

»Den Ruf ei­ner Frau!« der nächs­te.

»So­gar die Bör­se«, schlug lei­se ei­ner vor.

»Aber den lie­ben Gott!« sag­te Duschnitz­ki nach­drück­lich. »Das geht nicht!«

»Das muss die Po­li­zei ver­bie­ten!« schrie Süß. »Es er­regt Är­ger­nis!«

»Und es ist ge­schmack­los«, setz­te Duschnitz­ki ge­ring­schät­zig hin­zu.

»Stimmt!« ver­setz­te Kaf­lisch un­ter all­ge­mei­nem Bei­fall. »Wir ha­ben das über­wun­den! Man muss schon ’n biss­chen ver­al­ter­ter Wür­den­greis sein wie der große Mann da hin­ten.«

Die Ge­sell­schaft be­gann zu la­chen. An­dre­as, der den Bli­cken der an­de­ren folg­te, be­merk­te am Ein­gang zum zwei­ten Sa­lon einen lan­gen Greis mit klei­nem, lä­cheln­den Vo­gel­kopf. Ein we­nig Flaum tanz­te auf sei­nem kah­len Schä­del. Er re­de­te em­pha­tisch auf einen großen Kreis von Da­men und Her­ren ein, aus dem er hoch auf­rag­te. An­dre­as er­hasch­te ab­ge­ris­se­ne Wor­te: »Dunkle Ge­stal­ten er­he­ben heu­te wie­der ihr Haupt …« Er mein­te, den Greis schon ge­se­hen zu ha­ben.

»Ist das nicht Wal­de­mar Wen­ni­chen?« frag­te er Kaf­lisch.

»Na­tür­lich! Sie ken­nen doch un­se­ren großen Dich­ter. Wol­len wir uns dem Krei­se sei­ner Ver­eh­rer an­schlie­ßen?«

Kaf­lisch such­te An­dre­as los­zu­wer­den. Er hat­te ge­hofft, der jun­ge Mann wer­de zu la­chen ge­ben, was für ihn, sei­nen Men­tor, schmei­chel­haft ge­we­sen wäre. Da An­dre­as au­gen­blick­lich so­gar Bei­fall ge­ern­tet hat­te, lang­weil­te er Kaf­lisch.

Der Neu­ling, auf­merk­sam und be­flis­sen, nach Dok­tor Be­die­ners Wei­sung von dem hier herr­schen­den gu­ten Ton zu pro­fi­tie­ren, merk­te sich, dass man mit Auf­klä­rung nicht prah­len durf­te. Wäh­rend sie ih­ren Weg fort­setz­ten, er­kun­dig­te er sich bei dem Jour­na­lis­ten, wer jene schlan­ke jun­ge Frau ge­we­sen sei. Kaf­lisch er­klär­te so­gleich:

»Die wird nicht ge­reicht. Es ist Frau Blosch. Las­sen Sie sich Ihre Ge­schich­te mal er­zäh­len, zum Bei­spiel von Die­de­rich Klemp­ner, der ver­steht es als Dra­ma­ti­ker.«

Sie tra­ten an die Wen­ni­chen­sche Grup­pe her­an.

»Sei­en Sie mir ge­grüßt, mein Lieb­ling!« re­de­te Kaf­lisch einen erns­ten Herrn mit ta­del­lo­sem Frack und schwar­zem Voll­bart an.

»Darf ich die Her­ren be­kannt ma­chen?« setz­te er has­tig hin­zu. »Herr Schrift­stel­ler An­dre­as Zum­see, Herr Lieb­ling, Zio­nist.«

In­des An­dre­as sich ver­beug­te, war Kaf­lisch schon ver­schwun­den. An­dre­as stand Herrn Lieb­ling ge­gen­über, der ihn ernst an­sah, ihm kräf­tig die Hand schüt­tel­te und, ohne et­was zu sa­gen, sich Wen­ni­chen wie­der zu­wand­te.

Da der Dich­ter in der Fis­tel sprach, ver­stand man bei der im Zim­mer herr­schen­den Un­ru­he nur die Schlag­wör­ter, die er mit ei­nem ei­gen­tüm­li­chen Ruck sei­nes lan­gen, seh­ni­gen Hal­ses her­vor­brach­te: »Ehre des Han­dels­stan­des – fre­che Über­grif­fe von ge­wis­ser Sei­te – ar­beit­sa­me Kauf­leu­te – Ab­wehr – Er­run­gen­schaf­ten der bür­ger­li­chen Re­vo­lu­ti­on …«

An­dre­as ver­barg ein über­le­ge­nes Lä­cheln. Er hat­te im »Café Hur­ra« al­ler­lei über das Pri­vat­le­ben des be­rühm­ten Dich­ters er­fah­ren. Wen­ni­chen be­zog nur noch hal­be Ho­no­ra­re, da er seit fünf­zig Jah­ren im­mer die­sel­ben Ro­ma­ne ver­fass­te, die nie­mand mehr las. Er hat­te Un­glück mit sei­nen Kin­dern ge­habt, sei­ne Frau war ihm nach un­zäh­li­gen Lieb­schaf­ten end­lich ganz und gar durch­ge­gan­gen. Er hat­te das al­les kaum be­merkt. Er sah nichts von den Ver­än­de­run­gen der Zeit seit achtund­vier­zig, als er sein ers­tes Buch schrieb von dem bra­ven jun­gen Kauf­mann, der sich Ein­tritt in die gänz­lich ver­rot­te­te Adels­fa­mi­lie er­zwingt, de­ren Toch­ter er merk­wür­di­ger­wei­se hei­ra­tet. Auch heu­te noch leb­te Wen­ni­chen un­ter bra­ven frei­sin­ni­gen Kauf­leu­ten, die mit über­mü­ti­gen Jun­kern und pfäf­fi­schen Fins­ter­lin­gen in ed­lem, un­ei­gen­nüt­zi­gen Kamp­fe la­gen. Der arme Greis dau­er­te An­dre­as, dem es Ge­nug­tu­ung be­rei­te­te, einen Dich­ter aus der Nähe be­ur­tei­len zu kön­nen, den er frü­her in Gum­plach als einen Stern der Li­te­ra­tur­ge­schich­te an­ge­staunt hat­te.

Wen­ni­chens Aus­fall ge­gen die Fein­de des Lich­tes ern­te­te ei­ni­ge Bei­falls­ru­fe, doch ne­ben An­dre­as be­gann plötz­lich Lieb­ling mit wohl­tö­nen­der, kräf­ti­ger Ba­ri­ton­stim­me zu spre­chen. Er sag­te:

»Wol­len wir die Frei­heit, ich mei­ne die wohl­ver­stan­de­ne Frei­heit er­hal­ten, so müs­sen wir das Volk zu re­gie­ren wis­sen. Das Volk ist in sei­ner Wehr- und Ur­teils­lo­sig­keit lei­der stets be­reit, sich den ver­füh­re­ri­schen Wer­bun­gen der Re­ak­tio­näre zu er­ge­ben. Wir müs­sen es ge­gen sich selbst ver­tei­di­gen, und dies kann nur ge­sche­hen mit­telst for­ca, fa­ri­na, e fes­te!«

»Aha! Aus dem Ef­feff!« be­merk­te ein wit­zi­ger Herr.

Man rief la­chend durch­ein­an­der.

»Ist das Ihre neue Er­fin­dung, Lieb­ling?«

»Sie Scherz­bold!«

»Er hat aber recht«, er­klär­te je­mand, der of­fen­bar ita­lie­nisch ver­stand. »Ge­ben wir dem Vol­ke nicht Brot und Fes­te, so kom­men wir selbst frü­her oder spä­ter an den Gal­gen.«

»Mei­ne Her­ren!« fuhr Lieb­ling fort. »Die eben aus­ge­spro­che­ne Über­zeu­gung ist längst fest in mir be­grün­det. In erns­ter Über­le­gung habe ich sie an demje­ni­gen Vol­ke er­probt, das mei­nem Her­zen am nächs­ten steht. Wenn es mir und Gleich­ge­sinn­ten je ge­lin­gen soll­te, die­ses Volk in das ihm zu­ge­hö­ri­ge und ihm noch im­mer ge­lob­te Land heim­zu­füh­ren, glau­ben Sie, dass wir es durch Par­la­men­te und Pres­se un­glück­lich ma­chen wür­den? Die eu­ro­päi­sche Kor­rup­ti­on soll von un­se­rem Bo­den ver­bannt sein!«

»Bra­vo!« er­scholl es ein­stim­mig un­ter La­chen.

Man schüt­tel­te dem Red­ner die Hän­de. An­dre­as kam es so vor, als wür­de Lieb­lings »Zio­nis­mus« nicht recht ernst ge­nom­men, wäh­rend er ihm doch eine be­son­de­re Stel­lung ver­schaff­te. »Es könn­te also nichts scha­den, eben­falls ir­gend­ei­ne Marot­te zu ha­ben«, sag­te sich An­dre­as.

In­des hob sich ganz hin­ten ein nach­läs­sig ge­klei­de­ter Herr auf die Ze­hen­spit­zen. An dem stu­pi­den Bul­len­bei­ßer­ge­sicht und dem nicht ganz rein­li­chen Klapp­kra­gen er­kann­te An­dre­as den Ab­ge­ord­ne­ten Tul­pe.

»Un­sinn!« rief mur­rend die­ser Po­li­ti­ker. »Wenn das Bür­ger­tum die Prin­zi­pi­en von achtund­vier­zig auf­gibt, so gibt es sich selbst auf!«

Lieb­ling schick­te sich zu ei­ner Er­wi­de­rung an, aber ein je­der be­müh­te sich, sei­ne Mei­nung zur Gel­tung zu brin­gen, die Da­men am lau­tes­ten. Nur Wen­ni­chen stand lä­chelnd und kopf­schüt­telnd da­bei. Lieb­ling hät­te sei­ne aus­schwei­fen­den Über­zeu­gun­gen auf chi­ne­sisch äu­ßern kön­nen und er wäre für Wen­ni­chen nicht un­ver­ständ­li­cher ge­blie­ben.

»Aber ich bit­te Sie, mei­ne Herr­schaf­ten«, sag­te plötz­lich mit schril­ler Stim­me ein her­zu­tre­ten­der Herr.

»Ra­ti­bohr ist da«, raun­te man sich zu. »Er setzt heu­te Abend den Fuß hier her­ein? Doch mal ei­ner, der nicht an Schüch­tern­heit lei­det!«

Un­will­kür­lich mach­ten die Nächst­ste­hen­den ihm Platz, man schi­en Ra­ti­bohr zu fürch­ten. Er war ha­ger, mit ner­vö­ser Kraft in den Be­we­gun­gen und von gal­li­ger Ge­sichts­far­be. Sei­ne Ha­bichts­na­se und sein schar­fer Blick for­der­ten je­den her­aus, der ir­gen­det­was ge­gen ihn ein­zu­wen­den ha­ben soll­te. Sei­ne Ele­ganz er­in­ner­te an Bör­se und Fecht­saal. Ra­ti­bohr hat­te gleich­viel vom Duel­lan­ten und vom Job­ber und mach­te einen umso ge­fähr­li­che­ren Ein­druck. Auch ließ er ach­tung­ge­bie­ten­de Ge­heim­nis­se hin­ter sei­nem Na­men ah­nen. Er sag­te:

»Ver­tra­gen wir uns doch, mei­ne Herr­schaf­ten! Es ist ja Ne­ben­sa­che, wie re­giert wird. Die Ge­schich­te wird schon noch ’n biss­chen zu­sam­men­hal­ten.«

Er voll­führ­te eine ra­sche, al­les ent­schei­den­de Hand­be­we­gung, wo­bei sein sil­ber­nes Arm­band um das Ge­lenk klirr­te. Sei­ne Mei­nung fand den größ­ten Bei­fall. An­dre­as blick­te auf Ra­ti­bohr voll Neid und Be­wun­de­rung. Den Leu­ten schon durch sein Er­schei­nen Re­spekt ein­flö­ßen wie er, welch ein Traum! Doch setz­ten die­se Leu­te ihn in Er­stau­nen. Seit er auf dem Ber­li­ner Pflas­ter spa­zie­ren­ging, sah er sie als die herr­schen­de Klas­se an, und nun fand er sie so we­nig ei­nig über die Grund­la­gen ih­rer Herr­schaft. Der bür­ger­li­che Ab­so­lu­tis­mus, den Lieb­ling vor­schlug, lag wohl in ih­rem In­ter­es­se. Gleich­zei­tig moch­te ihr Vor­teil er­for­dern, so zu tun, als teil­ten sie noch die fünf­zig Jah­re al­ten An­sich­ten Wen­ni­chens. Ihre in­ne­re Nei­gung da­ge­gen schi­en Ra­ti­bohr aus­ge­spro­chen zu ha­ben: es war Ne­ben­sa­che, wie re­giert wur­de. An­dre­as be­schloss, sich die­se Über­zeu­gung an­zu­eig­nen, die ihm ei­nes Welt­man­nes wür­dig er­schi­en, und der Ent­schluss ward ihm nicht schwer.

In­des be­gann der jun­ge Mann nach dem lan­gen Um­her­drän­gen und Still­ste­hen sei­ne Mü­dig­keit zu füh­len. Das un­nüt­ze Ge­re­de, das ihn in sei­nen Ab­sich­ten nicht vor­wärts­brach­te, ward ihm auch zu viel. Er such­te er­folg­los nach ei­nem pas­sen­den Sitz. Es stan­den dort brei­te Stüh­le aus braun­la­ckier­tem Holz mit zart be­mal­ten Sei­den­pols­tern, aber ihre Leh­nen wa­ren steif und schmal wie Lei­tern. An­de­re Ses­sel hat­ten einen drei­e­cki­gen Rücken, oder es fehl­ten ih­nen die Arm­stüt­zen. Noch an­de­re wa­ren so nied­rig, dass er sei­ne Bei­ne nicht ohne Ver­le­gen­heit un­ter­brin­gen konn­te. Kein Sitz ge­währ­te An­dre­as die Mög­lich­keit, sich eine zwang­lo­se und der per­sön­li­chen Wür­de an­ge­mes­se­ne Hal­tung zu ge­ben.

Höchst un­zu­frie­den irr­te er um­her, un­ter dem Vor­wan­de, die Ein­rich­tung zu be­trach­ten. Der drit­te Sa­lon, in bleu mou­rant und Ro­ko­ko, zog ihn an. Vor den üp­pi­gen Plau­de­r­e­cken, in de­nen sich Da­men auf­hiel­ten, stan­den nied­ri­ge spa­ni­sche Wän­de mit bunt­be­stick­tem At­las be­spannt und mit ge­schlif­fe­nen Glas­schei­ben in ver­schnör­kel­ten Rah­men. Sie sa­hen aus wie die her­aus­ge­bro­che­nen Wän­de ei­ner al­ten Staats­kut­sche. Der Vor­trag ei­ner Sän­ge­rin, die sich ne­ben­an hö­ren ließ, ging un­ter in den lau­ten Ge­sprä­chen. Als man nach ei­ni­ger Zeit merk­te, dass sie fer­tig war, er­tön­te fre­ne­ti­scher Bei­fall. Drü­ben auf dem Ka­min aus ro­si­gem Por­zel­lan schlug die Stutz­uhr, Schild­patt mit ein­ge­leg­tem Kup­fer, halb zwölf.

An­dre­as setz­te sich end­lich, er lehn­te den Kopf zu­rück und ver­such­te sich be­täu­ben zu las­sen von der fun­keln­den De­cke, de­ren ver­gol­de­te Kas­set­ten elek­tri­sche Bir­nen bar­gen. Dies hin­der­te ihn nicht, von Neu­em in eine ver­zwei­fel­te Mut­lo­sig­keit zu ver­fal­len. Was hat­te er bis­her er­reicht? Kein ernst­haf­ter Be­kann­ter stand ihm bei, es war zu klar, dass die Leu­te, die er ken­nen­lern­te, ihn nur dar­auf­hin an­sa­hen, ob sich ihm eine hei­te­re Sei­te ab­ge­win­nen las­se. Ge­lang es ihm heu­te Abend nicht, ein Lä­cheln von der Haus­frau zu er­hal­ten, so war es aus mit sei­nem Ein­tritt in die­se Welt. Und jetzt, da er einen Blick hier her­ein ge­tan hat­te, fan­den sei­ne Be­gier­den erst ih­ren Ge­gen­stand. Er sand­te sei­ne schüch­ter­nen Erobe­rungs­bli­cke im Krei­se der ge­schmück­ten Frau­en um­her. Man­che wa­ren üp­pig, schwer und weich wie Oda­lis­ken. An­de­re, ha­ge­re, ho­ben lang­ge­stiel­te Lor­gnons vor die um­rän­der­ten, per­vers bli­cken­den Au­gen. Wer von ei­ner von ih­nen in Gna­den auf­ge­nom­men wur­de, so als Schoß­hünd­chen wie Die­de­rich Klemp­ner bei Liz­zi Laffé, der war sein Leb­tag ver­sorgt. Das Geld roll­te hier un­ter den Mö­beln um­her. Ge­wiss tat kei­ner et­was an­de­res, als sich die Ta­schen zu fül­len. Welch ein Wohl­le­ben in die­sem Schla­raf­fen­land!

Eine häss­li­che Fal­te sei­nes Fracks, die ihm noch nie so auf­ge­fal­len war, wie in die­ser Be­leuch­tung, ent­riss den ar­men jun­gen Mann sei­nen Träu­men. Er ver­glich sei­ne dürf­ti­ge Klei­dung mit den ta­del­lo­sen An­zü­gen, die an ihm vor­über­wan­del­ten, und bei je­dem Ver­glei­che stieg sei­ne Wut. End­lich be­fand er sich in der er­for­der­li­chen Stim­mung, um mit sich selbst va ban­que2 zu spie­len. Wenn er in ei­ner hal­b­en Stun­de noch kei­nen Schritt auf sei­ner Lauf­bahn vor­wärts ge­tan ha­ben wür­de, so schwur er sich zu, weg­zu­ge­hen und nie wie­der­zu­kom­men.

Er woll­te sich er­he­ben, als zwei jun­ge Leu­te dicht vor ihm ste­hen­blie­ben. Sie sa­hen hin­über nach der Pal­men­grup­pe, vor der in ei­ner Pom­pa­dour-Ber­ge­re eine große, star­ke Dame saß. Sie war nicht ge­ra­de jung, aber ihr wei­ßer Teint hat­te nichts ver­lo­ren, und so pracht­vol­le Schul­tern konn­te sie nach An­dre­as’ Mei­nung in ih­rer Ju­gend kaum be­ses­sen ha­ben. Ihre zu star­ken Ge­sichts­zü­ge er­hiel­ten et­was Cha­rak­te­ris­ti­sches durch den ho­hen schwar­zen Helm von Haa­ren über der en­gen Stirn. Sie war in wei­ße Sei­de ge­klei­det, mit tief über die Büs­te fal­len­den Spit­zen, wor­auf Bril­lan­ta­graf­fen blitz­ten.

Der eine der jun­gen Leu­te be­merk­te:

»Sie ist doch noch im­mer schön.«

»Die Haus­frau?« sag­te der an­de­re. »Selbst­re­dend. Zwar ’n biss­chen schwe­re Nah­rung, aber es tut nichts. Je mehr, de­sto bes­ser, nach der Taxe der Wüs­ten­stäm­me.«

»Wel­che Taxe?«

»Als Schöns­te gilt die­je­ni­ge, die nur auf ei­nem Ka­mel fort­be­wegt wer­den kann. Nach ihr kommt die, die sich auf zwei Skla­vin­nen stüt­zen muss. – Aber warum macht sie denn so ’n lei­den­des Ge­sicht?«

»Frau Türk­hei­mer? Das wis­sen Sie nicht? Wo kom­men Sie denn her? Ra­ti­bohr hat ja mit ihr ge­bro­chen.«

»Der Esel! Und warum?«

»We­gen des Gat­ten, sagt man.«

»Türk­hei­mer? Der wird sich doch nicht lä­cher­lich ma­chen? Er lässt doch seit bald ei­nem Men­schen­al­ter sei­ne Frau tun, was sie will. Was hat er denn ge­gen Ra­ti­bohr?«

»Ja, Ra­ti­bohr soll kein dank­ba­rer Kun­de sein. Durch die Ver­trau­lich­keit mit Frau Adel­heid ist er hin­ter al­ler­lei Ge­heim­nis­se ge­kom­men. Türk­hei­mer hat ge­merkt, dass ihm, seit sei­ne Frau mit Ra­ti­bohr zu­sam­men­steckt, öf­ter was vor der Nase weg­ge­schnappt ist. Das hat ihn ent­rüs­tet.«

»Wirk­lich?«

»Türk­hei­mer ist ja ein sehr ver­stän­di­ger Mann, um die Pri­vat­an­ge­le­gen­hei­ten sei­ner Frau küm­mert er sich nicht. Aber wenn die Ge­schäf­te ins Spiel kom­men, dann wird er stren­ge.«

»Und da hat er dem Ra­ti­bohr Krach ge­macht?«

»Sie ken­nen ihn nicht. Er hat ihm die Be­tei­li­gung an ei­nem fei­nen Coup an­ge­bo­ten, mit der Be­din­gung, sei­ne Frau auf­zu­ge­ben.«

»Und Ra­ti­bohr hat ein­ge­schla­gen?«

»Was dach­ten Sie denn?«

In die­sem Au­gen­blick sah An­dre­as den ele­gan­ten Dok­tor Be­die­ner, das Glas im Auge, in der Tür er­schei­nen. Der jun­ge Mann stürz­te jäh auf den Che­fre­dak­teur los.

»Herr Dok­tor!« sag­te er has­tig. »Ge­stat­ten Sie mir eine Bit­te, wür­den Sie die Güte ha­ben, mich der Dame des Hau­ses vor­zu­stel­len?«

»Com­ment donc,3 mon cher!« rief Dok­tor Be­die­ner, der frü­her Kor­re­spon­dent in Pa­ris ge­we­sen war. Er sah An­dre­as starr an und setz­te hin­zu:

»Ich su­che Sie seit zwei Stun­den, mein lie­ber Herr, Herr-re…«

»An­dre­as Zum­see«, er­gänz­te An­dre­as.

Der Che­fre­dak­teur er­griff sei­nen Schütz­ling leicht am Arm, trat mit ihm vor Frau Türk­hei­mer und sprach:

»Schö­ne Frau, ich ma­che mir das Ver­gnü­gen, Ih­nen einen ta­lent­vol­len jun­gen Mann zu­zu­füh­ren, Herrn An­dre­as Zum­see, den ich der kunst­sin­ni­gen Güte der gnä­di­gen Frau emp­feh­le.«

Als­bald war Dok­tor Be­die­ner ver­schwun­den.

An­dre­as ver­län­ger­te sei­ne Ver­beu­gung so sehr, als hyp­no­ti­sier­ten ihn sei­ne ei­ge­nen, nicht sehr blan­ken Stie­fel­spit­zen. Ein mit­lei­di­ges Lä­cheln hat­te Frau Türk­hei­mer schon wie­der un­ter­drückt, als der jun­ge Mann auf­sah. Sie re­de­te ihn sehr freund­lich an.

»Un­se­re jun­gen Dich­ter fin­den hier stets ein of­fe­nes Haus, und die von Dok­tor Be­die­ner emp­foh­le­nen Ta­len­te sind uns be­son­ders will­kom­men, Herr Zum­see.«

An­dre­as ver­beug­te sich aber­mals. Er nahm das Ta­bou­ret4 ein, auf das Frau Türk­hei­mer deu­te­te.

»Wid­men Sie sich schon lan­ge der Li­te­ra­tur?« frag­te sie.

»Erst seit ganz kur­z­er Zeit«, er­klär­te An­dre­as, »und ich durf­te nicht hof­fen, sei­tens der gnä­di­gen Frau einen so wohl­wol­len­den Empfang zu fin­den, der mich un­end­lich glück­lich macht. Das In­ter­es­se an der Li­te­ra­tur ist im Lan­de so ge­ring, dass wir jun­gen An­fän­ger von vorn­her­ein eine tie­fe Dank­bar­keit den we­ni­gen Häu­sern ent­ge­gen­brin­gen, in de­nen ein mo­dern ver­fei­ner­ter Ge­schmack ge­pflegt wird.«

Ein jun­ger Mann, der schon et­was mehr als An­dre­as den Ernst sei­ner Pro­vinz ab­ge­schüt­telt hät­te, wür­de an­ders ge­spro­chen ha­ben. Je­den­falls hat­te Frau Türk­hei­mer et­was an­de­res er­war­tet, sie wur­de erst jetzt auf den jun­gen Mann auf­merk­sam. Sei­ne zu Hau­se er­son­ne­ne Rede schi­en sie nicht übel zu fin­den. Sie lehn­te sich in die Ber­gè­re5 zu­rück, einen Au­gen­blick lä­chel­te sie so­gar ge­schmei­chelt. An­dre­as, der die Lor­gnons der rechts und links sit­zen­den Da­men fürch­te­te, sah Frau Türk­hei­mer un­ver­wandt in die Au­gen, und sein Blick, den dich­te, vorn auf­wärts ge­bo­ge­ne Wim­pern be­schat­te­ten, mach­te den von Dok­tor Be­die­ner vor­aus­ge­se­he­nen Ein­druck. Sie fand ihn an­ge­nehm, ganz frei von Dreis­tig­keit und voll ju­gend­li­cher Hin­ge­bung. Da An­dre­as sich ge­prüft fühl­te, er­rö­te­te er, was sei­nem kna­ben­haf­ten Blond­kopf mit dem leich­ten Flaum auf der Ober­lip­pe sehr gut stand. Sie fuhr fort, ihn zu be­trach­ten. Der ge­hei­me Schmerz, der über ihr Ge­sicht einen Schlei­er ge­wor­fen hat­te, ge­riet in Ver­ges­sen­heit. Es blieb nur eine sanf­te Schwer­mut üb­rig, ge­nährt durch den An­blick des jun­gen Men­schen, der auch des An­teils ei­ner mit­lei­di­gen See­le zu be­dür­fen schi­en. An­dre­as ahn­te et­was Ähn­li­ches. Er fand sich in sei­ner Un­ge­schick­lich­keit selbst be­dau­erns­wert, aber es kränk­te ihn, sich von ei­ner schö­nen Frau be­mit­lei­den las­sen zu müs­sen. Er ward noch rö­ter. Sie er­kun­dig­te sich:

»Und wie be­fin­den Sie sich in Ber­lin? Denn Sie ha­ben doch wohl erst kürz­lich Ihre Hei­mat ver­las­sen?«

»Ich kom­me vom Rhein, gnä­di­ge Frau.«

»Ich glaub­te es an Ih­rer Auss­pra­che zu hö­ren. Ah! Der Rhein!« hauch­te Frau Türk­hei­mer. Sie sann einen Au­gen­blick, ließ sich in­des auf eine Be­schrei­bung der Stim­mun­gen, die ihr der Rhein ein­ge­flö­ßt hat­te, nicht ein.

»Sie müs­sen sich hier wohl recht wie in der Frem­de füh­len?« frag­te sie un­will­kür­lich lei­ser. Schwer­mut, Mit­leid und Träu­me­rei zo­gen eine He­cke um sie und die­sen jun­gen Mann, sie wuss­te selbst nicht wie.

»Kommt Ih­nen hier das Le­ben nicht viel käl­ter vor als in Ih­rer Pro­vinz? Bei Ih­nen kennt man Fröh­lich­keit, glau­be ich, hier aber nur Spott­lust. Und dann das Geld! Mer­ken Sie sich für Ihren hie­si­gen Auf­ent­halt: es gibt hier nichts, was man nicht um ei­nes gu­ten Ge­schäf­tes wil­len ver­ra­ten wür­de!«

An­dre­as mein­te, bei den ru­hig ge­spro­che­nen Wor­ten der Dame doch dem Schrei ei­ner wun­den See­le zu lau­schen. Er fühl­te sich ge­schmei­chelt durch die An­deu­tung, die sie selbst ihm von ih­rem Un­glück mach­te. Sie setz­te nach­läs­sig hin­zu:

»Ha­ben Sie schon einen Schnei­der, Herr Zum­see?«

An­dre­as glaub­te miss­ver­stan­den zu ha­ben.

»Sie brau­chen Freun­de, die Sie an­lei­ten. Wa­rum soll­te ich es nicht tun?«

An­dre­as ver­beug­te sich.

»Ge­hen Sie doch zu Beh­rendt in der Moh­ren­stra­ße. Ich er­lau­be Ih­nen, sich auf mich zu be­ru­fen, dann wird man Ih­nen eine ta­del­lo­se Aus­stat­tung be­sor­gen. Ich schi­cke Ih­nen mei­ne Kar­te.«

Sie reich­te ihm ihre wohl­ge­form­te Hand, die sich un­ter dem Hand­schuh ein we­nig fett, aber nicht zu fett, an­fühl­te.

»Üb­ri­gens ver­ges­sen Sie uns nicht, ich bin je­den Frei­tag zu Hau­se.«

An­dre­as sprang auf, küss­te die Hand und ent­fern­te sich lang­sam, mit ver­hal­te­nem Atem. In­fol­ge des Er­leb­ten wa­ren sei­ne Sin­ne förm­lich er­starrt. Als sie wie­der frei wur­den, hör­te er hin­ter sich je­mand sa­gen:

»Don­ner­wet­ter! Dem gibt er’s im Schlaf! Sie ken­nen doch den Trick mit dem Schnei­der? Wenn der Frau Türk­hei­mers Kar­te sieht, so lie­fert er den jun­gen Leu­ten An­zü­ge für fünf­zig Mark, die uns drei­hun­dert kos­ten.«

Ein we­nig wei­ter be­merk­te An­dre­as je­nen Ge­ne­ral­kon­sul mit klei­nem Spitz­bauch und röt­lich ge­färb­ten Ko­te­let­ten, den er im Vor­zim­mer des »Nacht­ku­ri­er« ge­trof­fen hat­te. Die­ser Herr lä­chel­te, wie der jun­ge Mann vor­über­ging, so freund­lich, und er schi­en so be­reit zu ei­ner Be­grü­ßung zu sein, dass An­dre­as sich vor ihm ver­neig­te. Der Ge­ne­ral­kon­sul er­wi­der­te eif­rig sei­nen Gruß.

Ein Un­be­kann­ter trat auf An­dre­as zu und schüt­tel­te ihm ohne Um­stän­de kräf­tig die Hand.

»Sind Sie schon lan­ge in Ber­lin, mein Herr?« frag­te er.

»Drei­zehn Mo­na­te«, sag­te An­dre­as.

»Nu sehn­se­mal«, be­merk­te je­ner. »Ich bin schon drei­zehn Jah­re in Ber­lin, und Frau Türk­hei­mer hat mir noch kei­nen Schnei­der emp­foh­len.«

Da­mit ent­fern­te der Un­be­kann­te sich wie­der.

Un­ter der Tür des zwei­ten Sa­lons, in den An­dre­as zu­rück­kehr­te, hol­te ihn Die­de­rich Klemp­ner ein, der ihm eine for­mel­le Korps­stu­den­ten­ver­beu­gung mach­te.

»Die­de­rich Klemp­ner mein Name«, sag­te er kurz und schnei­dig.

»An­dre­as Zum­see.«

»Wir sind ja­wohl Kol­le­gen«, be­merk­te Klemp­ner. »Don­ner­wet­ter, Sie ha­ben aber Glück!« setz­te er so­fort hin­zu. »Das muss man üb­ri­gens ha­ben, sonst ist in un­se­rer Bran­che nichts zu wol­len.«

An­dre­as dreh­te sich um und zeig­te Klemp­ner den Herrn mit den ge­färb­ten Fa­vo­ris.

»Ent­schul­di­gen Sie, wer ist der Herr dort drü­ben?«

»Der? Na, das ist doch Türk­hei­mer!«

An­dre­as ver­sank in Sin­nen. In sei­ner Über­ra­schung war ihm zu­nächst nur eine Klei­nig­keit ein­ge­fal­len. Ge­ne­ral­kon­sul war ein so vor­neh­mer Ti­tel, und auf der Ein­la­dungs­kar­te hat­te nur »Frau Adel­heid Türk­hei­mer« ge­stan­den! Die­de­rich Klemp­ner grins­te.

»Es kommt Ih­nen wohl ko­misch vor, dass er Sie so auf­for­dernd an­ge­lä­chelt hat? Na, na­tür­lich, Sie ha­ben doch sei­nen Kon­kur­ren­ten Ra­ti­bohr bei sei­ner Frau aus­ge­sto­chen!«

1 (franz.) wört­lich: ›ster­ben­des Blau‹, ein­ge­deutsch: ›blü­me­rant‹ <<<

2 Va ban­que – „es gilt die Bank“, in ris­kan­ter Wei­se um den ge­sam­ten Geld­ein­satz (die Bank) spie­len <<<

3 (franz.) wie denn <<<

4 Sche­mel <<<

5 Ses­sel <<<

Im Schlaraffenland

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