Читать книгу Im Schlaraffenland - Heinrich Mann - Страница 13
VI. Die Mittel, mit denen man was wird
ОглавлениеMan stand vom Tische auf, der Tabakrauch fing an, sich im Saale zu verbreiten. Alle Welt rauchte, am Nebentisch hatte die Fürstin Bouboukoff zwischen den Gerichten ihre Zigarette wieder angezündet.
Duschnitzki und Süß verloren sich inmitten der Gäste, die über die Treppengalerie in die Salons zurückkehrten. Klempner führte Andreas seitwärts in ein kleines Spiegelkabinett. Durch eine Glastür betrat man von dort das geräumige Gewächshaus. Die fortwährend springende Beleuchtung setzte Andreas in Erstaunen, er beobachtete die Damen und Herren, die, mit transportablen Drähten in der Hand, von einer Pflanzengruppe zur anderen gingen und hier und da das elektrische Licht aufblitzen ließen. Auf schlanken Sockeln, unter duftlosen Blumen halb versteckt, standen Bronzen, Terrakotten und silberne Statuetten, die alle einer Familie angehörten, einer Familie hagerer Faune und mondsüchtiger Sylphen, begehrlicher Ziegenböcke und rätselhaft lächelnder Knaben.
Auf den Diwans unter den Palmen verdaute eine Anzahl älterer Herren, die Wandelgänge waren voll lorgnettierender1 Damen. Die beiden jungen Leute, die am Eingang lehnten, konnten die Kunstwerke in den überall angebrachten Spiegeln betrachten. Eine zerbrechliche kleine Nymphe, die eine entfernte Ähnlichkeit mit Werda Bieratz hatte, neigte sich über die Quelle, die am Fuß einer Palme in ein gemeißeltes Becken floss. Sie hatte sich der burlesken Angriffe eines marmornen Silens zu erwehren, dessen Bauch und dessen feistes Lächeln Andreas heute Abend ebenfalls schon gesehen zu haben meinte. Zwei Knaben, süß und zart wie die Grazie, die nicht leben darf, scherzten unschuldig miteinander, indem sie bei einer privaten Verrichtung über den Wandelgang hinüber einander bewässerten.
»Das ist Claudius Mertens’ Kunst!« rief Klempner mit düsterer Feierlichkeit aus.
Andreas nahm sich zusammen, um die Befangenheit zu verbergen, die ihm weniger Claudius Mertens’ Schöpfungen einflößten als die Damen, die sie mit so vorurteilsloser Kennerschaft betrachteten.
»Und was anderes macht der Künstler nicht?« fragte er.
Klempner lächelte schmerzlich.
»Verurteilen Sie Claudius nicht, er ist auch einer, den die Welt erzogen hat!« versetzte er, sich an die Brust schlagend.
»Ich kann Ihnen sagen, dass Claudius in seinen jungen Jahren Marmorblöcke unter den Händen gehabt hat, mit denen sich Michelangelo begnügt hätte, als er nach ausreichendem Material für das Grabmal seines Herrn suchte. Was fängt aber die moderne Gesellschaft mit solchen Schwärmern an? Als Claudius noch der großen Kunst frönte, lebte er in einer Steinmetzbaracke von trocknem Brot. Seit er aber entdeckt hat, was die zahlenden Kunstfreunde verlangen, hat er wöchentlich zehn Einladungen, man reicht ihn sich herum, beim Essen empfängt er Bestellungen und verdient, während er verdaut.«
Klempner war in Emphase geraten.
»Wir Künstler sollten allen voran die Revolution einläuten!« rief er so laut, dass zwei glatzköpfige Bankiers, die nebenan auf dem Diwan gähnten, aufblickten und die jungen Leute erheitert anblinzten.
Andreas waren diese Ansichten nicht fremd, aber Klempner, der es gewiss nicht böse meinte, schrie zu laut für die feierliche Stille des Kunstkabinetts. Er kehrte mit seinem Begleiter in den Saal zurück, der sich langsam wieder füllte. Die Tische waren entfernt, eine ganz neue und reine Luft ließ alle aufatmen. Türkheimer, der eben eintrat, näherte sich einem Kreis von Leuten, die mit erhobenen Nasen schnupperten.
»Gebirgsluft, was?« sagte er. »Noch ein bisschen zu dünn, aber es wird schnell besser werden.«
Und er erklärte, dass er hier, wie schon früher in den Salons, einige Schläuche mit Oxygen habe leeren lassen.
»Ein ganz neues technisches Verfahren, die Wissenschaft macht doch kolossale Fortschritte. Für kaum tausend Mark hat man den ganzen Abend die reinste klimatische Höhenkur im Hause.«
»Für tausend Mark Luft!« rief Lizzi Laffé entzückt.
»Tausend Mark sind für mich Luft, wenn es sich um das Behagen meiner Gäste handelt«, versetzte Türkheimer mit einer galanten Verbeugung.
Die Gäste kehrten jetzt zahlreicher zurück, und als der Saal sich so weit angefüllt hatte, dass man sich nur in geschickten Wendungen fortbewegen konnte, entstand das Gerücht, man wolle tanzen. Ein kleiner, rundlicher Herr, der jetzt plötzlich bemerkt ward, schwänzelte lächelnd und sich die Hände reibend bis zu dem Klavier, das in einer Ecke des weiten Raumes aufgestellt war, und begann sofort energisch einen Walzer zu spielen.
Vier oder fünf Paare fingen an, sich unter dem Kronleuchter zu drehen, wo sie dadurch, dass sie den Umstehenden auf die Füße traten, allmählich einen mäßigen freien Raum gewannen. Andreas fand im Allgemeinen, dass man auf der Kirchweih in den Dörfern bei Gumplach besser tanze. Doch fielen ihm die anmutigen Bewegungen der jungen Frau auf, die Kaflisch vom »Nachtkurier« ihm als die Gattin des Herrn Blosch bezeichnet hatte. Er sah sie mit ihrem Manne tanzen und erstaunte darüber, wie sie es fertigbringe, den Plumpsack im Takt zu erhalten. Aber er hatte was Gutmütiges, er freute sich gewiss, ihr gefällig zu sein. Sie sah wahrhaftig aus, als ob sie hier bloß ihn gekannt hätte, so fremd und schüchtern, mit ihrem schlichten graublonden Haar und ihrem zwei Finger breit ausgeschnittenen Kleidchen!
Andreas erinnerte sich, dass Kaflisch ihm geraten habe, er solle sich von Klempner etwas über Frau Blosch erzählen lassen. Klempner fuhr noch immer fort, im Anschluss an Claudius Mertens’ Werke über Kunst und Gesellschaft zu perorieren. Andreas unterbrach ihn mit der Frage:
»Herr und Frau Blosch sind wohl jung verheiratet?«
Klempners Redseligkeit warf sich eifrig auf das neue Kapitel.
»Weil sie zusammen tanzen? Oh, die können unter vier Augen achtzig Jahre alt werden und sind doch nie länger als vier Wochen verheiratet gewesen. Die Ehe Blosch, soll ich Ihnen sagen, was die ist? Nun wohl, sie ist ein Veilchen unter Klatschrosen und ein Idyll im Schwurgerichtssaal. Wissen Sie, wer Blosch ist?«
Andreas verneinte.
»Ihnen gehen die Grundbegriffe ab, nehmen Sie’s nicht übel. Blosch ist einer der verrufensten Spekulanten an der ganzen Börse, er ist Türkheimers verdammte Seele. Er nimmt die Praktiken auf sich, die das alte und vornehme Haus Türkheimer nicht ohne Skandal auf eigene Rechnung ausführen kann. Türkheimer weiß seine Diskretion so gut zu schätzen, dass er dem Blosch durchschnittlich fünfzigtausend Mark im Jahr zu verdienen gibt. Trauen Sie jetzt einem Manne wie Blosch so ’n Ding zu, das man ein frommes Gemüt nennt? Nun hören Sie mal!
Vor beiläufig fünf Jahren will Türkheimer mit einem seiner Opfer, irgendwo in der Provinz, liquidieren und schickt Blosch hin. Es handelte sich um einen kleinen Industriellen, der sich kindisch gefreut hatte, sich mit dem berühmten Bankhaus Türkheimer an einer Terrainspekulation beteiligen zu dürfen. Um die feine Gelegenheit nicht zu verpassen, hatte der Mann seine Fabrik mit Hypotheken über und über belastet, seinen Anteil an den Terrains halb bezahlt und den Rest von Türkheimer kreditiert bekommen. Die Terrains waren gestiegen, und Türkheimer hatte sich beeilt, seinem Partner den Kredit zu kündigen. Er brauchte bloß noch die Liquidation abzuwarten und dem Manne seinen Anteil an den Terrains für ein Butterbrot abzunehmen. Das Geschäft war so klar, dass man es in aller Freundschaft abmachen konnte. Blosch kommt also mit den besten Absichten angereist, macht sich auf eine Gläubigerversammlung gefasst und hat nichts gegen einen gütlichen Ausgleich, vorausgesetzt, dass Türkheimer die Terrains zufallen. Statt dessen erfährt er, dass der Mann wirklich einfach Pleite macht, aber ich sage Ihnen, eine Pleite, so ehrlich, wie kein Mensch es für möglich hält. Es war rührend, er hatte sogar die Schmucksachen seiner Tochter mit zur Masse geschlagen.
Ob Blosch nun aus der Unterredung mit dem Manne irgendeine innere Erschütterung davongetragen hatte? Wer weiß es? Ich kenne aber den unheimlichen Elan der Geschäftsleute länger als Sie, und ich versichere Sie, die Gutmütigkeit dieser Leute ist mit ihren Raubtierinstinkten gerade so verquickt wie ihre allgemein menschliche Dummheit mit ihrer geschäftlichen Schlauheit. Einmal im Leben kann ein Blosch einen sentimentalen Streich begehen, und da ein Blosch immer Glück hat, so bekommt ihm auch der recht gut.
Genug, als Blosch sein Opfer nach der ihn durchaus verblüffenden Unterredung verlässt, sieht er im Vorzimmer, wo kaum noch Möbel stehen, die Tochter am Fenster sitzen. Gleich darauf tritt er wieder bei dem Bankrottierer ein, zupft sich den Schnurrbart und sagt leicht verlegen:
›Herr Müller, es tut mir leid, wenn ich Ihnen lästig falle, aber ich muss Ihnen etwas sagen, dass Sie mich nämlich glücklich machen könnten, wenn Sie mir die Hand Ihrer Tochter geben wollen.‹
Der ruinierte Mann, der plötzlich für seine Tochter einen Millionär vom Himmel fallen sieht, greift sich an die Stirn, dann kommen ihm die Tränen, und dann fällt er vor seinem Retter auf die Knie. Stellen Sie sich die Szene auf der Bühne vor! Ein Leckerbissen, was?«
»Erstaunlich!« sagte Andreas.
»Und Sie müssen wissen, dass es Türkheimers ausgesprochene Absicht war, Blosch mit Asta zu verheiraten und ihn in die Firma aufzunehmen!«
»Erstaunlich!« wiederholte Andreas. »Und Blosch ist glücklich mit seiner Frau?« fragte er.
»Noch besser!« sagte Klempner, »er hat sie noch nie betrogen. Eine Musterehe, sage ich Ihnen, wie sie nur in Kreisen vorkommen kann, wo die Ehe eigentlich als vorsintflutliche Einrichtung gilt!«
Andreas hätte Klempner gern noch lange so fortreden lassen. Er blickte von der Schwelle, wo sie standen, mit einem unbestimmten Bangen in den Tanzsaal hinein. Es kam ihm vor, als ob hier eine Gefahr lauere, die den ganzen Erfolg seines Abends in Frage stellen könne.
»Wenn man mich zwänge, eines von diesen vielen tanzlustigen jungen Mädchen aufzufordern«, so sagte er sich, »was sollte ich mit ihr anfangen, was würde dann passieren?«
Die mageren unter den jungen Mädchen waren nur wenig ausgeschnitten, die dickeren beträchtlich weiter. Ihre Gesichter waren meistens keck, ihr Lächeln nicht immer anmutig, aber ausnahmslos recht aufgeweckt. Sie schienen Andreas prätentiös wie Prinzessinnen und kritisch wie Gassenjungen. Wie das kleine unscheinbare Wesen dort dem gewichtigen, reich aussehenden Herrn mit den X-Beinen doch so rücksichtslos ins Gesicht lachte!
Andreas hatte das sichere Gefühl, dass er bei den jungen Mädchen gar nichts zu suchen habe. Er betrachtete sie, wie sie in einer regenbogenfarbenen Reihe beieinander saßen und sich ganz unverhohlen über die Männer lustig machten, und er nannte sie »Puten«. Aber es waren ihm unheimliche Wesen. Wenn er hier jemals sein Glück machte, so konnte es nur mit Hilfe jener reifen Frauen geschehen, die durch eine reichere Erfahrung gütig und nachsichtig gemacht waren und die vertrauensvolle Hingebung eines jungen Mannes zu schätzen wussten. »Für ein junges Mädchen bin ich zu naiv«, so überlegte Andreas ausdrücklich.
Er stellte sich Adelheids teilnehmendes Lächeln vor, wie sie ihn gefragt hatte, er müsse sich in Berlin wohl recht wie in der Fremde fühlen.
Türkheimer, der hier und da einen jungen Mann, der sich unvorsichtig vorwagte, einer Tänzerin zuschleppte, erfüllte ihn mit Besorgnis. Glücklicherweise verschwand er mit mehreren anderen Herren in einem Nebenzimmer. Andreas dachte schon daran, allen möglichen Unglücksfällen aus dem Wege zu gehen und still die Gesellschaft zu verlassen, aber da kam die Hausfrau, von ein paar älteren Damen herbeigewinkt, dicht an ihm vorüber. Ihr stolzer, wiegender Gang gefiel Andreas noch besser als ihre müde Ruhe in dem Sessel, wo er sie zuerst gesehen hatte. Ihre Büste und die vollkommen runde Taille kam so besser zur Geltung, dazu fand er die Haltung ihres Kopfes, mit dem schweren Helm schwarzer Haare über der engen Stirn, geradezu faszinierend, ungeachtet des zu kurzen Halses. Er verbeugte sich ehrfurchtsvoll.
»Ah, da findet man Sie wieder, Herr Zumsee!« sagte sie; flüchtig und wie zufällig blieb sie vor ihm stehen.
Klempner, der noch immer sprach, hörte plötzlich mitten im Wort auf. Er redete einen vorübergehenden jungen Mann an und entfernte sich mit einer Diskretion, die er sich Mühe gab merken zu lassen.
Andreas beachtete, dass Frau Türkheimer seinen Namen behalten habe.
»Sie haben noch nicht getanzt?« fragte sie ihn.
»Noch nicht, gnädige Frau.«
»Nein, diese jungen Leute! Aber warum denn nicht?«
Andreas fuhr fort, ihr in die Augen zu sehen, aber er wurde rot. Wie dumm, eine Lüge zu erfinden, die sie schon hundertmal von anderen gehört haben musste. Würde es nicht einen viel günstigeren Eindruck machen, wenn er einfach zugab: »Ich bin schüchtern«?
»Gnädige Frau werden mich auslachen«, begann er.
»Nun?« Frau Türkheimer lächelte auffordernd.
»Ich habe nämlich in Berlin noch nie getanzt«, sagte Andreas mit blinder Entschlossenheit, »und gnädige Frau müssen wissen, dass ich noch nicht zwei Worte mit einem Berliner jungen Mädchen gewechselt habe.«
Er bekam einen leichten Fächerschlag auf den Arm.
»Sie fürchten sich, gestehen Sie es nur!« sagte Adelheid.
»Was ist da zu gestehen?« erklärte er seufzend. »Können gnädige Frau sich vorstellen, was ich einer von diesen jungen Damen noch zu sagen hätte, nachdem ich das große Glück gehabt habe, von Ihnen, gnädige Frau, so gütiger Worte gewürdigt zu werden?«
Sie lächelte wieder, ein wenig nachdenklich. Seine kleine Rede, die diesmal improvisiert war, schien sie abermals etwas ungewöhnlich und nicht ganz übel zu finden. Ihr Fächer war schon zu einem neuen Schlage erhoben, senkte sich jedoch wieder. Sie nickte dem jungen Manne schnell und freundlich zu und sagte im Weitergehen:
»Also unterhalten Sie sich gut! Auf Wiedersehen!«
Kaflisch vom »Nachtkurier«, der plötzlich neben Andreas stand und ihm die in elegantem Bogen erhobene Hand reichte, musste der Szene zugesehen haben. Er schob sein schlau grinsendes Gesicht dicht unter Andreas’ Nase, um zu bemerken:
»Sie Schäker!«
»Es warten übrigens noch mehr schöne Augen auf Sie«, setzte er hinzu, indem er den Arm des jungen Mannes ergriff. »Der Frau Mohr muss ich Sie vorstellen, Sie hat nach Ihnen gefragt.«
Ehe Andreas sich zu sträuben vermochte, befand er sich einer hübschen Frau gegenüber, die zwischen Ballmüttern in einem niedrigen Sofa lehnte. Sie trug eine dunkelviolette Seide, die auch einer älteren Dame angestanden hätte. Ihr volles braunes Haar war sehr schlicht geordnet. Sie hielt kein Lorgnon in der Hand, was Andreas beruhigte, und sie erwiderte seine Verbeugung mit einem reizend gütigen, fast mütterlichen Lächeln. Ihr Wesen hatte etwas ungemein Friedliches, von Eitelkeiten und Leidenschaften unberührtes. Sie bot das Bild einer anständigen Frau, die gerade in ein gewisses Alter eintritt.
»Ah, Herr Zumsee«, sagte sie, »ich muss Ihnen danken, Sie haben mir eine sehr freundliche Stunde bereitet. Ihr Beitrag in der ›Neuzeit‹ …«
Andreas traute seinen Ohren nicht, Frau Mohr hatte sein Gedicht im Beiblatt des »Nachtkurier« gelesen. Oder hatte nur Kaflisch, der so abscheulich grinste, sie davon unterrichtet? Man wusste hier ja nie, was man glauben durfte. Er stammelte einige Dankesworte. Neben ihnen begannen mehrere Paare zu walzen. Andreas fühlte sich verpflichtet, Frau Mohr zu bitten.
»Ich tanze eigentlich nicht«, versetzte sie, indem sie sich erhob.
Andreas glaubte, ein recht guter Tänzer zu sein, aber er befand sich auf fremdem Terrain. Das Parkett war zu glatt und die Schleppe zu lang. Als er seine Dame auf ihren Platz zurückgeleitete, sah er sich beschämt. Bei zwei Runden unter dem Kronleuchter war er dreimal aus dem Takt gekommen. Frau Mohr blieb dennoch ganz erstaunlich liebenswürdig, Andreas konnte sich nicht früher von ihr verabschieden, als bis eine Dame sie in die Unterhaltung zog.
Kaflisch, der ihn erwartet hatte, ergriff sogleich wieder von ihm Besitz. Da Andreas plötzlich eine Art von Berühmtheit erlangt hatte, benutzte Kaflisch gern ihre alte Freundschaft, um sich mit ihm zu zeigen.
»Was wollte denn die Frau Mohr?« fragte Andreas unwillkürlich. Das einschmeichelnde Benehmen der hübschen Frau beunruhigte ihn tief. Er fühlte sich umworben und glaubte, mit seiner Gunst sparsam sein zu müssen. Frau Türkheimer musste der Überzeugung bleiben, dass sie die einzige sei, der er zu huldigen wünschte.
Kaflisch grinste.
»Glauben Sie, dass das Ihnen gilt? Nur nicht ängstlich, mein Bester. Die Mohr macht nur der schönen Hausfrau den Hof. Sie sind der neue Günstling, also muss Frau Mohr Ihre Freundin sein.«
»Warum denn?« fragte Andreas, nun doch ein wenig enttäuscht.
»Sie ist ’ne nachsichtige Frau, wissense. Sie nimmt Adelheid ihre Schwächen nicht übel. Unter Frauen, von denen jede ihre Schwächen hat, ist das manchmal so. Man gründet ein Konsortium behufs gegenseitiger Versicherung des guten Rufes. Verstehnse mich, sehr geehrter Herr?«
»Frau Mohr macht so ’nen anständigen Eindruck«, bemerkte Andreas. Kaflisch erklärte:
»Tut sie auch. Und sie hat auch ’ne förmliche Leidenschaft für Anständigkeit, wenn sie nur nicht Geld brauchte! Sehn Sie mal, unter allen denen, die hier herumwimmeln, kann ihr kein einziger was zu seinem eigenen Vorteil nachsagen. Was sie braucht, holt sie sich aus anderen Kreisen, noble Fremde oder Herren vom Hof, wissense. Kommt sie dann hierher, so ist sie in ’ner ganz anderen Welt. Hier kramt sie so viel gute Sitte aus, dass sie uns allen noch was davon abgeben könnte.«
»Komische Passion«, meinte Andreas.
»Gar nicht so übel«, versicherte Kaflisch. »Sie hält sich an Adelheid, weil die natürlich zu reich ist, als dass man sie belächeln könnte.«
Andreas zweifelte.
»Das scheint mir eine ganz unnötige Anstrengung zu sein«, bemerkte er.
»Junger Mann!« rief Kaflisch feierlich, »Sie kennen nicht die Willensstärke gewisser Frauen! Diese hier will nun mal für anständig gelten, und sie weiß es durchzusetzen, dass jeder, der ihre Lebensweise ganz genau kennt, sie so behandelt, als glaubte er an ihre Tugend, ’s ist eigentlich ’ne ungeheure Leistung von so ’ner Frau, wissense, und ganz ohne Profit, bloß der Ehre wegen. Sie mimt die Tugend, wie andere das Laster mimen.«
»So was gibt es auch?« fragte Andreas.
»Und ob! Sie werden hier im Hause die Frau Pimbusch kennenlernen.«
»Die Frau des großen Branntweinfabrikanten?«
»Dem Schnapsfeudalen seine Frau. Da werden Sie sehen, wie das Laster aussieht. Aber verbrennen Sie sich nicht die Finger, rate ich Ihnen! Sie ist unschuldig, nicht mal von Pimbusch hat sie sich ihre Unschuld rauben lassen. Er soll übrigens gar nicht dazu imstande sein.«
»Eine Frau muss sich doch recht sehr langweilen, wenn sie auf solche Dinge verfällt«, meinte Andreas. Kaflisch zuckte die Achseln.
»Was wollen Sie? Wir haben Nerven. Müde Rasse! wie Goldherz sagt. Alte Kultur! Gott, wie sind wir müde!«
Kaflisch versuchte, die Schultern tief zu senken. Er ließ die Mundwinkel herabhängen und begann mit mattem Blick vor sich hinzuträumen. Andreas befürchtete, man möchte die Nachahmung des Freiherrn von Hochstetten erkennen. Er suchte Kaflisch fortzuziehen, doch dieser blieb stehen. Sie befanden sich bei der Tür, hinter der früher der Hausherr mit einigen Gästen verschwunden war. Kaflisch machte eine Armbewegung, als setzte er eine eifrige Unterhaltung fort.
»Wissense was?« sagte er leise. »Nebenan wird gejeut. Sehnse sich das mal an!«
Er schob Andreas hastig vor sich her über die Schwelle und beeilte sich, den Vorhang hinter ihnen zufallen zu lassen.
Sie durchschritten ein Spiegelkabinett, ganz ähnlich dem, das als Vorzimmer des Claudius-Museums diente. Dann betraten sie ein weites Gemach, das zu zwei Dritteln leer stand. Auf den Diwans an den Wänden nickten zwei oder drei alte Herren, eine große Anzahl Gäste umdrängte dagegen das kreisrunde Geländer, das in geringem Abstände den gleichfalls runden Spieltisch umgab. Andreas bemerkte auf dem Tische ein äußerst sinnreiches horizontales Rad, dessen sieben Sprossen durch elfenbeinerne Pferdchen bezeichnet wurden. Es saßen kleine Reiterinnen, aus Silber, mit Perlmutter eingelegt, in meistens durchaus intimen Stellungen darauf. Nur Claudius Mertens konnte sie geschaffen haben.
»Haben Sie schon mal gespielt?« fragte Kaflisch.
Andreas hatte Lust zu lügen, fürchtete aber, darauf ertappt zu werden.
»Nein«, sagte er.
Kaflisch erhob plötzlich die Stimme, er rief schrill und triumphierend in die stille Versammlung hinein:
»Meine Herren, Sie ahnen es nicht! Hier ist ein Herr, der noch nie gespielt hat!«
Ein Gemurmel, das Andreas nicht verstand, ging durch die Reihen der Gäste. Ein langer, hagerer Mensch trat sofort auf ihn zu und berührte mit einer Hand, die leicht zitterte, Andreas’ Arm.
»Wenn ich mir die Frage erlauben darf, wie alt sind Sie, mein Herr?« fragte er höflich.
»Dreiundzwanzig«, antwortete Andreas ebenso höflich.
»Ich bitte um fünf!« rief der Hagere, ohne Andreas auch nur zu danken, einem Dicken mit weißen Haaren auf dem blassen fetten Gesichte zu, der hinter dem Geländer stand, das Geld des Hageren in Empfang nahm und ihm mehrere Papierstreifen überreichte.
Die Menge der Spieler begann zu murren. Es sei keine Kunst zu gewinnen, wenn man einen Neuling für sich habe. Das Spiel sei ungültig, sie verlangten ihre Einsätze zurück. Aber der blasse, dicke Herr protestierte lebhaft. »Fertig!« rief er und schickte sich an, das Rad zu drehen. Man wollte ihn daran hindern, Türkheimer, der unter die Aufgeregten trat, suchte sie liebenswürdig zu beschwichtigen.
»Ordnung vor allem, meine Herren!«
»Voyons, messieurs!« versetzte auch der Chefredakteur Doktor Bediener, der sich an den Herrn hinter dem Geländer wandte.
»Einen Augenblick, bitte, Herr Stiebitz!«
»Wollen Sie nicht setzen?« fragte er Andreas.
»Natürlich! Setzen Sie doch!« sagte Türkheimer, der dem jungen Manne wohlwollend zunickte.
»Setzen Sie doch, Herr, Herr – re…«
»Zumsee«, ergänzte Andreas.
»Fünf!« verlangte er sodann mit lauter Stimme, wie er es von dem Hageren gehört hatte.
»Wie viel?« fragte Herr Stiebitz.
Andreas sah auf dem grünen Bezug des Geländers ganze Goldhaufen vor den Spielern aufgebaut, es ward ihm ein wenig unheimlich zumute. Er fürchtete schon, gezögert zu haben und griff schnell, aber so ruhig wie es ihm möglich war, in die Tasche. Er öffnete das Portemonnaie, ohne es hervorzuziehen, weil er dies für eleganter hielt, und warf nachlässig die beiden Zwanzigmarkstücke, die darin gewesen waren, auf das grüne Tuch.
Stiebitz gab ihm zwei Nummern, dann schnurrte das Rad inmitten der allgemeinen Stille. Andreas ließ sich von dem kreisenden Ring hypnotisieren, in dem anfangs alles zusammengeflossen war. Allmählich waren die einzelnen Pferdchen wieder zu unterscheiden. Es deuchte ihm eine Ewigkeit, bis das Rad stand. Die Spieler neigten sich über das Geländer und riefen durcheinander.
»Fünf gewinnt!« sagte Stiebitz ruhig.
Er begann die Gewinne auszuzahlen und legte vor Andreas zweihundertundachtzig Mark hin.
Andreas sah das Geld flüchtig an und ließ es liegen. Er fürchtete, vor Freude rot zu werden, und blickte möglichst gleichmütig nach dem fünften Pferdchen hin, das am Ziel stehengeblieben war. Die silberne Dame, die darauf saß und die durch ihre Haltung den Anstand mehr verletzte als sie wusste, schien ihm auffordernd zuzulächeln. Er hörte einen Spieler, der gewonnen hatte, ausrufen:
»Na, warum geht’s denn nu?«
»Pst! Nichts verderben!« mahnte der hagere Herr, dem Andreas Dank zu schulden meinte, weil er die Fünf zuerst genannt hatte.
Man hörte nur das Geld klappern, in dem Herr Stiebitz herumrührte. Dieser wandte sich an den zunächststehenden Spieler.
»Ich passe!« rief man ihm entgegen, scharf und kurz nacheinander, wie ein Schnellgewehrfeuer.
Als Stiebitz bei Andreas angelangt war, fühlte dieser alle Blicke auf sich gerichtet.
»Die Leute sind abergläubisch«, sagte Andreas sich, während er ruhig Stiebitz anblickte.
»Das Rad kann stehenbleiben, wo es will. Welchen Zweck hat es, eine Nummer besonders auszuwählen. Mit Fünf habe ich Glück gehabt.«
»Fünf!« sagte er und schob Stiebitz die zweihundertachtzig Mark zu, die vor ihm lagen.
Eine kurze, zögernde Bewegung ging durch die Versammlung, dann rief alles durcheinander:
»Fünf!«
Als Stiebitz alle Einsätze eingesammelt hatte, verlangte Türkheimer ruhig lächelnd:
»Sieben!«
»Fünf!« sagte gleich darauf noch ein herzutretender Herr mit schönem schwarzen Vollbart. Andreas erkannte den Zionisten Liebling.
Wieder der kreisende Ring, aus dem langsam die Pferdchen auftauchten. Als das Rad stand, neigten sich abermals alle gierig über das Geländer.
»Fünf gewinnt!«
Diesmal war es unbestritten, alle außer Türkheimer gewannen. Stiebitz zahlte aus. Er legte vor Andreas einen Tausendmarkschein, einen Fünfhundertmarkschein, vier Hundertmarkscheine und drei Zwanzigmarkstücke hin. Andreas kam es vor, als ob das blasse Fett in Stiebitz’ Gesicht mit den weißen Haaren darauf sichtlich zitterte.
Türkheimer trat auf den jungen Mann zu und reichte ihm eine Hand, während er sich mit der anderen wohlgefällig über die gefärbten rötlichen Koteletten strich.
»Ist mir ein wahres Vergnügen, mein Geld an Sie zu verlieren«, sagte er. »Ich halte schon den ganzen Abend die Sieben, mal muss sie doch herauskommen.«
Andreas konnte ihm nur kurz danken. Er blickte verstohlen und mit heimlicher Besorgnis von Stiebitz auf sein gewonnenes Geld, das er zählte: neunzehnhundertundsechzig Mark, und dann wieder auf Stiebitz, der diesmal gleich an ihn herantrat.
Was sollte er ihm sagen? Zum dritten Mal gewinnt man nicht, dachte er, während der Besitz von so viel Geld und die Angst, es zu verlieren, ihm Herzklopfen verursachte. Er hielt den Atem an und erhob die Hand zu einer möglichst kühlen, langsamen Bewegung, um Stiebitz abermals die ganze Summe zuzuschieben. Aber in der Sekunde, während seine Hand sich dem Geländer näherte, arbeitete sein Gehirn mit unerhörter Schnelligkeit.
Musste es denn sein? Offenbar war es wenig vornehm, den Gewinn sogleich in die Tasche zu schieben und davonzugehen. Es konnte ihn hier unmöglich machen oder doch sein Ansehen vernichten. Alle würden darauf aufmerksam werden. Es musste also wohl sein.
Aber das Ganze? Unsinn! Plötzlich kam eine große Nüchternheit über ihn, seine Familiennüchternheit gewann rechtzeitig die Oberhand, die Nüchternheit seines Vaters, des Weinbauern, der jeden Groschen dreimal umgewendet hatte, bevor er ihn ausgab, und der froh gewesen war, wenn die Reben, die er gepflegt hatte wie Säuglinge, alle sieben Jahre einmal gut trugen. Zweitausend Mark gutes erworbenes Geld auf eine Nummer setzen, das heißt zum Fenster hinauswerfen! So dumm mochten die Berliner sein. Da hörte jede gesellschaftliche Rücksicht auf. Ehe Andreas seine ruhige Bewegung vollendet und die Banknoten berührt hatte, war er entschlossen, nur den Fünfhundertmarkschein zu opfern. Er ergriff aber bloß drei Hundertmarkscheine und reichte sie Stiebitz.
Er hatte doch nicht gezögert? Nein, es machte niemand ein spöttisches Gesicht, aber alle sahen gespannt aus.
»Sie spielen?« fragte Stiebitz.
»Fünf«, sagte Andreas, ohne nachzudenken. Das Spiel kümmerte ihn nicht mehr, die dreihundert Mark waren verloren, ein Ehrenopfer, das nur dazu dienen sollte, ihm einen guten Abgang zu verschaffen.
Diesmal empörten sich die Spieler gegen den Neuling, sie fanden seine Waghalsigkeit zu stark. Es äußerten sich sarkastische Zweifel. Jemand sagte:
»Mit die Beene will er angeln gehn?«
Der lange, hagere Herr zuckte geheimnisvoll die Achseln und verlangte dennoch Fünf. Aber es folgten ihm nur wenige.
Die Sieben lief ins Ziel. Andreas schob ruhig den ihm verbleibenden Gewinn in die Hosentasche, richtete den Kopf auf und blickte kurz um sich, mit dem Entschluss, demjenigen recht fest ins Auge zu sehen, der zu lächeln wagte. Aber sein Benehmen schien im Gegenteil etwas wie Bewunderung hervorzurufen. Als er vom Geländer zurücktrat, blinzelte ihm der Hagere, der verloren hatte und weiterspielte, neidisch nach.
»Bravo!« hörte er hinter sich jemand sagen. Er gewahrte Türkheimer, der endlich gewonnen hatte, und der ihn wieder, wie am Beginn des Abends, zu einer Begrüßung aufzufordern schien. Sie wechselten eine höfliche Verbeugung.
Als Andreas schon die Portiere ergriffen hatte, fühlte er eine Hand auf seiner Schulter. Herr Liebling sah ihm ernst und feierlich in das Auge, sein schwarzer Bart zitterte ein wenig, bevor er sagte:
»Halten Sie mich nicht für aufdringlich, mein lieber Herr, Herr – re…«
»Zumsee«, ergänzte Andreas.
»Halten Sie mich nicht für aufdringlich, wenn ich Ihnen sage: Spielen Sie niemals wieder! Diese Mahnung hätte manchen vor Schaden bewahrt, wenn sie ihm rechtzeitig zuteil geworden wäre. Sie haben vielleicht bemerkt, dass dem Neuling besonderes Glück zugeschrieben wird. Welch alberner Aberglaube!«
»Du hast doch auch ein bisschen davon profitiert«, dachte Andreas.
»Ich gebe zu, dass man einmal gespielt haben muss«, sagte Liebling milde. »Aber nie zum zweiten Mal. Hier fängt die Sünde an«, setzte er eindringlich hinzu, indem er dem jungen Manne warm und kräftig die Hand schüttelte.
Bevor Andreas den Türvorhang hinter sich fallen ließ, hörte er ein paar Stimmen.
»Alle Achtung, der kann so bleiben!«
»So ’n Bengel, der hat die Mittel, mit denen man was wird!«
»Warum sollte ich mir das Spielen angewöhnen?« sagte sich Andreas, während er durch den Ballsaal schlenderte. »Halten sie das Spiel für eine Leidenschaft? Ich sehe nicht ein, warum ich mein Geld wagen sollte, solange ich genug habe. Wenn es auf die Neige geht, dann – sage ich nichts.«
Er ließ den Blick über die Menge der Damen gleiten, ohne Frau Türkheimer zu finden. Dann trat er auf die Galerie hinaus und zog heimlich, ganz heimlich seine silberne Uhr. Es war kurz nach drei.
Langsam stieg er ins Vestibül hinab. Er brauchte jetzt nicht um seine Haltung zu sorgen, wie damals, vor fünf Stunden, als er diese Stufen emporstieg. Seine Sinne waren frei, er prüfte in den wandhohen, geschliffenen Spiegeln seine Miene und stellte fest, dass es diejenige eines Triumphators sei. Er vermochte jetzt den Duft und die Augenweide der hohen Heliotropsträucher, der Orchideen und der purpurnen Kaktusarten zu genießen, die an dem Geländer aus durchbrochenem Schmiedeeisen entlang von Stufe zu Stufe sich türmten und die breite Treppe in einen hängenden Garten verwandelten. Auf dem Stiegenabsatz standen Ruhebänke, die in gepunztem Leder das Wappen des Hauses trugen: einen Türken, der den Säbel schwang. Andreas nahm hier einen Augenblick Platz und sah zwei Damen, die den Ball verließen, vorüberhuschen. Er verfolgte das Blitzen ihrer Brillanten und die gleißenden Reflexe des durch Blättergeflecht fallenden Lichtes auf dem Atlas ihrer Kostüme, und er sprach leise vor sich hin: »Ich habe euch!« Er wusste übrigens nicht genau, was er sich bei diesem großen Worte dachte.
Im Weitergehen gab er sich vernünftigeren Erwägungen hin. In so einem Berliner Hause ließ sich an einem einzigen Abend eine Menge erleben. Er entfernte sich anders, als er gekommen war, um viele Erfahrungen und Kenntnisse bereichert, die er doch nicht allzu teuer bezahlt hatte. Er war mit Lizzi Laffé in einer unpassenden Situation zusammengerannt, und er hatte Asta Türkheimer auf die Schleppe getreten. Merkwürdig, sie kamen ihm wie zwei Feindinnen vor. Er hatte ferner im Gespräch mit den jungen Leuten hier und da ein peinliches Schweigen hervorgebracht, und er hatte vor den jungen Mädchen Furcht gehabt. Dies war der negative Teil seiner Erfolge. Der positive bestand darin, dass er von Frau Türkheimer gnädig behandelt worden war, so gnädig, dass es vielen zu denken gegeben hatte und dass man nicht wissen konnte, was daraus werden würde.
»Ich habe wohl Glück gehabt«, sagte sich Andreas, »aber wenn ich nicht auch Vorsicht und Überlegung besäße, und wenn ich nicht wüsste, was ich will, hätte ich dann wohl das da in der Tasche?«
Und er tastete nach dem Tausendmarkschein.
Drunten in der Garderobe sprangen mehrere verschlafene Lakaien auf. Andreas konnte sich irren, aber er meinte zu bemerken, dass sie ihn diesmal mit einem gewissen Respekt behandelten. Vielleicht besaßen sie Übung darin, den Gewinner zu erkennen?
Nachlässig überreichte er dem, der ihm seinen Kragenmantel aus Loden umlegte, eine Doppelkrone, indem er heimlich bedauerte, kein Fünfmarkstück zu besitzen.
Als er unter dem Portal stand, rief ihm jemand nach:
»Sie! Sehr geehrter Herr, hörensemal!«
Kaflisch, vom »Nachtkurier«, kam im Laufschritt, lächelnd und winkend herbei. Er schob seinen Arm unter den des jungen Mannes.
»Gehen Sie schon nach Hause?« rief er. »Ich auch, das trifft sich ja reizend. Köstliche Sommernacht, was? Höchstens zwanzig Grad. Nehmen wir ’nen Wagen?«
In der ganzen Hildebrandtstraße erglänzte der Schnee von den Lichtern der Wagen, die in einer Doppelreihe von einem Gitter zum anderen standen. Es waren meistens herrschaftliche Fuhrwerke. Als sie ganz hinten eine freie Droschke erster Klasse gefunden hatten, fragte Kaflisch:
»Wo wohnen Sie denn?«
Andreas rief seine bescheidene Adresse, die ihm jetzt mit seiner sozialen Stellung in schreiendem Widerspruch zu stehen schien, voll Ingrimm dem Kutscher zu. Der Journalist bat sich eine Zigarette von Andreas aus. Während er sie anbrannte, erkundigte er sich:
»Nun, wie gefallen Ihnen Türkheimers?«
»Ein recht nettes Haus«, meinte Andreas.
»Nicht wahr? Man isst, spielt und mopst sich nicht mehr als unbedingt nötig. Ungeniert, mit freiem Eingang vom Flur, das ist die Hauptsache. Das übrige kann uns doch gleich sein.«
»Wieso?« wollte Andreas fragen, doch besann er sich. Es fiel ihm wieder ein, was er über sein Verhältnis zu Adelheid mit sich ausgemacht hatte. Frau Türkheimer war nicht auf eine Liebesinsel zu entführen. Sie würde aus der Umgebung des Tiergartens schwerlich herauszuheben sein, man musste durchaus das Terrain kennen. Andreas machte sogar schon auf eine Stellung im Hause Anspruch, die ihm gewisse Pflichten und Rechte auferlegte. Dabei wusste er aber noch kaum, was das für ein Haus war.
»Türkheimer muss schauderhaft viel Geld haben«, bemerkte er. Kaflisch hüllte sich in Rauchwolken.
»Na, es geht«, sagte er. »Was er der Regierung von Puerto Vergogna nicht abgegeben hat, das hat er selbst behalten.«
»Puerto Vergogna?« fragte Andreas.
»Die liebe Unschuld! Soll ich Ihnen was zu Gefallen tun? Ich will Türkheimer bei nächster Gelegenheit erzählen, Sie hätten sein Geschäft mit Puerto Vergogna nicht gekannt. Das wird ihm unendlich wohltun, denn so einem ist er noch nicht begegnet.«
»Natürlich«, log Andreas, »habe ich davon gehört. Aber die Einzelheiten habe ich nicht ganz begriffen.«
»Ist auch nicht so leicht, wie Sie glauben. Mancher begreift’s nie. Türkheimer ist eben ein großer Mann, das ist alles. Stellen Sie sich mal vor, dass Türkheimer mit dem Präsidenten oder Diktator der Republik Puerto Vergogna, der übrigens ein ausgebrochener Sträfling sein soll, dahin übereinkommt, das schöne warme Ländchen mit Eisenbahnen zu beglücken. Der Präsident macht Türkheimer zu seinem Generalkonsul und erteilt ihm die Konzession, Lose auszugeben. Diese wurden an der Berliner Börse nicht zur Quotierung zugelassen. (Türkheimer hatte damals noch keinen Hochstetten zum Schwiegersohn. Merkwürdig, wie weit wir es im Schutz der Dummen gebracht haben!) Aber in Wien ließ die Regierung mit sich reden. Na, Deutschland war doch der Hauptabnehmer der Stradas ferradas de Puerto Vergogna. Das deutsche Publikum hat nun mal ’ne rührende Vorliebe für wohlklingende Wertpapiere. Die ersten Prämien und Treffer sollen von der tropischen Republik sogar ausbezahlt worden sein. Aber als der Präsident von dem Ertrag der Emission, der auf siebzig Millionen geschätzt wurde, keinen Pfennig zu sehen bekam, merkte er, dass Türkheimer auch erfahrenen Sträflingen über sei, und sagte die Partie ab. Er fand die Eisenbahnen zum sittlichen und wirtschaftlichen Fortschritt seines Landes nicht mehr nötig, Puerto Vergogna stellte sich überdies als gänzlich pleite heraus, wofür Türkheimer doch offenbar nichts konnte, und das Deutsche Reich macht seitdem Vorstellungen bei der Republik. Es soll nächstens wieder mal ein Kreuzer hingeschickt werden, der deutschen Gläubiger wegen, und um der Welt zu zeigen, wie weit Deutschlands starker Arm reicht. Verstehnsemich, sehr geehrter Herr?«
»Also siebzig Millionen«, sagte Andreas nachdenklich.
»Nicht wahr?« rief Kaflisch begeistert. »Was für’n großer Mann! Ich sage es ja immer, für uns moderne Literaten geht nichts über das Genie der Tat. Napoleon, Bismarck, Türkheimer!«
Er bat um eine zweite Zigarette und verfiel in Schweigen. Andreas’ Gedanken blieben, ein wenig müde, bei Kaflisch’ letztem Wort stehen. Der Mann entdeckte also gelegentlich auch etwas wie ein literarisches Ideal in sich. Nun ja, das hatten die von der Tafelrunde im »Café Hurra« auch besessen, bevor sie sich irgendeinem Jekuser verdungen hatten, und gelegentlich des Nachts um drei, wenn sie gratis zu trinken erhalten hatten, kam es wieder zum Vorschein. Andreas ruhte nach allen Aufregungen des Abends wohlgefällig in der Überlegenheit des freien Dichters über den schreibenden Tagelöhner aus.
Kaflisch wischte die Scheiben ab; der Wagen bog in die Linienstraße ein.
»Ich muss wieder umkehren«, bemerkte er, »ich wohne Albrechtstraße.«
»Fabelhaft«, so begann er wieder, »was für’n Glück Sie heute Abend gehabt haben! Sie haben wohl ’nen hübschen Batzen eingesackt, und ich bin doch nett zu Ihnen gewesen, dass ich Ihnen das Spiellokal gezeigt habe. Bitte, gern geschehen. Unter Kollegen tut man sich so was zuliebe, ohne Prozente zu verlangen. A propos, können Sie mir bis zum Ersten hundert Mark pumpen? Wenn Sie wüssten, wie schäbig der Jekuser zahlt. Es ist nicht zu sagen, dass ich seit sechs Jahren, dass ich mir bei ihm die Nägel kurz schreibe, immer bloß zehn Pfennig für die kleine Zeile bekomme. Und die weißen halben Zeilen zieht er ab!«
Andreas griff in die Tasche, bevor Kaflisch zu Ende war. Er reichte den Schein seinem Nachbar, der einen Augenblick verstreichen ließ, bevor er sich bedankte. Vielleicht hatte er nur zwanzig Mark erwartet.
Der Wagen hielt, und Andreas verabschiedete sich. Als er den Schlag hinter sich geschlossen hatte, ließ Kaflisch das Fenster herunter und rief ihm nach:
»Sie! Einen Moment! Mein kleines Geld langt nicht, Sie bezahlen wohl den Kutscher!«
1 durch die Lorgnette betrachten; scharf mustern <<<