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VI. Die Mittel, mit denen man was wird

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Man stand vom Ti­sche auf, der Ta­ba­krauch fing an, sich im Saa­le zu ver­brei­ten. Alle Welt rauch­te, am Ne­ben­tisch hat­te die Fürs­tin Bou­bou­koff zwi­schen den Ge­rich­ten ihre Zi­ga­ret­te wie­der an­ge­zün­det.

Duschnitz­ki und Süß ver­lo­ren sich in­mit­ten der Gäs­te, die über die Trep­pen­ga­le­rie in die Sa­lons zu­rück­kehr­ten. Klemp­ner führ­te An­dre­as seit­wärts in ein klei­nes Spie­gel­ka­bi­nett. Durch eine Glas­tür be­trat man von dort das ge­räu­mi­ge Ge­wächs­haus. Die fort­wäh­rend sprin­gen­de Be­leuch­tung setz­te An­dre­as in Er­stau­nen, er be­ob­ach­te­te die Da­men und Her­ren, die, mit trans­por­ta­blen Dräh­ten in der Hand, von ei­ner Pflan­zen­grup­pe zur an­de­ren gin­gen und hier und da das elek­tri­sche Licht auf­blit­zen lie­ßen. Auf schlan­ken So­ckeln, un­ter duft­lo­sen Blu­men halb ver­steckt, stan­den Bron­zen, Ter­ra­kot­ten und sil­ber­ne Sta­tu­et­ten, die alle ei­ner Fa­mi­lie an­ge­hör­ten, ei­ner Fa­mi­lie ha­ge­rer Fau­ne und mond­süch­ti­ger Syl­phen, be­gehr­li­cher Zie­gen­bö­cke und rät­sel­haft lä­cheln­der Kna­ben.

Auf den Di­wans un­ter den Pal­men ver­dau­te eine An­zahl äl­te­rer Her­ren, die Wan­del­gän­ge wa­ren voll lor­gnet­tie­ren­der1 Da­men. Die bei­den jun­gen Leu­te, die am Ein­gang lehn­ten, konn­ten die Kunst­wer­ke in den über­all an­ge­brach­ten Spie­geln be­trach­ten. Eine zer­brech­li­che klei­ne Nym­phe, die eine ent­fern­te Ähn­lich­keit mit Wer­da Bie­ratz hat­te, neig­te sich über die Quel­le, die am Fuß ei­ner Pal­me in ein ge­mei­ßel­tes Be­cken floss. Sie hat­te sich der bur­les­ken An­grif­fe ei­nes mar­mor­nen Si­lens zu er­weh­ren, des­sen Bauch und des­sen feis­tes Lä­cheln An­dre­as heu­te Abend eben­falls schon ge­se­hen zu ha­ben mein­te. Zwei Kna­ben, süß und zart wie die Gra­zie, die nicht le­ben darf, scherz­ten un­schul­dig mit­ein­an­der, in­dem sie bei ei­ner pri­va­ten Ver­rich­tung über den Wan­del­gang hin­über ein­an­der be­wäs­ser­ten.

»Das ist Clau­di­us Mer­tens’ Kunst!« rief Klemp­ner mit düs­te­rer Fei­er­lich­keit aus.

An­dre­as nahm sich zu­sam­men, um die Be­fan­gen­heit zu ver­ber­gen, die ihm we­ni­ger Clau­di­us Mer­tens’ Schöp­fun­gen ein­flö­ßten als die Da­men, die sie mit so vor­ur­teils­lo­ser Ken­ner­schaft be­trach­te­ten.

»Und was an­de­res macht der Künst­ler nicht?« frag­te er.

Klemp­ner lä­chel­te schmerz­lich.

»Ver­ur­tei­len Sie Clau­di­us nicht, er ist auch ei­ner, den die Welt er­zo­gen hat!« ver­setz­te er, sich an die Brust schla­gend.

»Ich kann Ih­nen sa­gen, dass Clau­di­us in sei­nen jun­gen Jah­ren Mar­mor­blö­cke un­ter den Hän­den ge­habt hat, mit de­nen sich Mi­che­lan­ge­lo be­gnügt hät­te, als er nach aus­rei­chen­dem Ma­te­ri­al für das Grab­mal sei­nes Herrn such­te. Was fängt aber die mo­der­ne Ge­sell­schaft mit sol­chen Schwär­me­rn an? Als Clau­di­us noch der großen Kunst frön­te, leb­te er in ei­ner Stein­metz­ba­ra­cke von trock­nem Brot. Seit er aber ent­deckt hat, was die zah­len­den Kunst­freun­de ver­lan­gen, hat er wö­chent­lich zehn Ein­la­dun­gen, man reicht ihn sich her­um, beim Es­sen emp­fängt er Be­stel­lun­gen und ver­dient, wäh­rend er ver­daut.«

Klemp­ner war in Em­pha­se ge­ra­ten.

»Wir Künst­ler soll­ten al­len vor­an die Re­vo­lu­ti­on ein­läu­ten!« rief er so laut, dass zwei glatz­köp­fi­ge Ban­kiers, die ne­ben­an auf dem Di­wan gähn­ten, auf­blick­ten und die jun­gen Leu­te er­hei­tert an­blinz­ten.

An­dre­as wa­ren die­se An­sich­ten nicht fremd, aber Klemp­ner, der es ge­wiss nicht böse mein­te, schrie zu laut für die fei­er­li­che Stil­le des Kunst­ka­bi­netts. Er kehr­te mit sei­nem Beglei­ter in den Saal zu­rück, der sich lang­sam wie­der füll­te. Die Ti­sche wa­ren ent­fernt, eine ganz neue und rei­ne Luft ließ alle auf­at­men. Türk­hei­mer, der eben ein­trat, nä­her­te sich ei­nem Kreis von Leu­ten, die mit er­ho­be­nen Na­sen schnup­per­ten.

»Ge­birgs­luft, was?« sag­te er. »Noch ein biss­chen zu dünn, aber es wird schnell bes­ser wer­den.«

Und er er­klär­te, dass er hier, wie schon frü­her in den Sa­lons, ei­ni­ge Schläu­che mit Oxy­gen habe lee­ren las­sen.

»Ein ganz neu­es tech­ni­sches Ver­fah­ren, die Wis­sen­schaft macht doch ko­los­sa­le Fort­schrit­te. Für kaum tau­send Mark hat man den gan­zen Abend die reins­te kli­ma­ti­sche Hö­hen­kur im Hau­se.«

»Für tau­send Mark Luft!« rief Liz­zi Laffé ent­zückt.

»Tau­send Mark sind für mich Luft, wenn es sich um das Be­ha­gen mei­ner Gäs­te han­delt«, ver­setz­te Türk­hei­mer mit ei­ner ga­lan­ten Ver­beu­gung.

Die Gäs­te kehr­ten jetzt zahl­rei­cher zu­rück, und als der Saal sich so weit an­ge­füllt hat­te, dass man sich nur in ge­schick­ten Wen­dun­gen fort­be­we­gen konn­te, ent­stand das Gerücht, man wol­le tan­zen. Ein klei­ner, rund­li­cher Herr, der jetzt plötz­lich be­merkt ward, schwän­zel­te lä­chelnd und sich die Hän­de rei­bend bis zu dem Kla­vier, das in ei­ner Ecke des wei­ten Rau­mes auf­ge­stellt war, und be­gann so­fort ener­gisch einen Wal­zer zu spie­len.

Vier oder fünf Paa­re fin­gen an, sich un­ter dem Kron­leuch­ter zu dre­hen, wo sie da­durch, dass sie den Um­ste­hen­den auf die Füße tra­ten, all­mäh­lich einen mä­ßi­gen frei­en Raum ge­wan­nen. An­dre­as fand im All­ge­mei­nen, dass man auf der Kirch­weih in den Dör­fern bei Gum­plach bes­ser tan­ze. Doch fie­len ihm die an­mu­ti­gen Be­we­gun­gen der jun­gen Frau auf, die Kaf­lisch vom »Nacht­ku­ri­er« ihm als die Gat­tin des Herrn Blosch be­zeich­net hat­te. Er sah sie mit ih­rem Man­ne tan­zen und er­staun­te dar­über, wie sie es fer­tig­brin­ge, den Plump­sack im Takt zu er­hal­ten. Aber er hat­te was Gut­mü­ti­ges, er freu­te sich ge­wiss, ihr ge­fäl­lig zu sein. Sie sah wahr­haf­tig aus, als ob sie hier bloß ihn ge­kannt hät­te, so fremd und schüch­tern, mit ih­rem schlich­ten graublon­den Haar und ih­rem zwei Fin­ger breit aus­ge­schnit­te­nen Kleid­chen!

An­dre­as er­in­ner­te sich, dass Kaf­lisch ihm ge­ra­ten habe, er sol­le sich von Klemp­ner et­was über Frau Blosch er­zäh­len las­sen. Klemp­ner fuhr noch im­mer fort, im An­schluss an Clau­di­us Mer­tens’ Wer­ke über Kunst und Ge­sell­schaft zu per­o­rie­ren. An­dre­as un­ter­brach ihn mit der Fra­ge:

»Herr und Frau Blosch sind wohl jung ver­hei­ra­tet?«

Klemp­ners Red­se­lig­keit warf sich eif­rig auf das neue Ka­pi­tel.

»Weil sie zu­sam­men tan­zen? Oh, die kön­nen un­ter vier Au­gen acht­zig Jah­re alt wer­den und sind doch nie län­ger als vier Wo­chen ver­hei­ra­tet ge­we­sen. Die Ehe Blosch, soll ich Ih­nen sa­gen, was die ist? Nun wohl, sie ist ein Veil­chen un­ter Klat­schro­sen und ein Idyll im Schwur­ge­richts­saal. Wis­sen Sie, wer Blosch ist?«

An­dre­as ver­nein­te.

»Ih­nen ge­hen die Grund­be­grif­fe ab, neh­men Sie’s nicht übel. Blosch ist ei­ner der ver­ru­fens­ten Spe­ku­lan­ten an der gan­zen Bör­se, er ist Türk­hei­mers ver­damm­te See­le. Er nimmt die Prak­ti­ken auf sich, die das alte und vor­neh­me Haus Türk­hei­mer nicht ohne Skan­dal auf ei­ge­ne Rech­nung aus­füh­ren kann. Türk­hei­mer weiß sei­ne Dis­kre­ti­on so gut zu schät­zen, dass er dem Blosch durch­schnitt­lich fünf­zig­tau­send Mark im Jahr zu ver­die­nen gibt. Trau­en Sie jetzt ei­nem Man­ne wie Blosch so ’n Ding zu, das man ein from­mes Ge­müt nennt? Nun hö­ren Sie mal!

Vor bei­läu­fig fünf Jah­ren will Türk­hei­mer mit ei­nem sei­ner Op­fer, ir­gend­wo in der Pro­vinz, li­qui­die­ren und schickt Blosch hin. Es han­del­te sich um einen klei­nen In­dus­tri­el­len, der sich kin­disch ge­freut hat­te, sich mit dem be­rühm­ten Bank­haus Türk­hei­mer an ei­ner Ter­ra­in­spe­ku­la­ti­on be­tei­li­gen zu dür­fen. Um die fei­ne Ge­le­gen­heit nicht zu ver­pas­sen, hat­te der Mann sei­ne Fa­brik mit Hy­po­the­ken über und über be­las­tet, sei­nen An­teil an den Ter­rains halb be­zahlt und den Rest von Türk­hei­mer kre­di­tiert be­kom­men. Die Ter­rains wa­ren ge­stie­gen, und Türk­hei­mer hat­te sich be­eilt, sei­nem Part­ner den Kre­dit zu kün­di­gen. Er brauch­te bloß noch die Li­qui­da­ti­on ab­zu­war­ten und dem Man­ne sei­nen An­teil an den Ter­rains für ein But­ter­brot ab­zu­neh­men. Das Ge­schäft war so klar, dass man es in al­ler Freund­schaft ab­ma­chen konn­te. Blosch kommt also mit den bes­ten Ab­sich­ten an­ge­reist, macht sich auf eine Gläu­bi­ger­ver­samm­lung ge­fasst und hat nichts ge­gen einen güt­li­chen Aus­gleich, vor­aus­ge­setzt, dass Türk­hei­mer die Ter­rains zu­fal­len. Statt des­sen er­fährt er, dass der Mann wirk­lich ein­fach Plei­te macht, aber ich sage Ih­nen, eine Plei­te, so ehr­lich, wie kein Mensch es für mög­lich hält. Es war rüh­rend, er hat­te so­gar die Schmuck­sa­chen sei­ner Toch­ter mit zur Mas­se ge­schla­gen.

Ob Blosch nun aus der Un­ter­re­dung mit dem Man­ne ir­gend­ei­ne in­ne­re Er­schüt­te­rung da­von­ge­tra­gen hat­te? Wer weiß es? Ich ken­ne aber den un­heim­li­chen Elan der Ge­schäfts­leu­te län­ger als Sie, und ich ver­si­che­re Sie, die Gut­mü­tig­keit die­ser Leu­te ist mit ih­ren Raub­tier­in­stink­ten ge­ra­de so ver­quickt wie ihre all­ge­mein mensch­li­che Dumm­heit mit ih­rer ge­schäft­li­chen Schlau­heit. Ein­mal im Le­ben kann ein Blosch einen sen­ti­men­ta­len Streich be­ge­hen, und da ein Blosch im­mer Glück hat, so be­kommt ihm auch der recht gut.

Ge­nug, als Blosch sein Op­fer nach der ihn durch­aus ver­blüf­fen­den Un­ter­re­dung ver­lässt, sieht er im Vor­zim­mer, wo kaum noch Mö­bel ste­hen, die Toch­ter am Fens­ter sit­zen. Gleich dar­auf tritt er wie­der bei dem Bank­rot­tie­rer ein, zupft sich den Schnurr­bart und sagt leicht ver­le­gen:

›Herr Mül­ler, es tut mir leid, wenn ich Ih­nen läs­tig fal­le, aber ich muss Ih­nen et­was sa­gen, dass Sie mich näm­lich glück­lich ma­chen könn­ten, wenn Sie mir die Hand Ih­rer Toch­ter ge­ben wol­len.‹

Der rui­nier­te Mann, der plötz­lich für sei­ne Toch­ter einen Mil­lio­när vom Him­mel fal­len sieht, greift sich an die Stirn, dann kom­men ihm die Trä­nen, und dann fällt er vor sei­nem Ret­ter auf die Knie. Stel­len Sie sich die Sze­ne auf der Büh­ne vor! Ein Lecker­bis­sen, was?«

»Er­staun­lich!« sag­te An­dre­as.

»Und Sie müs­sen wis­sen, dass es Türk­hei­mers aus­ge­spro­che­ne Ab­sicht war, Blosch mit Asta zu ver­hei­ra­ten und ihn in die Fir­ma auf­zu­neh­men!«

»Er­staun­lich!« wie­der­hol­te An­dre­as. »Und Blosch ist glück­lich mit sei­ner Frau?« frag­te er.

»Noch bes­ser!« sag­te Klemp­ner, »er hat sie noch nie be­tro­gen. Eine Mus­ter­ehe, sage ich Ih­nen, wie sie nur in Krei­sen vor­kom­men kann, wo die Ehe ei­gent­lich als vor­sint­flut­li­che Ein­rich­tung gilt!«

An­dre­as hät­te Klemp­ner gern noch lan­ge so fort­re­den las­sen. Er blick­te von der Schwel­le, wo sie stan­den, mit ei­nem un­be­stimm­ten Ban­gen in den Tanz­saal hin­ein. Es kam ihm vor, als ob hier eine Ge­fahr laue­re, die den gan­zen Er­folg sei­nes Abends in Fra­ge stel­len kön­ne.

»Wenn man mich zwän­ge, ei­nes von die­sen vie­len tanz­lus­ti­gen jun­gen Mäd­chen auf­zu­for­dern«, so sag­te er sich, »was soll­te ich mit ihr an­fan­gen, was wür­de dann pas­sie­ren?«

Die ma­ge­ren un­ter den jun­gen Mäd­chen wa­ren nur we­nig aus­ge­schnit­ten, die di­cke­ren be­trächt­lich wei­ter. Ihre Ge­sich­ter wa­ren meis­tens keck, ihr Lä­cheln nicht im­mer an­mu­tig, aber aus­nahms­los recht auf­ge­weckt. Sie schie­nen An­dre­as prä­ten­ti­ös wie Prin­zes­sin­nen und kri­tisch wie Gas­sen­jun­gen. Wie das klei­ne un­schein­ba­re We­sen dort dem ge­wich­ti­gen, reich aus­se­hen­den Herrn mit den X-Bei­nen doch so rück­sichts­los ins Ge­sicht lach­te!

An­dre­as hat­te das si­che­re Ge­fühl, dass er bei den jun­gen Mäd­chen gar nichts zu su­chen habe. Er be­trach­te­te sie, wie sie in ei­ner re­gen­bo­gen­far­be­nen Rei­he bei­ein­an­der sa­ßen und sich ganz un­ver­hoh­len über die Män­ner lus­tig mach­ten, und er nann­te sie »Pu­ten«. Aber es wa­ren ihm un­heim­li­che We­sen. Wenn er hier je­mals sein Glück mach­te, so konn­te es nur mit Hil­fe je­ner rei­fen Frau­en ge­sche­hen, die durch eine rei­che­re Er­fah­rung gü­tig und nach­sich­tig ge­macht wa­ren und die ver­trau­ens­vol­le Hin­ge­bung ei­nes jun­gen Man­nes zu schät­zen wuss­ten. »Für ein jun­ges Mäd­chen bin ich zu naiv«, so über­leg­te An­dre­as aus­drück­lich.

Er stell­te sich Adel­heids teil­neh­men­des Lä­cheln vor, wie sie ihn ge­fragt hat­te, er müs­se sich in Ber­lin wohl recht wie in der Frem­de füh­len.

Türk­hei­mer, der hier und da einen jun­gen Mann, der sich un­vor­sich­tig vor­wag­te, ei­ner Tän­ze­rin zu­schlepp­te, er­füll­te ihn mit Be­sorg­nis. Glück­li­cher­wei­se ver­schwand er mit meh­re­ren an­de­ren Her­ren in ei­nem Ne­ben­zim­mer. An­dre­as dach­te schon dar­an, al­len mög­li­chen Un­glücks­fäl­len aus dem Wege zu ge­hen und still die Ge­sell­schaft zu ver­las­sen, aber da kam die Haus­frau, von ein paar äl­te­ren Da­men her­bei­ge­winkt, dicht an ihm vor­über. Ihr stol­zer, wie­gen­der Gang ge­fiel An­dre­as noch bes­ser als ihre müde Ruhe in dem Ses­sel, wo er sie zu­erst ge­se­hen hat­te. Ihre Büs­te und die voll­kom­men run­de Tail­le kam so bes­ser zur Gel­tung, dazu fand er die Hal­tung ih­res Kop­fes, mit dem schwe­ren Helm schwar­zer Haa­re über der en­gen Stirn, ge­ra­de­zu fas­zi­nie­rend, un­ge­ach­tet des zu kur­z­en Hal­ses. Er ver­beug­te sich ehr­furchts­voll.

»Ah, da fin­det man Sie wie­der, Herr Zum­see!« sag­te sie; flüch­tig und wie zu­fäl­lig blieb sie vor ihm ste­hen.

Klemp­ner, der noch im­mer sprach, hör­te plötz­lich mit­ten im Wort auf. Er re­de­te einen vor­über­ge­hen­den jun­gen Mann an und ent­fern­te sich mit ei­ner Dis­kre­ti­on, die er sich Mühe gab mer­ken zu las­sen.

An­dre­as be­ach­te­te, dass Frau Türk­hei­mer sei­nen Na­men be­hal­ten habe.

»Sie ha­ben noch nicht ge­tanzt?« frag­te sie ihn.

»Noch nicht, gnä­di­ge Frau.«

»Nein, die­se jun­gen Leu­te! Aber warum denn nicht?«

An­dre­as fuhr fort, ihr in die Au­gen zu se­hen, aber er wur­de rot. Wie dumm, eine Lüge zu er­fin­den, die sie schon hun­dert­mal von an­de­ren ge­hört ha­ben muss­te. Wür­de es nicht einen viel güns­ti­ge­ren Ein­druck ma­chen, wenn er ein­fach zu­gab: »Ich bin schüch­tern«?

»Gnä­di­ge Frau wer­den mich aus­la­chen«, be­gann er.

»Nun?« Frau Türk­hei­mer lä­chel­te auf­for­dernd.

»Ich habe näm­lich in Ber­lin noch nie ge­tanzt«, sag­te An­dre­as mit blin­der Ent­schlos­sen­heit, »und gnä­di­ge Frau müs­sen wis­sen, dass ich noch nicht zwei Wor­te mit ei­nem Ber­li­ner jun­gen Mäd­chen ge­wech­selt habe.«

Er be­kam einen leich­ten Fä­cher­schlag auf den Arm.

»Sie fürch­ten sich, ge­ste­hen Sie es nur!« sag­te Adel­heid.

»Was ist da zu ge­ste­hen?« er­klär­te er seuf­zend. »Kön­nen gnä­di­ge Frau sich vor­stel­len, was ich ei­ner von die­sen jun­gen Da­men noch zu sa­gen hät­te, nach­dem ich das große Glück ge­habt habe, von Ih­nen, gnä­di­ge Frau, so gü­ti­ger Wor­te ge­wür­digt zu wer­den?«

Sie lä­chel­te wie­der, ein we­nig nach­denk­lich. Sei­ne klei­ne Rede, die dies­mal im­pro­vi­siert war, schi­en sie aber­mals et­was un­ge­wöhn­lich und nicht ganz übel zu fin­den. Ihr Fä­cher war schon zu ei­nem neu­en Schla­ge er­ho­ben, senk­te sich je­doch wie­der. Sie nick­te dem jun­gen Man­ne schnell und freund­lich zu und sag­te im Wei­ter­ge­hen:

»Also un­ter­hal­ten Sie sich gut! Auf Wie­der­se­hen!«

Kaf­lisch vom »Nacht­ku­ri­er«, der plötz­lich ne­ben An­dre­as stand und ihm die in ele­gan­tem Bo­gen er­ho­be­ne Hand reich­te, muss­te der Sze­ne zu­ge­se­hen ha­ben. Er schob sein schlau grin­sen­des Ge­sicht dicht un­ter An­dre­as’ Nase, um zu be­mer­ken:

»Sie Schä­ker!«

»Es war­ten üb­ri­gens noch mehr schö­ne Au­gen auf Sie«, setz­te er hin­zu, in­dem er den Arm des jun­gen Man­nes er­griff. »Der Frau Mohr muss ich Sie vor­stel­len, Sie hat nach Ih­nen ge­fragt.«

Ehe An­dre­as sich zu sträu­ben ver­moch­te, be­fand er sich ei­ner hüb­schen Frau ge­gen­über, die zwi­schen Ball­müt­tern in ei­nem nied­ri­gen Sofa lehn­te. Sie trug eine dun­kel­vio­let­te Sei­de, die auch ei­ner äl­te­ren Dame an­ge­stan­den hät­te. Ihr vol­les brau­nes Haar war sehr schlicht ge­ord­net. Sie hielt kein Lor­gnon in der Hand, was An­dre­as be­ru­hig­te, und sie er­wi­der­te sei­ne Ver­beu­gung mit ei­nem rei­zend gü­ti­gen, fast müt­ter­li­chen Lä­cheln. Ihr We­sen hat­te et­was un­ge­mein Fried­li­ches, von Ei­tel­kei­ten und Lei­den­schaf­ten un­be­rühr­tes. Sie bot das Bild ei­ner an­stän­di­gen Frau, die ge­ra­de in ein ge­wis­ses Al­ter ein­tritt.

»Ah, Herr Zum­see«, sag­te sie, »ich muss Ih­nen dan­ken, Sie ha­ben mir eine sehr freund­li­che Stun­de be­rei­tet. Ihr Bei­trag in der ›Neu­zeit‹ …«

An­dre­as trau­te sei­nen Ohren nicht, Frau Mohr hat­te sein Ge­dicht im Bei­blatt des »Nacht­ku­ri­er« ge­le­sen. Oder hat­te nur Kaf­lisch, der so ab­scheu­lich grins­te, sie da­von un­ter­rich­tet? Man wuss­te hier ja nie, was man glau­ben durf­te. Er stam­mel­te ei­ni­ge Dan­kes­wor­te. Ne­ben ih­nen be­gan­nen meh­re­re Paa­re zu wal­zen. An­dre­as fühl­te sich ver­pflich­tet, Frau Mohr zu bit­ten.

»Ich tan­ze ei­gent­lich nicht«, ver­setz­te sie, in­dem sie sich er­hob.

An­dre­as glaub­te, ein recht gu­ter Tän­zer zu sein, aber er be­fand sich auf frem­dem Ter­rain. Das Par­kett war zu glatt und die Schlep­pe zu lang. Als er sei­ne Dame auf ih­ren Platz zu­rück­ge­lei­te­te, sah er sich be­schämt. Bei zwei Run­den un­ter dem Kron­leuch­ter war er drei­mal aus dem Takt ge­kom­men. Frau Mohr blieb den­noch ganz er­staun­lich lie­bens­wür­dig, An­dre­as konn­te sich nicht frü­her von ihr ver­ab­schie­den, als bis eine Dame sie in die Un­ter­hal­tung zog.

Kaf­lisch, der ihn er­war­tet hat­te, er­griff so­gleich wie­der von ihm Be­sitz. Da An­dre­as plötz­lich eine Art von Berühmt­heit er­langt hat­te, be­nutz­te Kaf­lisch gern ihre alte Freund­schaft, um sich mit ihm zu zei­gen.

»Was woll­te denn die Frau Mohr?« frag­te An­dre­as un­will­kür­lich. Das ein­schmei­cheln­de Be­neh­men der hüb­schen Frau be­un­ru­hig­te ihn tief. Er fühl­te sich um­wor­ben und glaub­te, mit sei­ner Gunst spar­sam sein zu müs­sen. Frau Türk­hei­mer muss­te der Über­zeu­gung blei­ben, dass sie die ein­zi­ge sei, der er zu hul­di­gen wünsch­te.

Kaf­lisch grins­te.

»Glau­ben Sie, dass das Ih­nen gilt? Nur nicht ängst­lich, mein Bes­ter. Die Mohr macht nur der schö­nen Haus­frau den Hof. Sie sind der neue Günst­ling, also muss Frau Mohr Ihre Freun­din sein.«

»Wa­rum denn?« frag­te An­dre­as, nun doch ein we­nig ent­täuscht.

»Sie ist ’ne nach­sich­ti­ge Frau, wis­sen­se. Sie nimmt Adel­heid ihre Schwä­chen nicht übel. Un­ter Frau­en, von de­nen jede ihre Schwä­chen hat, ist das manch­mal so. Man grün­det ein Kon­sor­ti­um be­hufs ge­gen­sei­ti­ger Ver­si­che­rung des gu­ten Ru­fes. Ver­stehn­se mich, sehr ge­ehr­ter Herr?«

»Frau Mohr macht so ’nen an­stän­di­gen Ein­druck«, be­merk­te An­dre­as. Kaf­lisch er­klär­te:

»Tut sie auch. Und sie hat auch ’ne förm­li­che Lei­den­schaft für An­stän­dig­keit, wenn sie nur nicht Geld brauch­te! Sehn Sie mal, un­ter al­len de­nen, die hier her­um­wim­meln, kann ihr kein ein­zi­ger was zu sei­nem ei­ge­nen Vor­teil nach­sa­gen. Was sie braucht, holt sie sich aus an­de­ren Krei­sen, no­ble Frem­de oder Her­ren vom Hof, wis­sen­se. Kommt sie dann hier­her, so ist sie in ’ner ganz an­de­ren Welt. Hier kramt sie so viel gute Sit­te aus, dass sie uns al­len noch was da­von ab­ge­ben könn­te.«

»Ko­mi­sche Pas­si­on«, mein­te An­dre­as.

»Gar nicht so übel«, ver­si­cher­te Kaf­lisch. »Sie hält sich an Adel­heid, weil die na­tür­lich zu reich ist, als dass man sie be­lä­cheln könn­te.«

An­dre­as zwei­fel­te.

»Das scheint mir eine ganz un­nö­ti­ge An­stren­gung zu sein«, be­merk­te er.

»Jun­ger Mann!« rief Kaf­lisch fei­er­lich, »Sie ken­nen nicht die Wil­lens­stär­ke ge­wis­ser Frau­en! Die­se hier will nun mal für an­stän­dig gel­ten, und sie weiß es durch­zu­set­zen, dass je­der, der ihre Le­bens­wei­se ganz ge­nau kennt, sie so be­han­delt, als glaub­te er an ihre Tu­gend, ’s ist ei­gent­lich ’ne un­ge­heu­re Leis­tung von so ’ner Frau, wis­sen­se, und ganz ohne Pro­fit, bloß der Ehre we­gen. Sie mimt die Tu­gend, wie an­de­re das Las­ter mi­men.«

»So was gibt es auch?« frag­te An­dre­as.

»Und ob! Sie wer­den hier im Hau­se die Frau Pim­busch ken­nen­ler­nen.«

»Die Frau des großen Brannt­wein­fa­bri­kan­ten?«

»Dem Schnaps­feu­da­len sei­ne Frau. Da wer­den Sie se­hen, wie das Las­ter aus­sieht. Aber ver­bren­nen Sie sich nicht die Fin­ger, rate ich Ih­nen! Sie ist un­schul­dig, nicht mal von Pim­busch hat sie sich ihre Un­schuld rau­ben las­sen. Er soll üb­ri­gens gar nicht dazu im­stan­de sein.«

»Eine Frau muss sich doch recht sehr lang­wei­len, wenn sie auf sol­che Din­ge ver­fällt«, mein­te An­dre­as. Kaf­lisch zuck­te die Ach­seln.

»Was wol­len Sie? Wir ha­ben Ner­ven. Müde Ras­se! wie Gold­herz sagt. Alte Kul­tur! Gott, wie sind wir müde!«

Kaf­lisch ver­such­te, die Schul­tern tief zu sen­ken. Er ließ die Mund­win­kel her­ab­hän­gen und be­gann mit mat­tem Blick vor sich hin­zu­träu­men. An­dre­as be­fürch­te­te, man möch­te die Nach­ah­mung des Frei­herrn von Hochs­tet­ten er­ken­nen. Er such­te Kaf­lisch fort­zu­zie­hen, doch die­ser blieb ste­hen. Sie be­fan­den sich bei der Tür, hin­ter der frü­her der Haus­herr mit ei­ni­gen Gäs­ten ver­schwun­den war. Kaf­lisch mach­te eine Arm­be­we­gung, als setz­te er eine eif­ri­ge Un­ter­hal­tung fort.

»Wis­sen­se was?« sag­te er lei­se. »Ne­ben­an wird ge­jeut. Sehn­se sich das mal an!«

Er schob An­dre­as has­tig vor sich her über die Schwel­le und be­eil­te sich, den Vor­hang hin­ter ih­nen zu­fal­len zu las­sen.

Sie durch­schrit­ten ein Spie­gel­ka­bi­nett, ganz ähn­lich dem, das als Vor­zim­mer des Clau­di­us-Mu­se­ums diente. Dann be­tra­ten sie ein wei­tes Ge­mach, das zu zwei Drit­teln leer stand. Auf den Di­wans an den Wän­den nick­ten zwei oder drei alte Her­ren, eine große An­zahl Gäs­te um­dräng­te da­ge­gen das kreis­run­de Ge­län­der, das in ge­rin­gem Ab­stän­de den gleich­falls run­den Spiel­tisch um­gab. An­dre­as be­merk­te auf dem Ti­sche ein äu­ßerst sinn­rei­ches ho­ri­zon­ta­les Rad, des­sen sie­ben Spros­sen durch el­fen­bei­ner­ne Pferd­chen be­zeich­net wur­den. Es sa­ßen klei­ne Rei­te­rin­nen, aus Sil­ber, mit Perl­mut­ter ein­ge­legt, in meis­tens durch­aus in­ti­men Stel­lun­gen dar­auf. Nur Clau­di­us Mer­tens konn­te sie ge­schaf­fen ha­ben.

»Ha­ben Sie schon mal ge­spielt?« frag­te Kaf­lisch.

An­dre­as hat­te Lust zu lü­gen, fürch­te­te aber, dar­auf er­tappt zu wer­den.

»Nein«, sag­te er.

Kaf­lisch er­hob plötz­lich die Stim­me, er rief schrill und tri­um­phie­rend in die stil­le Ver­samm­lung hin­ein:

»Mei­ne Her­ren, Sie ah­nen es nicht! Hier ist ein Herr, der noch nie ge­spielt hat!«

Ein Ge­mur­mel, das An­dre­as nicht ver­stand, ging durch die Rei­hen der Gäs­te. Ein lan­ger, ha­ge­rer Mensch trat so­fort auf ihn zu und be­rühr­te mit ei­ner Hand, die leicht zit­ter­te, An­dre­as’ Arm.

»Wenn ich mir die Fra­ge er­lau­ben darf, wie alt sind Sie, mein Herr?« frag­te er höf­lich.

»Drei­und­zwan­zig«, ant­wor­te­te An­dre­as eben­so höf­lich.

»Ich bit­te um fünf!« rief der Ha­ge­re, ohne An­dre­as auch nur zu dan­ken, ei­nem Di­cken mit wei­ßen Haa­ren auf dem blas­sen fet­ten Ge­sich­te zu, der hin­ter dem Ge­län­der stand, das Geld des Ha­ge­ren in Empfang nahm und ihm meh­re­re Pa­pier­strei­fen über­reich­te.

Die Men­ge der Spie­ler be­gann zu mur­ren. Es sei kei­ne Kunst zu ge­win­nen, wenn man einen Neu­ling für sich habe. Das Spiel sei un­gül­tig, sie ver­lang­ten ihre Ein­sät­ze zu­rück. Aber der blas­se, di­cke Herr pro­tes­tier­te leb­haft. »Fer­tig!« rief er und schick­te sich an, das Rad zu dre­hen. Man woll­te ihn dar­an hin­dern, Türk­hei­mer, der un­ter die Auf­ge­reg­ten trat, such­te sie lie­bens­wür­dig zu be­schwich­ti­gen.

»Ord­nung vor al­lem, mei­ne Her­ren!«

»Vo­y­ons, mes­sieurs!« ver­setz­te auch der Che­fre­dak­teur Dok­tor Be­die­ner, der sich an den Herrn hin­ter dem Ge­län­der wand­te.

»Ei­nen Au­gen­blick, bit­te, Herr Stie­bitz!«

»Wol­len Sie nicht set­zen?« frag­te er An­dre­as.

»Na­tür­lich! Set­zen Sie doch!« sag­te Türk­hei­mer, der dem jun­gen Man­ne wohl­wol­lend zu­nick­te.

»Set­zen Sie doch, Herr, Herr – re…«

»Zum­see«, er­gänz­te An­dre­as.

»Fünf!« ver­lang­te er so­dann mit lau­ter Stim­me, wie er es von dem Ha­ge­ren ge­hört hat­te.

»Wie viel?« frag­te Herr Stie­bitz.

An­dre­as sah auf dem grü­nen Be­zug des Ge­län­ders gan­ze Gold­hau­fen vor den Spie­lern auf­ge­baut, es ward ihm ein we­nig un­heim­lich zu­mu­te. Er fürch­te­te schon, ge­zö­gert zu ha­ben und griff schnell, aber so ru­hig wie es ihm mög­lich war, in die Ta­sche. Er öff­ne­te das Por­te­mon­naie, ohne es her­vor­zu­zie­hen, weil er dies für ele­gan­ter hielt, und warf nach­läs­sig die bei­den Zwan­zig­mark­stücke, die dar­in ge­we­sen wa­ren, auf das grü­ne Tuch.

Stie­bitz gab ihm zwei Num­mern, dann schnurr­te das Rad in­mit­ten der all­ge­mei­nen Stil­le. An­dre­as ließ sich von dem krei­sen­den Ring hyp­no­ti­sie­ren, in dem an­fangs al­les zu­sam­men­ge­flos­sen war. All­mäh­lich wa­ren die ein­zel­nen Pferd­chen wie­der zu un­ter­schei­den. Es deuch­te ihm eine Ewig­keit, bis das Rad stand. Die Spie­ler neig­ten sich über das Ge­län­der und rie­fen durch­ein­an­der.

»Fünf ge­winnt!« sag­te Stie­bitz ru­hig.

Er be­gann die Ge­win­ne aus­zu­zah­len und leg­te vor An­dre­as zwei­hun­dert­un­dacht­zig Mark hin.

An­dre­as sah das Geld flüch­tig an und ließ es lie­gen. Er fürch­te­te, vor Freu­de rot zu wer­den, und blick­te mög­lichst gleich­mü­tig nach dem fünf­ten Pferd­chen hin, das am Ziel ste­hen­ge­blie­ben war. Die sil­ber­ne Dame, die dar­auf saß und die durch ihre Hal­tung den An­stand mehr ver­letz­te als sie wuss­te, schi­en ihm auf­for­dernd zu­zu­lä­cheln. Er hör­te einen Spie­ler, der ge­won­nen hat­te, aus­ru­fen:

»Na, warum geht’s denn nu?«

»Pst! Nichts ver­der­ben!« mahn­te der ha­ge­re Herr, dem An­dre­as Dank zu schul­den mein­te, weil er die Fünf zu­erst ge­nannt hat­te.

Man hör­te nur das Geld klap­pern, in dem Herr Stie­bitz her­um­rühr­te. Die­ser wand­te sich an den zu­nächst­ste­hen­den Spie­ler.

»Ich pas­se!« rief man ihm ent­ge­gen, scharf und kurz nach­ein­an­der, wie ein Schnell­ge­wehr­feu­er.

Als Stie­bitz bei An­dre­as an­ge­langt war, fühl­te die­ser alle Bli­cke auf sich ge­rich­tet.

»Die Leu­te sind aber­gläu­bisch«, sag­te An­dre­as sich, wäh­rend er ru­hig Stie­bitz an­blick­te.

»Das Rad kann ste­hen­blei­ben, wo es will. Wel­chen Zweck hat es, eine Num­mer be­son­ders aus­zu­wäh­len. Mit Fünf habe ich Glück ge­habt.«

»Fünf!« sag­te er und schob Stie­bitz die zwei­hun­dert­acht­zig Mark zu, die vor ihm la­gen.

Eine kur­ze, zö­gern­de Be­we­gung ging durch die Ver­samm­lung, dann rief al­les durch­ein­an­der:

»Fünf!«

Als Stie­bitz alle Ein­sät­ze ein­ge­sam­melt hat­te, ver­lang­te Türk­hei­mer ru­hig lä­chelnd:

»Sie­ben!«

»Fünf!« sag­te gleich dar­auf noch ein her­zu­tre­ten­der Herr mit schö­nem schwar­zen Voll­bart. An­dre­as er­kann­te den Zio­nis­ten Lieb­ling.

Wie­der der krei­sen­de Ring, aus dem lang­sam die Pferd­chen auf­tauch­ten. Als das Rad stand, neig­ten sich aber­mals alle gie­rig über das Ge­län­der.

»Fünf ge­winnt!«

Dies­mal war es un­be­strit­ten, alle au­ßer Türk­hei­mer ge­wan­nen. Stie­bitz zahl­te aus. Er leg­te vor An­dre­as einen Tau­send­mark­schein, einen Fünf­hun­dert­mark­schein, vier Hun­dert­mark­schei­ne und drei Zwan­zig­mark­stücke hin. An­dre­as kam es vor, als ob das blas­se Fett in Stie­bitz’ Ge­sicht mit den wei­ßen Haa­ren dar­auf sicht­lich zit­ter­te.

Türk­hei­mer trat auf den jun­gen Mann zu und reich­te ihm eine Hand, wäh­rend er sich mit der an­de­ren wohl­ge­fäl­lig über die ge­färb­ten röt­li­chen Ko­te­let­ten strich.

»Ist mir ein wah­res Ver­gnü­gen, mein Geld an Sie zu ver­lie­ren«, sag­te er. »Ich hal­te schon den gan­zen Abend die Sie­ben, mal muss sie doch her­aus­kom­men.«

An­dre­as konn­te ihm nur kurz dan­ken. Er blick­te ver­stoh­len und mit heim­li­cher Be­sorg­nis von Stie­bitz auf sein ge­won­ne­nes Geld, das er zähl­te: neun­zehn­hun­dert­und­sech­zig Mark, und dann wie­der auf Stie­bitz, der dies­mal gleich an ihn her­an­trat.

Was soll­te er ihm sa­gen? Zum drit­ten Mal ge­winnt man nicht, dach­te er, wäh­rend der Be­sitz von so viel Geld und die Angst, es zu ver­lie­ren, ihm Herz­klop­fen ver­ur­sach­te. Er hielt den Atem an und er­hob die Hand zu ei­ner mög­lichst küh­len, lang­sa­men Be­we­gung, um Stie­bitz aber­mals die gan­ze Sum­me zu­zu­schie­ben. Aber in der Se­kun­de, wäh­rend sei­ne Hand sich dem Ge­län­der nä­her­te, ar­bei­te­te sein Ge­hirn mit un­er­hör­ter Schnel­lig­keit.

Muss­te es denn sein? Of­fen­bar war es we­nig vor­nehm, den Ge­winn so­gleich in die Ta­sche zu schie­ben und da­von­zu­ge­hen. Es konn­te ihn hier un­mög­lich ma­chen oder doch sein An­se­hen ver­nich­ten. Alle wür­den dar­auf auf­merk­sam wer­den. Es muss­te also wohl sein.

Aber das Gan­ze? Un­sinn! Plötz­lich kam eine große Nüch­tern­heit über ihn, sei­ne Fa­mi­li­ennüch­tern­heit ge­wann recht­zei­tig die Ober­hand, die Nüch­tern­heit sei­nes Va­ters, des Wein­bau­ern, der je­den Gro­schen drei­mal um­ge­wen­det hat­te, be­vor er ihn aus­gab, und der froh ge­we­sen war, wenn die Re­ben, die er ge­pflegt hat­te wie Säug­lin­ge, alle sie­ben Jah­re ein­mal gut tru­gen. Zwei­tau­send Mark gu­tes er­wor­be­nes Geld auf eine Num­mer set­zen, das heißt zum Fens­ter hin­aus­wer­fen! So dumm moch­ten die Ber­li­ner sein. Da hör­te jede ge­sell­schaft­li­che Rück­sicht auf. Ehe An­dre­as sei­ne ru­hi­ge Be­we­gung vollen­det und die Bank­no­ten be­rührt hat­te, war er ent­schlos­sen, nur den Fünf­hun­dert­mark­schein zu op­fern. Er er­griff aber bloß drei Hun­dert­mark­schei­ne und reich­te sie Stie­bitz.

Er hat­te doch nicht ge­zö­gert? Nein, es mach­te nie­mand ein spöt­ti­sches Ge­sicht, aber alle sa­hen ge­spannt aus.

»Sie spie­len?« frag­te Stie­bitz.

»Fünf«, sag­te An­dre­as, ohne nach­zu­den­ken. Das Spiel küm­mer­te ihn nicht mehr, die drei­hun­dert Mark wa­ren ver­lo­ren, ein Eh­ren­op­fer, das nur dazu die­nen soll­te, ihm einen gu­ten Ab­gang zu ver­schaf­fen.

Dies­mal em­pör­ten sich die Spie­ler ge­gen den Neu­ling, sie fan­den sei­ne Wag­hal­sig­keit zu stark. Es äu­ßer­ten sich sar­kas­ti­sche Zwei­fel. Je­mand sag­te:

»Mit die Bee­ne will er an­geln gehn?«

Der lan­ge, ha­ge­re Herr zuck­te ge­heim­nis­voll die Ach­seln und ver­lang­te den­noch Fünf. Aber es folg­ten ihm nur we­ni­ge.

Die Sie­ben lief ins Ziel. An­dre­as schob ru­hig den ihm ver­blei­ben­den Ge­winn in die Ho­sen­ta­sche, rich­te­te den Kopf auf und blick­te kurz um sich, mit dem Ent­schluss, demje­ni­gen recht fest ins Auge zu se­hen, der zu lä­cheln wag­te. Aber sein Be­neh­men schi­en im Ge­gen­teil et­was wie Be­wun­de­rung her­vor­zu­ru­fen. Als er vom Ge­län­der zu­rück­trat, blin­zel­te ihm der Ha­ge­re, der ver­lo­ren hat­te und wei­ter­spiel­te, nei­disch nach.

»Bra­vo!« hör­te er hin­ter sich je­mand sa­gen. Er ge­wahr­te Türk­hei­mer, der end­lich ge­won­nen hat­te, und der ihn wie­der, wie am Be­ginn des Abends, zu ei­ner Be­grü­ßung auf­zu­for­dern schi­en. Sie wech­sel­ten eine höf­li­che Ver­beu­gung.

Als An­dre­as schon die Por­tie­re er­grif­fen hat­te, fühl­te er eine Hand auf sei­ner Schul­ter. Herr Lieb­ling sah ihm ernst und fei­er­lich in das Auge, sein schwar­zer Bart zit­ter­te ein we­nig, be­vor er sag­te:

»Hal­ten Sie mich nicht für auf­dring­lich, mein lie­ber Herr, Herr – re…«

»Zum­see«, er­gänz­te An­dre­as.

»Hal­ten Sie mich nicht für auf­dring­lich, wenn ich Ih­nen sage: Spie­len Sie nie­mals wie­der! Die­se Mah­nung hät­te man­chen vor Scha­den be­wahrt, wenn sie ihm recht­zei­tig zu­teil ge­wor­den wäre. Sie ha­ben viel­leicht be­merkt, dass dem Neu­ling be­son­de­res Glück zu­ge­schrie­ben wird. Welch al­ber­ner Aber­glau­be!«

»Du hast doch auch ein biss­chen da­von pro­fi­tiert«, dach­te An­dre­as.

»Ich gebe zu, dass man ein­mal ge­spielt ha­ben muss«, sag­te Lieb­ling mil­de. »Aber nie zum zwei­ten Mal. Hier fängt die Sün­de an«, setz­te er ein­dring­lich hin­zu, in­dem er dem jun­gen Man­ne warm und kräf­tig die Hand schüt­tel­te.

Be­vor An­dre­as den Tür­vor­hang hin­ter sich fal­len ließ, hör­te er ein paar Stim­men.

»Alle Ach­tung, der kann so blei­ben!«

»So ’n Ben­gel, der hat die Mit­tel, mit de­nen man was wird!«

»Wa­rum soll­te ich mir das Spie­len an­ge­wöh­nen?« sag­te sich An­dre­as, wäh­rend er durch den Ball­saal schlen­der­te. »Hal­ten sie das Spiel für eine Lei­den­schaft? Ich sehe nicht ein, warum ich mein Geld wa­gen soll­te, so­lan­ge ich ge­nug habe. Wenn es auf die Nei­ge geht, dann – sage ich nichts.«

Er ließ den Blick über die Men­ge der Da­men glei­ten, ohne Frau Türk­hei­mer zu fin­den. Dann trat er auf die Ga­le­rie hin­aus und zog heim­lich, ganz heim­lich sei­ne sil­ber­ne Uhr. Es war kurz nach drei.

Lang­sam stieg er ins Ves­ti­bül hin­ab. Er brauch­te jetzt nicht um sei­ne Hal­tung zu sor­gen, wie da­mals, vor fünf Stun­den, als er die­se Stu­fen em­por­stieg. Sei­ne Sin­ne wa­ren frei, er prüf­te in den wand­ho­hen, ge­schlif­fe­nen Spie­geln sei­ne Mie­ne und stell­te fest, dass es die­je­ni­ge ei­nes Tri­um­pha­tors sei. Er ver­moch­te jetzt den Duft und die Au­gen­wei­de der ho­hen He­lio­tropsträu­cher, der Orchi­de­en und der pur­pur­nen Kak­tus­ar­ten zu ge­nie­ßen, die an dem Ge­län­der aus durch­bro­che­nem Schmie­de­ei­sen ent­lang von Stu­fe zu Stu­fe sich türm­ten und die brei­te Trep­pe in einen hän­gen­den Gar­ten ver­wan­del­ten. Auf dem Stie­gen­ab­satz stan­den Ru­he­bän­ke, die in ge­punz­tem Le­der das Wap­pen des Hau­ses tru­gen: einen Tür­ken, der den Sä­bel schwang. An­dre­as nahm hier einen Au­gen­blick Platz und sah zwei Da­men, die den Ball ver­lie­ßen, vor­über­hu­schen. Er ver­folg­te das Blit­zen ih­rer Bril­lan­ten und die glei­ßen­den Re­fle­xe des durch Blät­ter­ge­flecht fal­len­den Lich­tes auf dem At­las ih­rer Ko­stü­me, und er sprach lei­se vor sich hin: »Ich habe euch!« Er wuss­te üb­ri­gens nicht ge­nau, was er sich bei die­sem großen Wor­te dach­te.

Im Wei­ter­ge­hen gab er sich ver­nünf­ti­ge­ren Er­wä­gun­gen hin. In so ei­nem Ber­li­ner Hau­se ließ sich an ei­nem ein­zi­gen Abend eine Men­ge er­le­ben. Er ent­fern­te sich an­ders, als er ge­kom­men war, um vie­le Er­fah­run­gen und Kennt­nis­se be­rei­chert, die er doch nicht all­zu teu­er be­zahlt hat­te. Er war mit Liz­zi Laffé in ei­ner un­pas­sen­den Si­tua­ti­on zu­sam­men­ge­rannt, und er hat­te Asta Türk­hei­mer auf die Schlep­pe ge­tre­ten. Merk­wür­dig, sie ka­men ihm wie zwei Fein­din­nen vor. Er hat­te fer­ner im Ge­spräch mit den jun­gen Leu­ten hier und da ein pein­li­ches Schwei­gen her­vor­ge­bracht, und er hat­te vor den jun­gen Mäd­chen Furcht ge­habt. Dies war der ne­ga­ti­ve Teil sei­ner Er­fol­ge. Der po­si­ti­ve be­stand dar­in, dass er von Frau Türk­hei­mer gnä­dig be­han­delt wor­den war, so gnä­dig, dass es vie­len zu den­ken ge­ge­ben hat­te und dass man nicht wis­sen konn­te, was dar­aus wer­den wür­de.

»Ich habe wohl Glück ge­habt«, sag­te sich An­dre­as, »aber wenn ich nicht auch Vor­sicht und Über­le­gung be­sä­ße, und wenn ich nicht wüss­te, was ich will, hät­te ich dann wohl das da in der Ta­sche?«

Und er tas­te­te nach dem Tau­send­mark­schein.

Dr­un­ten in der Gar­de­ro­be spran­gen meh­re­re ver­schla­fe­ne La­kai­en auf. An­dre­as konn­te sich ir­ren, aber er mein­te zu be­mer­ken, dass sie ihn dies­mal mit ei­nem ge­wis­sen Re­spekt be­han­del­ten. Vi­el­leicht be­sa­ßen sie Übung dar­in, den Ge­win­ner zu er­ken­nen?

Nach­läs­sig über­reich­te er dem, der ihm sei­nen Kra­gen­man­tel aus Lo­den um­leg­te, eine Dop­pel­kro­ne, in­dem er heim­lich be­dau­er­te, kein Fünf­mark­stück zu be­sit­zen.

Als er un­ter dem Por­tal stand, rief ihm je­mand nach:

»Sie! Sehr ge­ehr­ter Herr, hö­ren­se­mal!«

Kaf­lisch, vom »Nacht­ku­ri­er«, kam im Lauf­schritt, lä­chelnd und win­kend her­bei. Er schob sei­nen Arm un­ter den des jun­gen Man­nes.

»Ge­hen Sie schon nach Hau­se?« rief er. »Ich auch, das trifft sich ja rei­zend. Köst­li­che Som­mer­nacht, was? Höchs­tens zwan­zig Grad. Neh­men wir ’nen Wa­gen?«

In der gan­zen Hil­de­brandt­stra­ße er­glänz­te der Schnee von den Lich­tern der Wa­gen, die in ei­ner Dop­pel­rei­he von ei­nem Git­ter zum an­de­ren stan­den. Es wa­ren meis­tens herr­schaft­li­che Fuhr­wer­ke. Als sie ganz hin­ten eine freie Drosch­ke ers­ter Klas­se ge­fun­den hat­ten, frag­te Kaf­lisch:

»Wo woh­nen Sie denn?«

An­dre­as rief sei­ne be­schei­de­ne Adres­se, die ihm jetzt mit sei­ner so­zia­len Stel­lung in schrei­en­dem Wi­der­spruch zu ste­hen schi­en, voll In­grimm dem Kut­scher zu. Der Jour­na­list bat sich eine Zi­ga­ret­te von An­dre­as aus. Wäh­rend er sie an­brann­te, er­kun­dig­te er sich:

»Nun, wie ge­fal­len Ih­nen Türk­hei­mers?«

»Ein recht net­tes Haus«, mein­te An­dre­as.

»Nicht wahr? Man isst, spielt und mopst sich nicht mehr als un­be­dingt nö­tig. Un­ge­niert, mit frei­em Ein­gang vom Flur, das ist die Haupt­sa­che. Das üb­ri­ge kann uns doch gleich sein.«

»Wie­so?« woll­te An­dre­as fra­gen, doch be­sann er sich. Es fiel ihm wie­der ein, was er über sein Ver­hält­nis zu Adel­heid mit sich aus­ge­macht hat­te. Frau Türk­hei­mer war nicht auf eine Lie­bes­in­sel zu ent­füh­ren. Sie wür­de aus der Um­ge­bung des Tier­gar­tens schwer­lich her­aus­zu­he­ben sein, man muss­te durch­aus das Ter­rain ken­nen. An­dre­as mach­te so­gar schon auf eine Stel­lung im Hau­se An­spruch, die ihm ge­wis­se Pf­lich­ten und Rech­te auf­er­leg­te. Da­bei wuss­te er aber noch kaum, was das für ein Haus war.

»Türk­hei­mer muss schau­der­haft viel Geld ha­ben«, be­merk­te er. Kaf­lisch hüll­te sich in Rauch­wol­ken.

»Na, es geht«, sag­te er. »Was er der Re­gie­rung von Pu­er­to Vergo­gna nicht ab­ge­ge­ben hat, das hat er selbst be­hal­ten.«

»Pu­er­to Vergo­gna?« frag­te An­dre­as.

»Die lie­be Un­schuld! Soll ich Ih­nen was zu Ge­fal­len tun? Ich will Türk­hei­mer bei nächs­ter Ge­le­gen­heit er­zäh­len, Sie hät­ten sein Ge­schäft mit Pu­er­to Vergo­gna nicht ge­kannt. Das wird ihm un­end­lich wohl­tun, denn so ei­nem ist er noch nicht be­geg­net.«

»Na­tür­lich«, log An­dre­as, »habe ich da­von ge­hört. Aber die Ein­zel­hei­ten habe ich nicht ganz be­grif­fen.«

»Ist auch nicht so leicht, wie Sie glau­ben. Man­cher be­greift’s nie. Türk­hei­mer ist eben ein großer Mann, das ist al­les. Stel­len Sie sich mal vor, dass Türk­hei­mer mit dem Prä­si­den­ten oder Dik­ta­tor der Re­pu­blik Pu­er­to Vergo­gna, der üb­ri­gens ein aus­ge­bro­che­ner Sträf­ling sein soll, da­hin über­ein­kommt, das schö­ne war­me Länd­chen mit Ei­sen­bah­nen zu be­glücken. Der Prä­si­dent macht Türk­hei­mer zu sei­nem Ge­ne­ral­kon­sul und er­teilt ihm die Kon­zes­si­on, Lose aus­zu­ge­ben. Die­se wur­den an der Ber­li­ner Bör­se nicht zur Quo­tie­rung zu­ge­las­sen. (Türk­hei­mer hat­te da­mals noch kei­nen Hochs­tet­ten zum Schwie­ger­sohn. Merk­wür­dig, wie weit wir es im Schutz der Dum­men ge­bracht ha­ben!) Aber in Wien ließ die Re­gie­rung mit sich re­den. Na, Deutsch­land war doch der Haupt­ab­neh­mer der Stra­das fer­ra­das de Pu­er­to Vergo­gna. Das deut­sche Pub­li­kum hat nun mal ’ne rüh­ren­de Vor­lie­be für wohl­klin­gen­de Wert­pa­pie­re. Die ers­ten Prä­mi­en und Tref­fer sol­len von der tro­pi­schen Re­pu­blik so­gar aus­be­zahlt wor­den sein. Aber als der Prä­si­dent von dem Er­trag der Emis­si­on, der auf sieb­zig Mil­lio­nen ge­schätzt wur­de, kei­nen Pfen­nig zu se­hen be­kam, merk­te er, dass Türk­hei­mer auch er­fah­re­nen Sträf­lin­gen über sei, und sag­te die Par­tie ab. Er fand die Ei­sen­bah­nen zum sitt­li­chen und wirt­schaft­li­chen Fort­schritt sei­nes Lan­des nicht mehr nö­tig, Pu­er­to Vergo­gna stell­te sich über­dies als gänz­lich plei­te her­aus, wo­für Türk­hei­mer doch of­fen­bar nichts konn­te, und das Deut­sche Reich macht seit­dem Vor­stel­lun­gen bei der Re­pu­blik. Es soll nächs­tens wie­der mal ein Kreu­zer hin­ge­schickt wer­den, der deut­schen Gläu­bi­ger we­gen, und um der Welt zu zei­gen, wie weit Deutsch­lands star­ker Arm reicht. Ver­stehn­se­mich, sehr ge­ehr­ter Herr?«

»Also sieb­zig Mil­lio­nen«, sag­te An­dre­as nach­denk­lich.

»Nicht wahr?« rief Kaf­lisch be­geis­tert. »Was für’n großer Mann! Ich sage es ja im­mer, für uns mo­der­ne Li­te­ra­ten geht nichts über das Ge­nie der Tat. Na­po­le­on, Bis­marck, Türk­hei­mer!«

Er bat um eine zwei­te Zi­ga­ret­te und ver­fiel in Schwei­gen. An­dre­as’ Ge­dan­ken blie­ben, ein we­nig müde, bei Kaf­lisch’ letz­tem Wort ste­hen. Der Mann ent­deck­te also ge­le­gent­lich auch et­was wie ein li­te­ra­ri­sches Ide­al in sich. Nun ja, das hat­ten die von der Ta­fel­run­de im »Café Hur­ra« auch be­ses­sen, be­vor sie sich ir­gend­ei­nem Je­ku­ser ver­dun­gen hat­ten, und ge­le­gent­lich des Nachts um drei, wenn sie gra­tis zu trin­ken er­hal­ten hat­ten, kam es wie­der zum Vor­schein. An­dre­as ruh­te nach al­len Auf­re­gun­gen des Abends wohl­ge­fäl­lig in der Über­le­gen­heit des frei­en Dich­ters über den schrei­ben­den Ta­ge­löh­ner aus.

Kaf­lisch wisch­te die Schei­ben ab; der Wa­gen bog in die Li­ni­en­stra­ße ein.

»Ich muss wie­der um­keh­ren«, be­merk­te er, »ich woh­ne Al­brecht­stra­ße.«

»Fa­bel­haft«, so be­gann er wie­der, »was für’n Glück Sie heu­te Abend ge­habt ha­ben! Sie ha­ben wohl ’nen hüb­schen Bat­zen ein­ge­sackt, und ich bin doch nett zu Ih­nen ge­we­sen, dass ich Ih­nen das Spi­el­lo­kal ge­zeigt habe. Bit­te, gern ge­sche­hen. Un­ter Kol­le­gen tut man sich so was zu­lie­be, ohne Pro­zen­te zu ver­lan­gen. A pro­pos, kön­nen Sie mir bis zum Ers­ten hun­dert Mark pum­pen? Wenn Sie wüss­ten, wie schä­big der Je­ku­ser zahlt. Es ist nicht zu sa­gen, dass ich seit sechs Jah­ren, dass ich mir bei ihm die Nä­gel kurz schrei­be, im­mer bloß zehn Pfen­nig für die klei­ne Zei­le be­kom­me. Und die wei­ßen hal­b­en Zei­len zieht er ab!«

An­dre­as griff in die Ta­sche, be­vor Kaf­lisch zu Ende war. Er reich­te den Schein sei­nem Nach­bar, der einen Au­gen­blick ver­strei­chen ließ, be­vor er sich be­dank­te. Vi­el­leicht hat­te er nur zwan­zig Mark er­war­tet.

Der Wa­gen hielt, und An­dre­as ver­ab­schie­de­te sich. Als er den Schlag hin­ter sich ge­schlos­sen hat­te, ließ Kaf­lisch das Fens­ter her­un­ter und rief ihm nach:

»Sie! Ei­nen Mo­ment! Mein klei­nes Geld langt nicht, Sie be­zah­len wohl den Kut­scher!«

1 durch die Lor­gnet­te be­trach­ten; scharf mus­tern <<<

Im Schlaraffenland

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