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V. Ein demokratischer Adel

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»War­ten Sie mal, ich glau­be, es wird ge­ges­sen«, sag­te Die­de­rich Klemp­ner.

Der alte fei­ne Herr, dem An­dre­as bald nach sei­nem ers­ten Er­schei­nen in die­sen Räu­men ge­gen die Schul­ter ge­sto­ßen hat­te, schritt wür­de­voll mit­ten durch die ge­füll­ten Sa­lons. Man mach­te Platz, und er nä­her­te sich der Haus­frau. Gleich dar­auf be­gann die Men­ge der Gäs­te ih­ren Durch­zug durch das ge­tä­fel­te Zim­mer mit den Go­bel­ins, wo das Bü­fett stand. An­dre­as, der mit Klemp­ner ne­ben der Tür ste­hen­blieb, um dem Vor­bei­marsch zu­zu­se­hen, ging nicht mehr un­be­ach­tet im Stro­me un­ter. Er hat­te im Ver­lauf der letz­ten Vier­tel­stun­de Na­men und Gel­tung er­langt. Mit Stolz hielt er die prü­fen­den Frau­en­bli­cke aus, und je­des Mal, wenn ei­ner der Her­ren auf ihn zu­trat, sich ver­beug­te und einen Na­men nann­te, schlug ihm das Herz hö­her. Es war ein Tri­umph, und An­dre­as fand, dass er ihn ver­dient habe. Die Lau­ne ei­ner mäch­ti­gen Her­rin zog eine al­len sicht­ba­re Glo­rie um sein Haupt. War es nur eine Lau­ne? Er muss­te sich wohl so be­tra­gen ha­ben, dass sie ihn tref­fen konn­te!

Ei­ner der ers­ten, die vor­über­ka­men, war ein un­ge­wöhn­lich star­ker Herr mit schwar­zer Perücke und ei­nem glat­tra­sier­ten Ge­sicht, das aus­sah wie das ei­nes ab­ge­schmink­ten Schau­spie­lers. Er führ­te Liz­zi Laffé am Arm. Klemp­ner merk­te, wie An­dre­as in Er­re­gung ge­riet.

»Ge­fällt sie Ih­nen?« frag­te er mit merk­li­cher Ge­nug­tu­ung.

An­dre­as hat­te Liz­zi gar nicht be­ach­tet. Er er­kun­dig­te sich:

»Ist das nicht Herr Je­ku­ser?«

»Wer denn sonst?« sag­te Klemp­ner. »Sie ken­nen wohl Ihren Ver­le­ger noch nicht?«

Bei­na­he über­wäl­tigt sah An­dre­as dem Be­sit­zer des »Nacht­ku­ri­er« nach, ei­nem De­spo­ten der Li­te­ra­tur, ei­nem der Be­herr­scher der öf­fent­li­chen Mei­nung, ei­nem Mäch­ti­gen, ge­gen den der große Che­fre­dak­teur Dok­tor Be­die­ner nur ein Skla­ve war, und der nun gleich der Mas­se der an­de­ren Sterb­li­chen über die Ga­le­rie des Trep­pen­hau­ses den Weg zum Spei­se­saal wan­der­te.

Türk­hei­mer kam mit der jun­gen Frau Blosch, Herr Lieb­ling führ­te die rus­si­sche Welt­rei­sen­de Fürs­tin Bou­bou­koff, auf die Klemp­ner An­dre­as auf­merk­sam mach­te. Die Dame hat­te Schlitzau­gen, die wie zwei Koh­len­stri­che aus­sa­hen, und sie hielt eine Zi­ga­ret­te im Mun­de, auf die Lieb­ling mit leicht miss­bil­li­gen­der Nach­sicht her­abblick­te. Hin­ter­her schlürf­te der wie im­mer ent­zückt lä­cheln­de Wen­ni­chen, mit Frau Adel­heid am Arm.

Die Paa­re folg­ten end­los ein­an­der, un­ter­mischt mit jun­gen Leu­ten, Bör­sen­be­su­chern, Jour­na­lis­ten oder Her­ren von un­be­kann­ter Be­schäf­ti­gung, die sich ohne Dame zu Tisch zu set­zen dach­ten.

»Das sind un­se­re Leu­te«, sag­te Die­de­rich Klemp­ner.

»Wir sind na­tür­lich üb­rig­ge­blie­be­ne Her­ren. Türk­hei­mers sor­gen da­für, dass man sei­ne Be­quem­lich­keit hat. Aber Süß hat viel­leicht – Sie blei­ben doch an un­se­rem Tisch?« frag­te er.

»Mit Ver­gnü­gen!« er­klär­te An­dre­as.

»Seh’n Sie mal, Süß hat die klei­ne Bie­ratz. Das gibt ’nen Haupt­spaß.«

Süß nä­her­te sich mit ei­nem wun­der­bar schlan­ken und zar­ten jun­gen Mäd­chen, das in sei­nem licht­blau­en, schmuck­lo­sen und durch­sich­ti­gen Kleid­chen aus­sah wie eine Syl­phe. Das schma­le, fei­ne Ge­sicht wur­de von schwe­rem asch­blon­den Haar ma­don­nen­haft ein­ge­rahmt, und die großen blau­en Au­gen blick­ten voll Un­schuld ge­ra­de­aus. Aber da kam Ra­ti­bohr, glatz­köp­fig und ner­vös, an ihr vor­über. Er wand­te sich um und lä­chel­te der klei­nen Fee auf­for­dernd zu. Und so­gleich, mit ei­ner Be­we­gung, die An­dre­as ent­zückend harm­los und kind­lich fand, ließ sie den Arm ih­res Beglei­ters los und er­griff den Ra­ti­bohrs.

»Nanu, das war doch frü­her nicht!« rief Klemp­ner halb­laut.

Ei­nen Au­gen­blick stand Süß mit merk­wür­dig blödem Ge­sicht da, dann schi­en er den bei­den nach­stür­zen zu wol­len. Aber Duschnitz­ki, der her­bei­eil­te, leg­te ihm eine Hand auf die Schul­ter.

»Kei­ne Dumm­hei­ten, Süß!« sag­te er.

Er trat mit sei­nem noch ziem­lich ver­stör­ten Freun­de auf Klemp­ner und An­dre­as zu, und die vier Her­ren be­ga­ben sich ih­rer­seits über die Ga­le­rie, in­mit­ten ei­ner Dop­pel­rei­he von La­kai­en, in den Spei­se­saal.

An­dre­as blick­te er­staunt durch den un­ge­heu­ren kah­len Raum, den Dut­zen­de von Ti­schen füll­ten, und den er mit den über­großen Räu­men ei­nes Mon­stre-Re­stau­rants ver­glich. Die Wän­de wa­ren glatt weiß, nur hier und da mit Gold­ro­set­ten ver­ziert. Die De­cke, mit dun­kel­ro­tem Stoff aus­ge­schla­gen, trug einen sehr hoch an­ge­brach­ten Kron­leuch­ter. Im Üb­ri­gen war das elek­tri­sche Licht ver­pönt, es stan­den Ker­zen, mit ro­ten Schir­men ver­se­hen, auf al­len Ti­schen.

Tel­ler und Ga­beln klap­per­ten be­reits, auf al­len Sei­ten wur­de laut ge­spro­chen, aber An­dre­as’ Tisch­ge­nos­sen schwie­gen noch. Es lag et­was in der Luft. Plötz­lich brach Süß los:

»So ’ne Ka­nail­le!« rief er laut. An­dre­as sah sich um, aber im wach­sen­den Lärm hat­te nie­mand es ge­hört.

»So ’ne Ka­nail­le! So ’ne –« Süß ge­brauch­te ein noch här­te­res Wort, so­dass An­dre­as vor Schreck auf sei­nem Sitz auf­hüpf­te. Klemp­ner lach­te.

»Wen mei­nen Sie denn?« frag­te er.

»Fra­ge!« schrie Süß. »Die Bie­ratz doch!«

An­dre­as fand im Stil­len, dass die Un­ge­zo­gen­heit, die Süß so sehr auf­brach­te, we­ni­ger der Klei­nen als Ra­ti­bohr zu­zu­schrei­ben sei.

»Fräu­lein Bie­ratz hat­te sich wohl Herrn Ra­ti­bohr schon frü­her ver­pflich­tet?« ver­mu­te­te er be­schei­den.

Süß ki­cher­te gif­tig, Duschnitz­ki schlug sein wei­ches me­lo­di­sches La­chen an, bei dem sei­ne man­del­för­mi­gen Samtau­gen mit­lach­ten. Klemp­ner be­lehr­te freund­lich den jun­gen Mann.

»Ra­ti­bohr hat acht Mil­lio­nen.«

An­dre­as zuck­te zu­sam­men.

»Hier lie­gen wohl mehr Mil­lio­nen auf dem Fuß­bo­den um­her, als ich Mark­stücke in der Ta­sche habe?« frag­te er, und er glaub­te zu scher­zen.

»Hier sind wir Mil­lio­näre oder Schub­be­jacks«, er­klär­te Duschnitz­ki, und Klemp­ner setz­te hin­zu:

»So ist es. Der Mit­tel­stand stirbt aus.«

An­dre­as fand die von Duschnitz­ki be­lieb­te Un­ter­schei­dung nicht sehr schmei­chel­haft, denn er trau­te sei­nen Tisch­ge­nos­sen ge­ra­de so vie­le Mil­lio­nen zu wie sich selbst. Da der gute Ton es aber zu er­for­dern schi­en, lach­te er herz­lich. Klemp­ner such­te Süß zu trös­ten.

»Die Bie­ratz ist doch schließ­lich nur ein schlech­ter Ab­klatsch der Pa­ri­ser falschen En­gel mit den falschen Haar-Ban­de­aus«, be­merk­te er.

»Wem sa­gen Sie das?« er­wi­der­te Süß, der sich auf­hei­ter­te.

»Ist egal«, wand­te Duschnitz­ki ein. »Für ’ne jun­ge Schau­spie­le­rin ist doch Tu­gend das Mo­d­erns­te.«

»Ge­gen die ge­pump­te Tu­gend will ich nichts sa­gen«, ver­setz­te Klemp­ner. »Das Wi­der­li­che ist für mich die falsche An­spruchs­lo­sig­keit. Ha­ben Sie wohl be­merkt, dass Wer­da Bie­ratz auf ih­rem bil­li­gen Kleid­chen kein ein­zi­ges Schmuck­stück trägt? Nicht mal in den Ohren hat sie Bril­lan­ten nö­tig, sie ist so schlau, die Ohren un­ter’m Haar zu ver­ste­cken.«

»Sa­gen Sie mal«, so un­ter­brach ihn Süß, »ist es wahr, dass Liz­zi Bril­lan­ten an ih­ren Strumpf­bän­dern hat?«

»Wa­rum denn nicht?« ent­geg­ne­te Klemp­ner nicht ohne Ge­nug­tu­ung. »Sie kön­nen sich noch mehr Stel­len aus­den­ken, wo Liz­zi Bril­lan­ten trägt, und es wird im­mer stim­men.«

»’s ist aber ’ne ab­ge­leg­te Mode«, sag­te Duschnitz­ki. »Auf to­tes Ka­pi­tal, wie Bril­lan­ten, gibt kei­ner mehr was, und für ein jun­ges Mäd­chen, wie Wer­da Bie­ratz, ist es der höchs­te Chic, Geld auf der Bank zu ha­ben.«

»Wer­da soll ’ne hal­be Mil­li­on be­sit­zen«, be­merk­te Süß voll Ach­tung.

»Das ist ja, was ich mei­ne!« rief Klemp­ner und schlug mit der fla­chen Hand auf den Tisch.

»Es macht Ih­nen Spaß, mei­ne Her­ren, mir zu ver­ste­hen zu ge­ben, dass Liz­zi äl­te­res Gen­re ist. Mei­net­we­gen, ich habe nichts da­ge­gen. Aber ich will Ih­nen sa­gen, worin der Un­ter­schied der Ge­ne­ra­tio­nen ei­gent­lich be­steht.«

»Ken­nen wir!« be­merk­te Duschnitz­ki. »Liz­zi hat lan­ge Zeit einen Gra­fen ge­habt, bis der un­ter die Not­lei­den­den ging.«

»Und als Liz­zi zur Büh­ne kam«, fuhr Klemp­ner fort, »war es Sit­te, nicht zu rech­nen. Liz­zi hat von den Mil­lio­nen, die ihr durch die Hän­de ge­gan­gen sind, nichts üb­rig­be­hal­ten als ihre Bril­lan­ten.«

»Und je­der ein­zel­ne ist ein Ver­dienst­zei­chen!« rief Süß be­geis­tert.

»Die neue Ge­ne­ra­ti­on da­ge­gen«, sag­te Klemp­ner, »hat das fröh­li­che Aus­ge­ben nicht ge­lernt, weil sie es im­mer nur mit Job­bern1 zu tun hat, de­nen die ar­men Mäd­chen je­den lum­pi­gen Tau­send­mark­schein müh­sam ab­kämp­fen müs­sen.«

An­dre­as ward rot und sah auf sei­nen Tel­ler. Er mein­te, Klemp­ner müs­se das Stan­des­be­wusst­sein sei­ner bei­den Nach­barn be­lei­digt ha­ben. Aber Süß und Duschnitz­ki lach­ten höchst be­lus­tigt.

»Die ar­men Mäd­chen!« wie­der­hol­ten sie.

»Eine glück­li­che so­zi­al-psy­cho­lo­gi­sche Hy­po­the­se!« sag­te Duschnitz­ki. »Prost!«

»Und so gibt es in der Ge­ne­ra­ti­on der klei­nen Bie­ratz eine Men­ge schmut­zi­ger Geiz­hälse und Wu­che­rer. Ich habe ge­hört, der En­gel leiht zu zwan­zig Pro­zent an arme Be­am­te!« so schloss Klemp­ner tri­um­phie­rend.

An­dre­as fand Klemp­ners Prah­le­rei mit Liz­zi Laffé in­dis­kret und we­nig ruhm­voll. Liz­zi war ja noch ganz passa­bel, et­was schwer zwar, und ihre blon­de Kor­pu­lenz mach­te sich nicht so gut wie bei Frau Türk­hei­mer die brü­net­te. Aber un­ter dem Pu­der zeig­ten sich doch schon rote Fle­cken in Liz­zis Ge­sicht, und was für einen ta­del­lo­sen Teint hat­te Adel­heid!

Er be­gann, sie in der Men­ge auf­zu­su­chen, doch der Nach­bar­tisch stand ihm im Wege. Dort saß Rechts­an­walt Gold­herz mit der Fürs­tin Bou­bou­koff, Lieb­ling, ei­ner an­de­ren, sehr tief aus­ge­schnit­te­nen Dame und ei­nem jun­gen Man­ne, der ein merk­wür­dig be­weg­li­ches Clow­n­ge­sicht hat­te. Süß er­zähl­te An­dre­as ins Ohr eine äu­ßerst schmut­zi­ge Ge­schich­te über die aus­ge­schnit­te­ne Dame, die Fürs­tin und den jun­gen Mann, der der Sohn der Fürs­tin sein soll­te. Au­gen­blick­lich führ­te die Bou­bou­koff mit den bei­den an­de­ren einen Pro­zess, bei dem der große Gold­herz als Ver­tre­ter der Fürs­tin mit­wirk­te. Die Par­tei­en schie­nen, da sie mit­ein­an­der sou­pier­ten, einen fröh­li­chen Waf­fen­still­stand ab­ge­schlos­sen zu ha­ben.

An­dre­as hör­te un­auf­merk­sam zu. Er blick­te zwi­schen dem kor­rek­ten Rücken Lieb­lings und dem blo­ßen Na­cken der aus­ge­schnit­te­nen Dame hin­durch. Dort hin­ten saß Je­ku­ser, breit in sei­nen Stuhl zu­rück­ge­lehnt, dass die wuch­ti­ge Wöl­bung sei­ner wei­ßen Wes­te weit­hin glänz­te. Die schwar­ze Perücke des mäch­ti­gen Man­nes war ein we­nig in den Na­cken ge­scho­ben, er goss still und hei­ter ein Glas Wein nach dem an­de­ren hin­ab. Sein Ge­sicht – war es das ei­nes Schau­spie­lers oder ei­nes Cäsa­ren? – lach­te voll brei­ten Be­ha­gens, aber die be­weg­li­chen klei­nen Au­gen straf­ten, wie An­dre­as mein­te, sei­ne Harm­lo­sig­keit Lü­gen. »Das ist ei­ner, für den es hier kei­ne Ge­heim­nis­se gibt«, dach­te der jun­ge Mann voll Be­wun­de­rung. Duschnitz­ki, der sanft sei­nen Arm be­rühr­te, re­de­te ihn an.

»Sie ir­ren sich. Die schö­ne Haus­frau sitzt auf der an­de­ren Sei­te.«

»Ist doch ’n groß­ar­ti­ger Kopf!« sag­te An­dre­as.

»Wer?«

»Je­ku­ser.«

An­fangs schwie­gen die an­de­ren. Dann äu­ßer­te Süß kurz und ab­wei­send:

»Was ist denn schließ­lich der Je­ku­ser?«

»Ist doch auch nur ’n ganz ge­wöhn­li­cher Hau­sie­rer«, er­klär­te Klemp­ner. Duschnitz­ki setz­te mit lie­bens­wür­di­gem Lä­cheln hin­zu:

»Er sam­melt An­non­cen, wie an­de­re Lum­pen sam­meln.«

An­dre­as wur­de sich be­wusst, eine ge­wis­se pein­li­che Stim­mung er­regt zu ha­ben. Was hat­ten sei­ne drei Nach­barn ge­gen Je­ku­ser? Of­fen­bar gar nichts. Aber es war schlech­ter Ton, ir­gend­je­mand oder ir­gen­det­was of­fen zu be­wun­dern. An­dre­as nahm sich vor, die­ses Ge­setz nicht wie­der zu ver­let­zen, in Ge­sell­schaft we­nigs­tens nie­mals. Frau Türk­hei­mer ge­gen­über war es viel­leicht et­was an­de­res? Da, wo er einen un­ge­wöhn­li­chen Ein­druck ma­chen woll­te, durf­te er doch nicht den Al­ler­welts­ge­schmack nach­ah­men. Dort war es viel­leicht hohe Po­li­tik, sich so zu zei­gen, wie er wirk­lich war?

Das fru­ga­le Abendes­sen be­stand aus ei­nem Hum­mer­sa­lat und ei­ner kal­ten Kalbs­schnit­te. »Nur ge­ra­de der ge­sun­de Nähr­wert, das ist das Feins­te«, er­klär­te Duschnitz­ki. Aber am Hum­mer­sa­lat war un­ge­heu­er viel Senf, der An­dre­as zum Wei­nen brach­te, wäh­rend ihm die schar­fe Kräu­ter­sau­ce, die man zu Kalbs­bra­ten aß, die Ein­ge­wei­de ver­brann­te. Er muss­te des­halb mehr trin­ken, als ihm ei­gent­lich lieb war, denn es stand ihm als Schreck­bild vor Au­gen, was dar­aus wer­den wür­de, wenn er sich in be­trun­ke­nem Zu­stan­de kom­pro­mit­tier­te. Er be­nei­de­te die an­de­ren, die sich ih­rem Leicht­sinn hin­ge­ben durf­ten, falls sie wel­chen hat­ten, denn sie be­fan­den sich hier ge­wis­ser­ma­ßen in ge­si­cher­ter Stel­lung. Er, An­dre­as, aber wag­te ge­ra­de sei­ne ers­ten, tas­ten­den Schrit­te.

Wäh­rend ein paar ge­eis­te Ana­nas­schei­ben her­um­ge­reicht wur­den, schlug drü­ben je­mand ans Glas. Gleich dar­auf er­hob sich Wal­de­mar Wen­ni­chens klei­nes lä­cheln­des Haupt mit dem tan­zen­den wei­ßen Flaum auf der kah­len Stirn, hoch über sei­ne Um­ge­bung. Der be­rühm­te Dich­ter sprach jetzt nach dem Es­sen mit noch mehr er­stick­ter Fis­tel­stim­me als vor­her, auch war die Stil­le im Saal nicht mus­ter­gül­tig. Man ver­stand so viel, dass es sich um die Ver­bin­dung zwei­er Pa­tri­zi­er­häu­ser, um einen de­mo­kra­ti­schen Adel und um ähn­li­che Din­ge han­del­te. Als Wen­ni­chen in die Men­ge zu­rück­ge­taucht war, sprach es sich her­um, dass die­ses Fest ei­gent­lich eine Art Vor­fei­er sein soll­te für die Hoch­zeit der Toch­ter des Hau­ses, Fräu­lein Asta Türk­hei­mer, mit dem Frei­herrn von Hochs­tet­ten.

Als­bald such­ten vie­le Bli­cke das Braut­paar auf. An­dre­as be­merk­te, dass Fräu­lein Asta ein recht un­zu­frie­de­nes Ge­sicht mach­te. Wen­ni­chens Rede muss­te ihr gar nicht ge­fal­len ha­ben. Asta war hübsch, litt aber für An­dre­as kei­nen Ver­gleich mit ih­rer Mut­ter. Ihre Fi­gur, in der sich die Fül­le auch schon an­zeig­te, schi­en doch mehr zur Un­ter­setzt­heit zu nei­gen, ihr brü­net­ter Teint war nicht so rein, die zu­sam­men­ge­wach­se­nen Brau­en ver­fins­ter­ten das Ge­sicht, und der große Mund hat­te et­was Will­kür­li­ches, das An­dre­as ban­ge mach­te.

Der Bräu­ti­gam, der Asta ge­gen­über­saß, war eben der Herr mit spär­li­chem Haar und schüt­term weiß­blon­den Spitz­bart, dem Fräu­lein Türk­hei­mer ent­ge­gen­ging, als An­dre­as ihr bald nach sei­nem Er­schei­nen auf die Schlep­pe ge­tre­ten hat­te. Hochs­tet­ten hielt eine schma­le, un­end­lich lan­ge und blei­che Hand an die Schlä­fe ge­legt. Er saß schläf­rig über den Tisch ge­neigt und sprach mit sei­ner Braut, ohne dass sein Ge­sicht sich be­weg­te. Lan­ge, hän­gen­de Kie­fer und eine fei­ne, ge­bo­ge­ne Nase ga­ben ihm ein durch­aus ed­les Pfer­de­pro­fil. Sei­ne großen matt­blau­en Au­gen träum­ten, man moch­te Hochs­tet­ten be­ob­ach­ten, wann man woll­te, im­mer nur vor sich hin, wor­an wahr­schein­lich bloß Blut­lee­re schuld war. An­dre­as ward dies klar, als am Ne­ben­tisch, wo Rechts­an­walt Gold­herz saß, die lau­te Be­mer­kung fiel:

»Müde Ras­se!«

Der jun­ge Mann be­wun­der­te im Stil­len den großen Ver­tei­di­ger. »Müde Ras­se!« In ei­nem sol­chen Wor­te lag die ab­ge­schlos­se­ne wis­sen­schaft­li­che Wel­t­an­schau­ung, für die Gold­herz so häu­fig prak­tisch Ver­wen­dung fand, und die vor Ge­richt sei­ne Über­le­gen­heit über den Staats­an­walt be­grün­de­te.

An­dre­as hat­te in­zwi­schen mehr Sekt ge­trun­ken, als ihm lieb war. Et­was an­de­res kam nicht auf den Tisch, denn Klemp­ner hat­te er­klärt, dass es bei die­ser ra­pi­den Ab­füt­te­rung nicht der Mühe wert sei, sich in einen Wein zu ver­tie­fen, der Ver­ständ­nis und Sorg­falt er­for­de­re. Die Ge­dan­ken des jun­gen Man­nes be­gan­nen zu va­ga­bun­die­ren. Von Asta, Hochs­tet­ten und Rechts­an­walt Gold­herz kehr­ten sie, ehe er es sich ver­sah, zu Frau Türk­hei­mer zu­rück. Der leich­te Cham­pa­gner­rausch half sei­nem san­gui­ni­schen Tem­pe­ra­ment, die Schüch­tern­heit des Neu­lings zu be­sie­gen, und plötz­lich, zu sei­ner ei­ge­nen Über­ra­schung, sag­te er sich rund­her­aus, dass er Adel­heid be­sit­zen wol­le. Er er­blick­te au­gen­blick­lich gar kein Hin­der­nis. Denn er stell­te sich mit stil­ler Ge­nug­tu­ung eine lan­ge Rei­he von Lieb­ha­bern vor, die sie vor ihm ge­habt ha­ben muss­te. War es nicht ganz na­tür­lich, dass jetzt auch er an die Rei­he kam? Eben noch hat­ten alle durch ihre plötz­li­che Be­ach­tung ihn mer­ken las­sen, dass die Kö­ni­gin ihm, dem ar­men Pa­gen, das Ta­schen­tuch zu­ge­wor­fen habe. Auch fand er sich ja im denk­bar güns­tigs­ten Au­gen­blick ein, ge­ra­de als Ra­ti­bohr die vier­zig­jäh­ri­ge Dame in ein­sa­mer Trau­er zu­rück­ge­las­sen hat­te. Wie vie­le Trös­ter wür­de sie wohl noch fin­den? Sich von ihr in Gna­den auf­neh­men zu las­sen, war ei­gent­lich eine zu leich­te Auf­ga­be und nicht be­son­ders ruhm­voll. Aber als ers­te Stu­fe zum fer­ne­ren Em­por­kom­men moch­te man es mit­neh­men. Denn dies war kein Idyll, und es han­del­te sich nicht dar­um, Frau Ge­ne­ral­kon­sul Türk­hei­mer auf eine Lie­bes­in­sel zu ent­füh­ren. Es hieß ein mo­der­ner jun­ger Mann sein, wie zum Bei­spiel Asta ein mo­der­nes jun­ges Mäd­chen war. Ja, auch Asta war bei der Sa­che zu be­den­ken und da­ne­ben Türk­hei­mer, der Schwie­ger­sohn, wer weiß, viel­leicht die Ei­fer­sucht an­de­rer Be­wer­ber, das Übel­wol­len vie­ler, die Mei­nung ei­ner gan­zen Ge­sell­schaft. Asta vor al­lem flö­ßte ihm eine un­be­stimm­te Furcht ein. Ohne es zu wis­sen, hat­te An­dre­as sich mehr­mals nach ihr um­ge­se­hen.

»Der soll­ten Sie den Hof ma­chen«, sag­te plötz­lich Duschnitz­ki, der ihn teil­nahms­voll prü­fend be­trach­te­te.

»Dem Fräu­lein Asta? Wa­rum denn?« frag­te An­dre­as.

»Um ihre wohl­wol­len­de Neu­tra­li­tät zu er­lan­gen.«

»Sehr rich­tig«, be­merk­te Klemp­ner. »Sie wis­sen wohl nicht, dass Asta die Lieb­ha­ber ih­rer Mut­ter als ihre per­sön­li­chen Fein­de be­trach­tet? Dem Ra­ti­bohr hat sie einen Streich ge­spielt.«

»Ein bös­ar­ti­ger Cha­rak­ter, sage ich Ih­nen!« rief Süß mit Trä­nen in der Stim­me. Der reich­li­che Sekt­ge­nuss mach­te ihn weich und me­lan­cho­lisch. An­dre­as er­kun­dig­te sich:

»Ist Asta ei­fer­süch­tig auf ihre Mut­ter?«

»I wo! Sie ver­ach­tet die Mama!«

»So mo­ra­lisch?«

»Mora­lisch aus Sno­bis­mus«, er­klär­te Klemp­ner. »Asta fühlt das Be­dürf­nis, ihre so­zia­le Stel­lung zu ver­bes­sern. Ihre Mut­ter könn­te drei alte Gra­fen auf ein­mal ha­ben, und sie wür­de sie ihr nicht übel­neh­men. Aber ge­gen die jun­gen Ta­len­te hat sie nun mal ein Vor­ur­teil.«

An­dre­as dach­te an Kaf­lisch und sag­te mit Be­to­nung:

»Sie ist eben ein mo­der­nes Weib, mehr in­tel­lek­tu­ell als Ge­schlechts­we­sen.«

»Mo­dern be­son­ders im Geld­aus­ge­ben«, ver­setz­te Duschnitz­ki. »Sie kos­tet Türk­hei­mer ge­ra­de so viel wie sei­ne Maitres­sen.«

»Und das soll­te eine Toch­ter doch nicht!« füg­te Süß aufs höchs­te be­küm­mert hin­zu. Duschnitz­ki fuhr fort:

»Und da­bei ver­ach­tet sie auch Türk­hei­mer mit­samt sei­nen Ge­schäf­ten, und sie sagt es je­dem, der es hö­ren will!«

»Die Un­glück­li­che! Sie ist aus der Art ge­schla­gen!« jam­mer­te Süß.

»Sie kauft sich einen Na­men! Was ist denn so ’n ab­ge­tra­ge­ner Name heu­te wert?«

»Kunst­stück!« mein­te Klemp­ner. »So ’nen Baron und gar ’nen Ge­heim­rat vom Neu­en Kurs kann sich doch jetzt schon der gute Mit­tel­stand leis­ten, seit der Adel sich den Li­be­ra­lis­mus an­schafft, den wir ab­ge­legt ha­ben!«

Es wur­den Scha­len mit Zi­gar­ren und Zi­ga­ret­ten auf den Tisch ge­stellt. An­dre­as, der Feu­er brauch­te, ließ sich den sil­ber­nen Kan­de­la­ber her­über­schie­ben. Die­ser be­stand aus ei­ner fein zi­se­lier­ten Säu­le, an der Co­lom­bi­ne2 lehn­te, die sich von ei­nem Herrn küs­sen ließ. Pul­ci­nel­lo stand da­bei und hielt den Leuch­ter, den er auf den Rand der Säu­le schob. An­dre­as sah die Welt ro­sen­far­big und ver­spür­te Lust, sich für ir­gen­det­was zu be­geis­tern, er­in­ner­te sich aber noch recht­zei­tig, dass dies für un­pas­send galt. Er sag­te da­her ein­fach:

»Eine recht net­te Ar­beit!«

Duschnitz­ki be­stä­tig­te dies:

»Nichts da­ge­gen ein­zu­wen­den!«

Klemp­ner be­gann so­gleich sei­ne wein­se­li­ge Be­red­sam­keit über die Be­deu­tung zu ver­brei­ten, die der Pul­ci­nel­la­fi­gur in der Ge­schich­te der Mensch­heit zu­kam. Er sah in ihr den ko­misch auf­ge­fass­ten Ty­pus des rei­nen Na­tur­kin­des, das ohne mo­ra­li­sches Vor­ur­teil an die Din­ge her­an­tritt, zu Nie­der­träch­tig­kei­ten in sei­ner Un­schuld eben­so ge­neigt wie zu Hel­den­ta­ten, und er ver­glich sie mit Par­si­fal und Sieg­fried, die den­sel­ben Cha­rak­ter von der tra­gi­schen Sei­te dar­stell­ten. Sein Blick glitt ver­schlei­ert und un­si­cher zu An­dre­as hin­über, er schi­en plötz­lich eine Ent­de­ckung zu ma­chen und rief aus:

»Sie, mein Lie­ber, ha­ben ei­gent­lich was da­von!«

An­dre­as war zu ver­söhn­lich ge­stimmt, um auf Klemp­ners An­züg­lich­keit ein­zu­ge­hen. Er frag­te:

»Wer ist der Künst­ler?«

Süß be­lehr­te ihn mit rühr­se­li­ger Ent­rüs­tung.

»Men­schens­kind, Sie kom­men aus Ge­gen­den, wo man Clau­di­us Mer­tens nicht kennt? Bli­cken Sie mal dort­hin, und Ihr Auge wird ei­nem großen Man­ne be­geg­nen!«

In der be­zeich­ne­ten Rich­tung ent­deck­te An­dre­as einen breit­schult­ri­gen Herrn mit gut­mü­ti­gem Ge­sicht, blon­dem Voll­bart und nach­läs­sig ge­bun­de­ner Kra­wat­te. Er hielt das Bein über­ge­schla­gen und eine Hand dar­auf­ge­legt, die un­ge­wöhn­lich kräf­tig aus­sah und so brei­te, ge­drun­ge­ne Fin­ger hat­te, dass An­dre­as zwei­felnd das zer­brech­li­che Kunst­werk vor sich auf dem Ti­sche be­trach­te­te.

»Wie hat er das ge­macht?« frag­te er sich. Er äu­ßer­te:

»Clau­di­us Mer­tens? Ich habe den Na­men nie ge­hört.«

»Sie sind ent­schul­digt«, er­klär­te Duschnitz­ki. »Clau­di­us ist über einen ge­wis­sen Kreis hin­aus fast un­be­kannt, und das ist sein Ruhm. Er stellt nichts aus und ar­bei­tet nur für ein paar Häu­ser wie Türk­hei­mers, die ihn ko­los­sal da­für be­zah­len, dass er die Mo­del­le sei­ner Wer­ke ver­nich­tet.«

»Merk­wür­dig!« mein­te An­dre­as.

»Das ist das Feins­te!« jam­mer­te Süß. »Was für ’n großer Mann!«

»Wol­len Sie das Clau­di­us-Ka­bi­nett se­hen?« wur­de An­dre­as von Klemp­ner ge­fragt.

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Im Schlaraffenland

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