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II. Das »Café Hurra«

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»Herr …?« frag­te Köpf zö­gernd.

»An­dre­as Zum­see.«

Köpf stell­te der Ta­fel­run­de im »Café Hur­ra« den neu­en Kol­le­gen vor. Die­ser ward mit Wär­me auf­ge­nom­men. Der an­ge­se­hens­te der Her­ren ließ ihn an sei­ner Sei­te sit­zen und zog ihn in die Un­ter­hal­tung. Als er den jun­gen Mann nach Stu­di­en und Ab­sich­ten be­fragt hat­te, sag­te Dok­tor Lib­be­now mit ei­nem viel­leicht be­schei­de­nen, viel­leicht auch stol­zen Seuf­zer:

»Ach ja, ich habe ei­gent­lich seit zehn Jah­ren kein Buch ge­le­sen.«

Man schi­en dies als eine be­ach­tens­wer­te Leis­tung an­zu­se­hen, und auch An­dre­as emp­fand, er wuss­te nicht warum, Be­wun­de­rung für Dok­tor Lib­be­now.

Es war die Rede von den miss­li­chen fi­nan­zi­el­len Ver­hält­nis­sen des Schau­spie­ler­paa­res Be­cken­ber­ger. Der Mann war in der Gunst des Pub­li­kums ra­pi­de ge­sun­ken, von sei­nem Di­rek­tor be­kam er nur noch ein Ta­schen­geld, und er ver­schwen­de­te das­je­ni­ge, was sich die Frau in ar­beit­sa­men Näch­ten, gleich­falls ohne Zu­tun des Büh­nen­lei­ters, ver­dien­te. Vor sechs Jah­ren hat­ten sie je­der zehn­tau­send Mark ge­habt.

»I wo«, sag­te Dok­tor Pohl­atz.

»Sie glau­ben das doch nicht?« frag­te er An­dre­as.

Die­ser lä­chel­te ver­bind­lich.

Pohl­atz er­läu­ter­te:

»Die Wei­ber be­kom­men näm­lich über­haupt nie was, dar­auf gebe ich Ih­nen mein klei­nes Ehren­wort.«

»Wa­rum denn nicht?« rie­fen die an­de­ren.

»Liz­zi Laffé hat noch heu­te ihre zehn­tau­send, und sie geht auf fünf­zig.«

»Re­den Sie doch kei­ne Ma­ku­la­tur!« ver­setz­te Pohl­atz schroff. »Was Liz­zi hat, hat sie von Türk­hei­mer.«

Die Na­men, die An­dre­as hör­te, präg­ten sich ihm ein, al­les, was ge­spro­chen wur­de, schi­en ihm be­deu­tend, am be­deu­tends­ten aber Dok­tor Pohl­atz. Er wuss­te al­les, er wi­der­sprach al­len, er kann­te die Ein­nah­men je­des Schau­spie­lers bes­ser als die­ser selbst. Aber als er end­lich fort­ging, ward es noch ge­müt­li­cher. An­dre­as er­laub­te sich die Fra­ge:

»Wel­cher Zei­tung ge­hört Herr Dok­tor Pohl­atz an?«

»Dok­tor?« sag­te je­mand, »der Kerl ist ja zum Ster­ben zu däm­lich.«

»Ei­nen Ko­gnak und das Adress­buch!« rief Dok­tor Lib­be­now.

»Das ist untrüg­lich«, sag­te er, in­dem er den Fin­ger auf Pohl­atz’ Na­men leg­te. »Hier sind dem Dok­tor sei­ne Gren­zen ge­setzt.«

»Wer ist denn über­haupt noch Dok­tor?« be­merk­te ein di­cker, schä­big aus­se­hen­der Herr mit wol­li­gem schwar­zen Voll­bart.

»Wenn man nur sonst ge­sund ist«, füg­te er hin­zu.

»Dok­tor Buhl? Dok­tor Reb­bi­ner?«

Ein Dok­tor nach dem an­de­ren ward im Ka­len­der auf­ge­schla­gen, und kei­ner ver­trug die Stich­pro­be. Nur Dok­tor Lib­be­now ver­schon­te man aus Höf­lich­keit.

Dass auch Dok­tor Wa­che­les vom »Ka­bel« und der große Abell ih­ren Ti­tel nur der Ge­fäl­lig­keit der Kol­le­gen ver­dank­ten, mach­te auf An­dre­as im­mer­hin Ein­druck, aber ge­wis­ser­ma­ßen brach­te der Um­stand sie ihm mensch­lich nä­her, in­dem er ihn mit ih­rer Grö­ße aus­söhn­te.

Köpf war be­reits ver­schwun­den, als die an­de­ren auf­bra­chen. Dok­tor Lib­be­now sag­te zu An­dre­as, der sich von ihm ver­ab­schie­de­te:

»Neh­men Sie sich vor Go­lem in acht; er will Sie an­pum­pen.«

An­dre­as be­merk­te, wie der di­cke Schä­bi­ge mit dem wol­li­gen, schwar­zen Voll­bart sich ei­lig nach der an­de­ren Sei­te ent­fern­te.

Zwei Tage spä­ter er­schi­en der jun­ge Mann wie­der im »Café Hur­ra«, und von da an kam er re­gel­mä­ßig. Es schmei­chel­te ihm, sei­ne Aben­de in der Ge­sell­schaft von Mit­ar­bei­tern an­ge­se­he­ner Zei­tun­gen zu ver­brin­gen, und das Ur­teil sei­ner neu­en Freun­de über ihn lau­te­te güns­tig. Wie er ein­mal un­be­merkt in die Tür trat, hör­te er Dok­tor Lib­be­now sa­gen:

»Der jun­ge Zum­see? Das ist so’n Ben­gel, der Ta­lent zum Glück­ma­chen hat.«

Er zeig­te ge­ra­de ge­nug Nai­vi­tät, um der Ei­tel­keit der an­de­ren zu schmei­cheln, und ge­ra­de ge­nug Schar­la­ta­nis­mus, um nicht durch Ein­falt zu be­lei­di­gen. Er sag­te: »Och, han ich’n Freud ge­habt«, wenn er froh war, nann­te »Knatsch geck« je­der­mann, der ihm miss­fiel, und nahm es nicht übel, wenn man sei­nen Dia­lekt be­lä­chel­te. Zum Lohn da­für durf­te er Mei­nun­gen, die er nicht ein­mal hat­te, so­gar dem stren­gen Dok­tor Pohl­atz ge­gen­über ver­tre­ten. Ein­mal ließ er es sich ein­fal­len, den So­zia­lis­mus, der ihm durch­aus gleich­gül­tig war, nur dar­um her­aus­zu­strei­chen, weil er dies für et­was Be­son­de­res hielt. Er irr­te sich, aber Pohl­atz, der je­den an­de­ren un­sanft zu­recht­ge­wie­sen hät­te, be­gnüg­te sich da­mit, ihm zu er­wi­dern:

»Das ver­ste­hen Sie nicht, jun­ger Mann, das ver­ste­he ich ja kaum, und ich habe stu­diert.«

Bei die­ser Ge­le­gen­heit er­fuhr An­dre­as den Grund, wes­halb das »Café Hur­ra« die­sen Na­men führ­te. Die Her­ren von der Ta­fel­run­de hat­ten frü­her staats­um­wäl­zen­den Grund­sät­zen ge­hul­digt, bis im März 1890 sich die So­zi­al­de­mo­kra­tie als nicht mehr zeit­ge­mäß her­aus­stell­te. Da­mals hat­ten alle ei­nem Be­dürf­nis der Epo­che nach­ge­ge­ben, sie wa­ren ih­ren frei­sin­ni­gen Prin­zi­pa­len ein Stück­chen We­ges nach rechts ge­folgt und be­kann­ten sich seit­her zum Re­gie­rungs­li­be­ra­lis­mus und Hur­ra­pa­trio­tis­mus. Der Name des Lo­kals be­wahr­te die Erin­ne­rung an die­se Evo­lu­ti­on.

An­dre­as be­weg­te sich den gan­zen Som­mer in die­sem Krei­se, voll des hei­te­ren Be­wusst­seins, nun­mehr der Ber­li­ner Li­te­ra­tur­welt an­zu­ge­hö­ren. Seit­dem er sein Stu­di­um auf­ge­ge­ben hat­te, war­te­te er die Er­eig­nis­se ab, um eine neue Ar­beit zu be­gin­nen. Bei sei­nen jet­zi­gen Ver­bin­dun­gen konn­te es ihm auf die Dau­er gar nicht feh­len. In Ver­tre­tung des di­cken Go­lem, der un­mä­ßig faul war, hat­te er be­reits mehr­mals im Ge­richts­saal als Be­richt­er­stat­ter fun­giert. Wenn er spät abends nach dem Ge­nus­se von zwei Tas­sen schwar­zen Kaf­fee und zwei Ko­gnaks heim­ging, blick­te er in eine glän­zen­de Zu­kunft ge­ra­de hin­ein. Frü­her hat­te er »geochst«, ohne an et­was zu den­ken, jetzt tat er nichts und war da­bei von ho­hem Ehr­geiz be­seelt.

Wohl blie­ben auch trübe­re, we­ni­ger zu­ver­sicht­li­che Stun­den nicht aus. An­dre­as konn­te manch­mal ein Ge­fühl der Lee­re nicht ver­leug­nen, wenn er den Tisch ver­ließ, an dem von zehn bis zwölf Schau­spiel­er­ge­häl­tern und schlecht zah­len­den Ver­le­gern ge­spro­chen wor­den war. Go­lem ver­schwand ein­mal auf acht Tage, und bei sei­ner Rück­kehr er­zähl­te er den er­staun­ten Kol­le­gen, dass er sein ers­tes Feuil­le­ton ge­schrie­ben habe. Seit zehn Jah­ren mach­te er nur Ge­richts­be­rich­te, jetzt aber hat­te ihn sei­ne Zei­tung nach Bay­reuth ge­schickt. Dies hat­te nichts Auf­fäl­li­ges an sich, über Wa­gner schrieb nach­ge­ra­de je­der. Aber An­dre­as mein­te, im »Gum­pla­cher An­zei­ger« zu­wei­len we­ni­ger schlech­te Ar­ti­kel ge­le­sen zu ha­ben.

Die­ser Go­lem er­füll­te ihn über­haupt mit Be­sorg­nis. Dok­tor Lib­be­nows Voraus­sicht, dass der Di­cke ihn an­pum­pen wer­de, war nicht un­er­füllt ge­blie­ben, und An­dre­as wag­te bis­her kei­ne ab­schlä­gi­ge Ant­wort zu ge­ben. Er fürch­te­te noch zu sehr, das Wohl­wol­len der Kol­le­gen zu ver­scher­zen. Vi­el­leicht war er nicht kräf­tig ge­nug der öf­fent­li­chen Mei­nung ent­ge­gen­ge­tre­ten, die ihn für einen be­gü­ter­ten Di­let­tan­ten zu hal­ten schi­en. Vor­läu­fig er­hielt nun Go­lem bald fünf und bald zehn Mark. Und in letz­ter Zeit ging der Un­glück­li­che, den der Ge­richts­voll­zie­her über­all­hin ver­folg­te, mit dem Pla­ne um, ein Zim­mer zu be­zie­hen, das in An­dre­as’ Woh­nung frei­stand.

Auch in an­de­rer Be­zie­hung stell­te sich das neue Le­ben als kost­spie­li­ger her­aus, als An­dre­as vor­aus­ge­se­hen hat­te. Die Ge­sell­schaft aus dem »Café Hur­ra« speis­te häu­fig zu­sam­men zu Abend, hier und da ließ sich je­mand, der sei­ne Bör­se ver­ges­sen hat­te, von dem jun­gen Freun­de be­wir­ten. Im Thea­ter wäre An­dre­as jetzt um kei­nen Preis mehr auf die Ga­le­rie ge­gan­gen. Aber alle die­se Ver­pflich­tun­gen, die ihm sei­ne ge­sell­schaft­li­che Stel­lung auf­er­leg­te, über­stie­gen die Kräf­te ei­nes ar­men Stu­den­ten­wech­sels. So kam es, dass An­dre­as sich um die Mit­te des Mo­nats ge­wöhn­lich in ein ve­ge­ta­ri­sches Re­stau­rant schlich. Ei­ni­ge Tage spä­ter bil­de­te dann der schwar­ze Kaf­fee sein haupt­säch­li­ches Er­näh­rungs­mit­tel. Das Mit­ta­ges­sen muss­te nur zu häu­fig, wie Pohl­atz sich aus­drück­te, durch stram­me Hal­tung er­setzt wer­den.

An­dre­as schul­de­te seit ge­rau­mer Zeit die Zim­mer­mie­te, und es war ein Glück für ihn, dass es auch mit der Ent­loh­nung der Wä­sche­rin nicht eil­te. Er hat­te Kre­dit er­langt da­durch, dass das jun­ge Mäd­chen, das ihm sei­ne fri­schen Hem­den brach­te, sich durch sei­ne Lie­be be­ste­chen ließ. Sie bat nur um Frei­bil­letts für das Thea­ter, die ein Schrift­stel­ler wie An­dre­as ihr doch wohl ver­schaf­fen kön­ne. An­dre­as er­klär­te, dass nichts leich­ter sei, aber Lib­be­now so­wohl wie Go­lem, der ihm doch viel­fach ver­pflich­tet war, ver­trös­te­ten ihn. Als nach vier­zehn Ta­gen noch kei­ne Frei­kar­te zur Stel­le war, ver­ließ ihn die jun­ge Wä­sche­rin mit dem Aus­druck ih­rer Ge­ring­schät­zung und nicht, ohne die Rech­nung auf sei­nen Tisch zu le­gen.

Im Ok­to­ber mach­te An­dre­as, ent­ge­gen sei­ner Ge­wohn­heit, ein­sa­me Spa­zier­gän­ge im Tier­gar­ten, wo die Blät­ter fie­len. Das »Café Hur­ra« ver­nach­läs­sig­te er. Moch­ten sie doch mer­ken, dass er sie ver­ach­te­te! Denn nach­ge­ra­de fühl­te er sich hier­zu ver­sucht. Wa­ren sie denn ei­gent­lich ein wür­di­ger Ver­kehr für ihn, die­se Leu­te, die meis­tens nicht ein­mal rich­tig Deutsch schrie­ben – so­weit sie über­haupt et­was schrie­ben. Es ward ihm im­mer kla­rer: ihre Bla­siert­heit, die ihm an­fangs als Über­le­gen­heit ge­gol­ten hat­te, war im Grun­de nur der Aus­druck von Un­wis­sen­heit und Im­po­tenz. Aber der gan­ze Ber­li­ner Ton kam schließ­lich bloß von Man­gel an Tie­fe. Sie ulk­ten, weil sie zu faul wa­ren, auf die Din­ge ein­zu­ge­hen. Er hat­te ge­nug da­von. Das »Café Hur­ra« war für ihn eine Sack­gas­se, die nie­mals zu ir­gend­ei­nem Zie­le füh­ren konn­te. Kei­ner der dort ken­nen­ge­lern­ten Her­ren schi­en ge­nug Ein­fluss zu be­sit­zen, um ihn jour­na­lis­tisch zu för­dern. Am Ende fehl­te auch der gute Wil­le. Au­ßer Go­lem, des­sen schlech­ter Ruf sei­ne Emp­feh­lun­gen ge­fähr­lich mach­te, ließ kei­ner einen Neu­ling an sei­ne Zei­tung her­an­kom­men. In sechs Mo­na­ten hat­te An­dre­as ge­nau vier­zehn Mark und fünf­und­sech­zig Pfen­nig ver­dient, was ihm nicht hin­rei­chend zur Be­grün­dung ei­ner Zu­kunft deuch­te. Das ers­te Stu­dien­jahr war dar­über hin­ge­gan­gen, sein Wech­sel lief jetzt noch zwei Jah­re. In­ner­halb des ge­ge­be­nen Zeit­rau­mes muss­te er es zu et­was brin­gen. Von die­ser Not­wen­dig­keit her­aus­ge­stört, tauch­te das Ge­s­penst des Gum­pla­cher Schul­meis­ters noch ein­mal vor ihm auf. Er wehr­te es ent­rüs­tet ab. Aber was dann? An­dre­as ver­moch­te auf die­se Fra­ge nur mit ei­nem Seuf­zer zu ant­wor­ten, und er hät­te sich zwei­fel­los sei­ner leicht­sin­ni­gen Un­tä­tig­keit aufs neue über­las­sen, wenn nicht eine krän­ken­de Er­fah­rung ihn vollends auf­ge­rüt­telt hät­te.

Er be­trat am sel­ben Abend das »Café Hur­ra« frü­her als die an­de­ren und das Haupt umso hö­her er­ho­ben, je tiefer ihm der Mut stand. Er mach­te die Run­de um das fast lee­re Lo­kal und be­grüß­te das Fräu­lein am Bü­fett. Es war eine fade Blon­di­ne, An­dre­as hat­te noch nie das Be­dürf­nis ge­fühlt, einen An­griff auf sie aus­zuü­ben. Heu­te aber glaub­te er, dies sei­ner Wür­de schul­dig zu sein. Kurz ent­schlos­sen leg­te er ihr den Arm um die Hüf­ten. Das Mäd­chen, das sich hier­durch nicht an­ge­spro­chen füh­len moch­te, ver­zog die Mund­win­kel in böse, schar­fe Fal­ten, sie ver­setz­te dem jun­gen Mann einen hef­ti­gen Stoß ge­gen die Schul­ter und sag­te mit Nach­druck:

»Jüng­ling, wie kom­men Sie mir vor?«

An­dre­as sah sie eine Se­kun­de lang an, er war au­ßer­or­dent­lich blass ge­wor­den. Da­rauf pfiff er durch die Zäh­ne, dreh­te sich auf den Ab­sät­zen um und ver­ließ ge­mes­se­nen Schrit­tes den Raum.

Gleich den fol­gen­den Mor­gen ging er zu Köpf, um sich mit ihm über sei­ne nächs­ten Schrit­te zu be­ra­ten. Das »Café Hur­ra« war eben­so ab­ge­tan wie der Gum­pla­cher Schul­meis­ter. Wenn selbst je­nes Mäd­chen, das ein hal­b­es Jahr lang Zeu­ge sei­nes ver­trau­ten Um­gan­ges mit den Mit­ar­bei­tern der an­ge­se­hens­ten Zei­tun­gen ge­we­sen war, ihm mit sol­cher em­pö­ren­den Nicht­ach­tung be­geg­nen konn­te, dann muss­te sei­ne ge­sell­schaft­li­che Stel­lung we­ni­ger glän­zend sein, als er ge­wähnt hat­te. Dies aber war das­je­ni­ge Be­wusst­sein, das er am we­nigs­ten zu er­tra­gen ver­moch­te.

Er muss­te in Köpfs Zim­mer, in der un­te­ren Do­ro­theen­stra­ße, ei­ni­ge Zeit war­ten und be­merk­te dar­in eine ge­wis­se Wohl­ha­ben­heit. Der brei­te Schreib­tisch von Ma­ha­go­ni und der be­que­me, mit ro­tem Maro­quin über­zo­ge­ne Lehn­ses­sel wäre in kei­nem mö­blier­ten Zim­mer an­zu­tref­fen ge­we­sen. Die Wän­de wur­den von ho­hen Bü­cher­ge­stel­len ver­deckt, an­ge­füllt mit ei­nem un­glaub­li­chen Plun­der, vor dem An­dre­as stau­nend stand. Zer­fetz­te Papp­bän­de und an­ge­fres­se­ne Le­der­rücken ver­brei­te­ten den Duft al­ler mög­li­chen Tröd­ler­bu­ti­ken. Eine alte Ge­schich­te Lud­wigs XIII. von Le Vas­sor füll­te mit den Denk­wür­dig­kei­ten von Saint-Si­mon ein gan­zes Fach. Wei­ter­hin stan­den so­gar die Kir­chen­vä­ter. An­dre­as be­griff nicht, wel­chen Zweck die­se Din­ge für je­mand ha­ben konn­ten, der Ro­ma­ne schrieb. Köpf be­schäf­tig­te sich, wie Lib­be­now wis­sen woll­te, mit der An­fer­ti­gung von Ro­ma­nen, die je­doch kein Mensch zu se­hen be­kam. Wei­ter wuss­te man von ihm schlech­ter­dings nichts. Er er­schi­en wö­chent­lich kaum ein­mal im »Café Hur­ra«, und die­ser Um­stand flö­ßte An­dre­as in sei­ner jet­zi­gen Lage Ver­trau­en ein, ob­wohl er es in letz­ter Zeit Köpf stark ver­dach­te, dass er ihn über­haupt in je­nen Kreis ein­ge­führt hat­te.

Es frag­te sich jetzt nur, was er ei­gent­lich von Köpf woll­te. An­dre­as, den das War­ten ner­vös mach­te, bau­te im Voraus ei­ni­ge schö­ne Sät­ze.

»Sie ha­ben an der Ent­wi­cke­lung ei­nes Ih­nen völ­lig Un­be­kann­ten gleich an­fangs so freund­li­chen An­teil ge­nom­men, dass ich, von neu­en Zwei­feln be­drängt, es noch­mals wage, Sie um Ihren Rat und Ihre Hil­fe zu bit­ten.«

Als die Pe­ri­ode fer­tig war, fand er sie al­bern. So sprach man nicht, be­son­ders nicht in Ber­lin. Au­ßer­dem klang es falsch; er woll­te Köpf doch nicht an­pum­pen.

Die­ser er­schi­en plötz­lich in der Tür und be­grüß­te den Gast sehr er­freut.

»Ah, lie­ber Kol­le­ge!«

An­dre­as hat­te einen Ein­fall:

»Wis­sen Sie, von dem ›Kol­le­gen‹ hab’ ich schon bald ge­nug«, sag­te er und dreh­te sich halb um.

Köpf lä­chel­te.

»Sie ha­ben im ›Café Hur­ra‹ wohl ein Haar ge­fun­den?«

»Meh­re­re.«

»Ich hät­te Ih­nen das vor­aus­sa­gen kön­nen. Aber es freut mich, dass Sie selbst da­hin­ter­ge­kom­men sind.«

Köpf blin­zel­te un­schul­dig. An­dre­as fand trotz­dem, dass es eine Dreis­tig­keit sei, ihn in die­ser Wei­se auf die Pro­be ge­stellt zu ha­ben und es ihm jetzt ganz of­fen zu sa­gen. Der an­de­re such­te sei­nen Un­mut so­fort zu be­schwich­ti­gen.

»Sie brau­chen es nicht zu be­reu­en, die­se scherz­haf­te Sei­te des Le­bens un­ter Kol­le­gen ken­nen­ge­lernt zu ha­ben. Man muss dies tun, be­vor man zu erns­te­ren Din­gen über­geht. Nun wol­len Sie aber Ernst ma­chen?«

»Aber wie?« frag­te An­dre­as ohne große Zu­ver­sicht.

»Oh, da gibt es ver­schie­de­ne Wege, näm­lich die Pres­se, das Thea­ter und die Ge­sell­schaft.«

»Sie ver­ges­sen die Li­te­ra­tur.«

»Durchaus nicht. Ich habe ge­sagt: das Thea­ter, und eine an­de­re Li­te­ra­tur gibt es bei uns nicht.«

An­dre­as nahm eine über­le­ge­ne Mie­ne an, denn er er­tapp­te Köpf auf dem Är­ger ei­nes, der kei­nen Er­folg hat.

»Sie selbst schrei­ben doch wohl Ro­ma­ne?«

»Oh!« mach­te der an­de­re mit ge­spitz­ten Lip­pen. »Re­den wir lie­ber nicht da­von. Ich schrei­be für mei­nen Pri­vat­be­darf, es fällt mir nicht ein, das Un­glück ei­nes ar­men Ver­le­gers her­bei­füh­ren zu wol­len, der mir nie et­was zu­lei­de ge­tan hat und der etwa auf mei­ne Wer­ke hin­ein­fie­le.«

»Atem ho­len!« dach­te An­dre­as, dem es Spaß mach­te, Köpfs Schwa­che zu be­ob­ach­ten.

»In­mit­ten ei­nes Vol­kes«, fuhr die­ser fort, »das durch alle Prü­gel der Welt nicht dazu be­wo­gen wer­den könn­te, ein Buch in die Hand zu neh­men, wer­den Sie also am bes­ten tun, sich an das Thea­ter zu hal­ten.«

»Aber ich habe noch kein ein­zi­ges Stück ge­schrie­ben!«

»Ist auch gar nicht nö­tig«, ver­si­cher­te Köpf leicht­hin. »Das Thea­ter hat zwei­fel­los auch eine li­te­ra­ri­sche Sei­te, aber die ge­sel­li­ge ist wich­ti­ger. Beim Thea­ter hat man es stets mit Men­schen zu tun, in der ei­gent­li­chen Li­te­ra­tur doch schließ­lich nur mit Bü­chern. In der ei­gent­li­chen Li­te­ra­tur braucht man eine Men­ge Ernst, Ab­ge­schlos­sen­heit und Rück­sichts­lo­sig­keit; al­les Ei­gen­schaf­ten, die beim Thea­ter nur scha­den kön­nen. Hier kommt es vor al­lem auf die ge­sell­schaft­li­chen Ver­bin­dun­gen an. Sie aber, mein Lie­ber, sind ein Ge­sell­schafts­mensch. – Soll ich Ih­nen sa­gen, wel­ches si­che­re Zei­chen ich hier­für habe?«

»Bit­te!«

»Man hat Sie im ›Café Hur­ra‹ nicht ernst ge­nom­men.«

Köpf sah mit sei­nem harm­lo­sen Lä­cheln zu, wie An­dre­as zu­sam­men­zuck­te.

»Sei­en Sie nicht böse!« bat er dar­auf. »Ich wer­de Ih­nen da­für noch man­ches Schmei­chel­haf­te zu sa­gen ha­ben. Was Ihre Freun­de im ›Café Hur­ra‹ be­trifft: hat Pohl­atz Ih­nen je­mals Grob­hei­ten ge­sagt?«

»Nein, warum denn?«

»Nun, se­hen Sie wohl. Wenn er Sie ernst ge­nom­men hät­te, wür­den Sie alle Tage et­was an den Kopf be­kom­men ha­ben. Sie glau­ben nicht, wie fein die Wit­te­rung die­ser Leu­te ist, so­bald sich ein Kon­kur­rent bli­cken lässt. Sie, mein Lie­ber, sind kei­ner. Man hat gleich er­kannt, dass Sie eine viel zu hei­te­re, of­fe­ne Na­tur sind, um sich mit In­grimm und Püf­fen durch Li­te­ra­tur und Pres­se hin­durch­zu­schla­gen.«

»Ich glau­be bei­na­he selbst«, be­merk­te An­dre­as, der sich be­müh­te, bla­siert aus­zu­se­hen.

»Sie ha­ben so et­was Glück­li­ches an sich, das Sie beim Thea­ter, das heißt in der Ge­sell­schaft, un­ge­mein rasch för­dern wird. Man braucht dort näm­lich nur glück­lich zu er­schei­nen, um es sehr bald wirk­lich zu wer­den. Auch Ihre Harm­lo­sig­keit, oder sa­gen wir, wenn Sie es lie­ber hö­ren, Ihre schein­ba­re Harm­lo­sig­keit wird Ih­nen dort gut zu­stat­ten kom­men. Man wird Sie in den rei­chen Sa­lons eben­so­we­nig ernst neh­men wie im ›Café Hur­ra‹, und es ist für Ihren Er­folg be­son­ders wich­tig, dass die Frau­en Sie nicht ernst neh­men! Die­se wer­den al­les mög­li­che, was sie an­de­ren nicht be­wil­li­gen wür­den, bei Ih­nen für harm­los und un­ge­fähr­lich hal­ten. Sie sind da­für ge­schaf­fen, viel Glück bei den Frau­en zu ha­ben, mein Lie­ber!«

Dies­mal blick­te An­dre­as den an­de­ren mit of­fe­nem Arg­wohn an. Aber aus Köpfs freund­li­chem Ge­sicht, das al­ler­dings eine ver­däch­tig spit­ze Nase zier­te, war nie­mals klug zu wer­den. Für alle Fäl­le zeig­te An­dre­as sich übel­lau­nig, um nur nicht zu­zu­ge­ben, dass er sich ge­schmei­chelt füh­le. Sein Glück bei Frau­en, das er sich üb­ri­gens zu­trau­te, schi­en ihm doch noch be­wie­sen wer­den zu müs­sen. Er ge­dach­te der her­ben Ent­täu­schun­gen, die er dem Wä­scher­mäd­chen und dem Bü­fett­fräu­lein ver­dank­te.

»Sie sa­gen mir eine Men­ge an­ge­neh­me Din­ge«, be­merk­te er ziem­lich tro­cken, »aber ich weiß noch im­mer nicht, wie Sie sich mei­ne Kar­rie­re nun ei­gent­lich den­ken. Was habe ich zu tun, wo­hin soll ich mich wen­den?«

»Neh­men wir hin­zu«, fuhr Köpf ohne zu ant­wor­ten fort, »dass Sie als Rhein­län­der eine mehr hei­te­re und un­ge­zwun­ge­ne Ge­sel­lig­keit ge­wohnt sind. In­mit­ten der Furcht, sich lä­cher­lich zu ma­chen, die in Ber­lin Ur­sa­che al­ler Dumm­heit und Lan­ge­wei­le ist, wer­den Sie zu­nächst wohl­wol­lend be­lä­chelt wer­den. Die Haupt­sa­che ist, dass Sie auf­fal­len.«

»Was habe ich zu tun, wo­hin soll ich mich wen­den?« wie­der­hol­te An­dre­as un­ge­dul­dig.

»Wie? Das habe ich Ih­nen noch nicht ge­sagt? Nun, ganz ein­fach: Sie ge­hen zum ›Nacht­ku­rier‹, ver­lan­gen den Che­fre­dak­teur Dok­tor Be­die­ner zu spre­chen, und lässt er Sie vor, so ge­hen Sie nicht frü­her wie­der weg, als bis er Ih­nen un­auf­ge­for­dert eine Emp­feh­lung an Türk­hei­mers ge­ge­ben hat.«

»Ah, Türk­hei­mer! Das ist doch der mit Liz­zi Laffé.«

»Sie ken­nen be­reits die Ver­hält­nis­se?«

»Na­tür­lich«, sag­te An­dre­as stolz.

»Also Sie wis­sen Be­scheid?« frag­te Köpf, in­dem er dem jun­gen Man­ne zum Ab­schied die Hand schüt­tel­te. »Un­ter­rich­ten Sie mich doch vom Er­fol­ge!«

An­dre­as ver­sprach dies, frag­te sich aber im ge­hei­men, warum er alle die zwei­fel­haf­ten Kom­pli­men­te ei­gent­lich an­ge­hört habe. Es konn­te wohl sein, dass Köpf sich seit dem Au­gen­blick, wo er ihn ken­nen­ge­lernt hat­te, fort­wäh­rend über ihn lus­tig mach­te. Es war An­dre­as un­mög­lich, dies zu er­fah­ren. Üb­ri­gens war es ja gleich­gül­tig, so­bald nur auch sonst nie­mand da­von wuss­te. In sei­ner Lage, bei sei­nen man­nig­fa­chen in­ne­ren Zwei­feln und der ge­rin­gen Aus­sicht, es auf eine an­de­re Wei­se zu et­was zu brin­gen, war es nun wohl das bes­te, Köpfs Rat blind­lings zu be­fol­gen. Er ging schon am nächs­ten Mor­gen, mit ei­nem kal­ten Ge­fühl im Un­ter­lei­be, doch hoch­er­ho­be­nen Haup­tes, zum Dok­tor Be­die­ner.

Im Schlaraffenland

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