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Intellektualität
ОглавлениеDie Sympathien, deren die Sowjetunion sich außerhalb ihres Gebietes erfreut, gelten, so gut wie ohne Rest, einer Idee, der Idee der neu verstandenen Freiheit. Nur die noch immer Unbelehrten denken sich die Revolution des 20. Jahrhunderts schlechthin stofflich. Die Verstaatlichung der Produktionsmittel bleibt ihnen Selbstzweck, sie steht im sozialistischen Programm, hiermit ist es erfüllt.
Wenn das alles wäre, und hätte eine wirtschaftliche Maßnahme weder geistige Voraussetzungen noch sittliche Folgen, dann – bliebe sie noch immer belangreich. Aber nicht notwendig von günstigem Belang. Ein Staat kann seine wirtschaftliche Macht über die Menschen so sehr und mehr mißbrauchen, als die privaten Monopolinhaber. Warum nicht die wirtschaftliche, da die soziale, politische, militärische Macht der Staaten so vielfach schlecht verwendet worden ist!
Die Auswirkung von Reformen – eine Revolution sei nicht immer vorausgesetzt – hängt ganz und gar davon ab, in welcher Geistesverfassung sie vorgenommen werden, welche Geschichte eine Nation hat, unter was für Taten und Lehren sie bis zu diesem Augenblick lebte. Lasse man die Deutschen nach zwölf, vierzehn Jahren Hitler – mit den Denkgewohnheiten der Hitlerzeit, mit ihrer Art des Empfindens, des längst nicht mehr humanen Empfindens – urplötzlich durch einen Zauberschlag oder coup de théâtre den Kommunismus bekommen. Er hat ihnen, wie sie sind, nichts zu geben. Er kann von dem, was sie sind, nichts fortnehmen.
Der Wahn vom einzigen Herrenvolk ist ihnen, vielen Zeugnissen und der Wahrscheinlichkeit zufolge, gründlich genug beigebracht worden. Er hat die Führung in einer Reihe anderer böser Träume. Eine veränderte Wirtschaftsregelung bewirkt nicht von selbst die geistige Gesundung. Wenigstens wäre die Annahme noch willkürlicher, als die entgegengesetzte Vermutung, daß die deutschen Welteroberer, wirtschaftlich reformiert (und sich selbst überlassen) alsbald zu frischen Taten schreiten. Sie müssen es nicht – obwohl erst der Kommunismus ihrem Staat die völlig zentralisierte Gewalt gegeben hätte. Die Gelegenheit oder der Mut, eine neue Katastrophe auszubrüten, könnten dem kommunistischen Deutschland fehlen: Nicht die inneren Voraussetzungen.
Die Entscheidung, ob eine Nation im heutigen Zusammenhang der Welt sich einen, und geht er verloren, den zweiten Angriffskrieg erlaubt – beide irrational, beide verworfen und aussichtslos: die Entscheidung ist beschlossen in dem Maß ihrer Weisheit, und nirgends sonst.
Die Deutschen waren seit wenigstens fünfzig Jahren stufenweise verdummt. Sie verachteten, was man nicht sieht, was nicht technisch gehandhabt wird und Lärm macht. Sie waren ohne Stille, das ist es. Ihre ursprünglichen Gaben werden nunmehr allem anderen gewidmet, nur nicht der Meditation. Nur der uninteressierten Erkenntnis nicht. Um sich in Morallosigkeit tief hineinzuknien (»Moralinfrei« ist leider eine Wortbildung Nietzsches), haben sie keinen Hitler abgewartet.
Eine sozialistische Revolution konnte gelingen, ihr Ergebnis, die Sowjetunion, kann bestehen, weil beide geistig erkämpft worden sind. Aber geistige Kämpfe geschehen in der Stille, so viel gnadenloses Geräusch sie endlich aufrühren müssen. Hundert Jahre großer Literatur sind die russische Revolution, vor der Revolution.
Das alte Rußland konnte geistig bearbeitet werden zufolge seiner sozialen Schichtung, seiner altväterischen Gesittung – und ihrer grausamen Kehrseite: Das Dasein der Erniedrigten war mit der Hand zu greifen, und zu schildern. Günstig war auch die geistige Duldsamkeit eines Staates, der – wenn auch nur literarisch – mit sich reden ließ. Die »Gesellschaft« rang sie den Machthabern ab, sie kleidete ein erschlafftes System, Anfälle von Strenge unterbrachen das Geschehenlassen. Mit all dem war das alte Rußland genau der Boden, dessen eine große Literatur bedarf.
Die angespannte Teilnahme des ganzen Reiches galt nur ihr. Ohne sie wäre das hingefristete Leben ohne Interesse gewesen, um so mehr ohne Aussicht. Man hatte die Literatur und hatte die Musik, beide erfüllt von demselben Lebensgefühl: ein ansteigendes Gefühl für ein Leben voller Forderungen. Ihrer erste war die Wahrheit, eine intransigente Wahrheit über die menschliche Lage, nie verklärt, außer durch die Gnade des Glaubens und der Barmherzigkeit.
Die russische Literatur des 19. Jahrhunderts ist ein Vorgang ungeheuer, und von einer Erbaulichkeit, daß wir, gewöhnt an Niedergang und Abbruch, kaum glauben wollen, wir wären dabeigewesen. Manches begreifen wir nachträglich – oder legen es, angesichts des Nachher, hinein. Ich höre ein Marsch-Scherzo von Tschaikowski und meine die offene Verhöhnung des verjährten Militarismus zu hören, einer großtuerischen Maskerade, die ausarten soll in das Blutbad und doch lächerlich bleibt wie ein altmodisches Duell. Wie aber ist Dostojewski, wie Tolstoi gelesen worden?
Sie sind mit Beben gelesen worden. Sie sind gelesen worden von Augen, die weit wurden, um so viel Gestalt, um all das Wissen zu empfangen, und als Gegengabe tropften Tränen. Von Puschkin bis Gorki haben diese Romane, Glied an Glied in lückenloser Reihe, eine tiefe Kenntnis des Menschen, seiner Schwäche, seiner Furchtbarkeit, seiner unerfüllten Berufung, gelehrt – und sind aufgenommen worden als Lehre.
Ein Volk, eine »Gesellschaft«, mit allen ihren Abständen, lernte hier, nicht ganz vergebens. Hätte der Ungerechte nur diesmal, beim Lesen dieser Seite, sein Gewissen schlagen lassen, hätte das nächste Mal, vielleicht sogar an der gleichen Stelle, ein Unterdrückter im Zorn aufgeschluchzt, nichts ist zu Boden gefallen, vergebens war nichts. Und die Bücher vereinten alle.
Für den guten Willen einer nationalen Gesamtheit hinsichtlich der menschlichen Sorgen spricht ihr Verhältnis zur Literatur. Die menschliche Natur und Lage wird den Leuten um so mehr Teilnahme abgewinnen, je ernster sie die Literatur nehmen. Es kommt vor, daß die Literatur den weniger geachteten oder national verdächtigen Teilen der Gesamtheit allein überlassen wird. Es kann geschehen, daß die eigene große Literatur bei der Nation nur noch konventionelles Ansehen genießt. (Beides traf in Deutschland zu, während derselben Jahrzehnte, als die russische Literatur die höchste Angelegenheit der Gesamtheit wurde.) Dann ist zu wetten, daß es schlecht steht um die Aussichten für das Menschenglück – und um die Nation.
Die Revolution, eine wahre und tiefe Revolution, ist zuletzt kein Aufstand der einen gegen die anderen. Im Grunde verlangt und empfängt sie die Übereinkunft aller. Nach ihr hingestrebt haben die Bevorrechteten, die ihre widernatürlichen Vorteile opfern sollen, und die Benachteiligten, die noch ganz andere Leiden werden durchstehen müssen, bevor sie die Freiheit, oder ihren Widerschein, erblicken. Die französischen Feudalen des 18. Jahrhunderts waren die ersten und eifrigsten Adepten des Humanismus in Enzyklopädien und Romanen, dem sie endlich erliegen sollten: hatten ihm aber vorher ihren Geist geöffnet.
Die russischen Aristokraten schrieben die Romane sogar selbst. Ein unverhältnismäßig großer Teil der revolutionären Literatur – der Literatur der schamlosen Wahrheit – ist das Werk von Unersättlichen, – nach aller Macht, dem schrankenlosen Genuß forderten sie für sich auch noch das Wissen, das sie aufhob. Als der unermeßliche Tolstoi seine »Anna Karenina« schrieb, war ihm allenfalls noch unbekannt, daß eine dermaßen durchschaute Gesellschaft keinen langen Bestand mehr hat. Bei seinem letzten Roman, der »Auferstehung«, angelangt, hat er danach gelechzt, die Folgen zu erleben. Das Martyrium, nicht mehr, nicht weniger wollte er für sich. Für alle anderen – seine nackte Wahrheit.
Die russische Literatur – als die Revolution selbst, wie sie im Buch steht – hat seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts unsterblich eingeschlagen in die Welt bei den Intellektuellen des Westens. Ich gedenke der völlig vereinzelten Wirkung der »Kreutzersonate« – das Gebot der Keuschheit nach tausend Jahren wieder wörtlich, heilig genommen. Wir waren fremd angesprochen, der Ungläubigste erschrak, indes er zu lächeln meinte. Eine dynamische Moral (soeben hatte Nietzsche uns sogar ihre ohnmächtigen Reste ausgeredet) brach jäh herein. Sie machte Sensation, bis hinein in stumpfe Mengen, die nichts lasen. Die »Kreutzersonate« ist eines der Wunder des Zeitalters.
Geistig Bewanderte haben ihr bald angesehen, daß die geforderte Keuschheit nur ein Teil des Ganzen war. Um die integrale Reinheit ging es, um das sittlich bestimmte Leben, die Wahrheit, die Wahrheit! – es komme nach, was mag, es komme gar nichts mehr. Um dieselbe Zeit) geschah ein anderes Zeichen von gleichem Anspruch und nicht geringerer Kraft, die Affäre Dreyfus. Der Abstand der beiden ist nicht geistig, er ist soziologisch bestimmt.
Die französischen Intellektuellen in ihrem Entscheidungskampf um die Wahrheit blieben allein, trotz zahllosen aufgerührten Gewissen, mit so viel Haß, der sie traf, und bei aller Ergriffenheit der westlichen Welt. Die sozialen Tatsachen ließen in dem klassischen Fall, der ausgetragen wurde, keine unverbrüchliche Entscheidung zu. Die Wahrheit war »auf dem Marsch« – und erstickte unter Kränzen, als sie ankam.
Die Russen, ihre herrlichen Romanschreiber, waren in besserer Lage, – wenn ein Leiden ohnegleichen, das Leiden am »Totenhaus«, an der Verkehrtheit aller und an der eigenen, wenn sogar das Leiden unter der Wahrheit, die durchgesetzt werden will, irgendwen je gut gebettet hat. Dafür sind sie nunmehr wohl aufgehoben in der anonymen Verehrung unendlicher Leserschaften, die das eine Mal – nur dieses Mal in Generationen – bestätigt fanden, daß auch die Erkenntnis, auch der sittliche Wille siegen kann; nicht unfehlbar gehört der Erfolg der niedrigen Schlauheit und Bosheit.
Die Oktoberrevolution ist, wie jede echte, tiefe Revolution, die Verwirklichung einer hundertjährigen Literatur. Dies ist hauptsächlich darum die Tatsache, weil alle Intellektuellen unseres Kulturkreises, in dessen Mitte die Sowjetunion liegt, es so wissen wollen. Wenn – par impossible – die Sowjetunion eine Selbstverleugnung vornähme –.
Aber es geht nicht: mit dem ersten Zugeständnis höbe sie sich schon ganz und gar auf. Sie würde, ohne daß ein Wort fiele, den ungeheuren Ruhm der Nation ausstreichen: er ist literarisch.
Sie verlöre – aber wer weiß es so gut wie sie – alle intellektuellen Sympathien, die in nackter Wirklichkeit nichts anderes sind als die vollendete Weltrevolution. Sie ist nicht mehr zu unternehmen, sie bedarf weder der militärischen Eroberungen noch kommunistischer Propaganda, der künstlichen Ernährung mehr oder weniger verwandter Parteien (die es niemals ganz sind). Die Weltrevolution hat als Nährboden die Geister – ausnahmslos alle menschlichen Organismen, die jetzt denken, die jetzt sich selbst achten.
Die Teilerfolge der Revolution! Hier wurde vermutet und eingesehen, daß jenseits ihres Mutterlandes die Revolution eher zugelassen als umarmt, lieber anständig begrüßt als leidenschaftlich heimgeführt werden könnte. Aber auch die erwarteten Teilerfolge sind geistig-sittlich zuvor, erst nachher wird daraus, so viel von Umständen und Menschen erreichbar ist. Praktisch wäre dies ein Vorgang in vielen Etappen, kein Oktober tut es, viele Monate Oktober werden vorausgesetzt – und daß eine Menschenart nach der anderen ihren Geist öffnet.
Der Begriff des geistigen Menschen, des Intellektuellen oder Geisteskindes umfaßt das Menschengeschlecht. Die Unzugänglichen beweisen die Macht des Gedankens durch ihre Falschheit – auch sie ist nicht leicht durchzuhalten. Intellektuell kann ein Bauer sein. Ihren Arbeitern, die mit Maschinen umgehen, will die Sowjetunion nach ihrem ausgesprochenen Programm die Schulung von Studierten geben. Nur, damit die Maschine den Vorteil habe? Der Mensch soll gedeihen, und kann es, wenn er denkt.
Der Sozialismus ist kein Einfall von Technikern oder Ökonomisten. Fourier, Saint-Simon und le Pére Enfantin waren alles andere. Marx ist ein Philosoph der Tatsachen. Ihr Denker und Vollzieher zugleich ist Lenin. Zu der währenden Zeit des Realisten Stalin war die betonte, anschaulichste aller Kundgebungen (bis der Krieg kam) ein Schriftstellerkongreß.
Das Volk von Moskau, samt den eingeströmten Völkern, hat mit brennendem Eifer dem Auftritt seines Maxim Gorki beigewohnt, als dem Abschluß eines fruchtbaren Jahrhunderts, als dem Versprechen eines neuen fruchtbaren. Das Volk hat mit Recht die Reden der Schriftsteller für sein öffentliches Bekenntnis (am Kreuzweg wollte es die alte Sitte) – für sein eigenes, laut gewordenes Herz hat das Volk die Reden gehalten.
Des Kongresses erinnerte ich mich, als einen dieser Tage ein Geschäftsmann, früher im Vorstand einer Londoner Bank, auch seinerseits etwas bekannte. (Der Dritte im Gespräch hörte starr zu.) Die Worte hießen ungefähr: »Wenn die Revolution nicht das Beste vom Denkbaren verwirklicht hätte, ja, angenommen, sie hätte auf lange Sicht überhaupt nichts verwirklicht, es stäke nichts dahinter.« Pause. Sinnende Augen. Leiser: »Es scheint doch, etwas steckt dahinter.«
Ein Mann des praktischen Verkehrs, der dies äußert, glaubt mehr als er sagt, er hält auf, was über die Lippen möchte. (Noch sitzt ein Dritter starr dabei.) Der Mann ist ein Intellektueller, er hat seinen Geist geöffnet. Wer aber kam früher? Eindringlich bedacht, wer kam zuerst?
In russischen Hütten, an Winterabenden, beim Talglicht, es ist wohl sechzig Jahre her, hat ein Bauer den anderen Bauern vorgelesen – dies an tausend Abenden in tausend Hütten; und war zumeist nur einer, der die Kunst des Lesens selbst entdeckt hatte, gelehrt wurde sie damals nicht jedem. Er las zum Beispiel die Volkserzählungen des Grafen Leo Tolstoi; eines hohen Herrn, der aber schrieb, was Bauern zu lesen not tat.
Der Bauer las »Wieviel Erde braucht der Mensch?« Da läuft einer im weitesten Bogen um das Land, das er besitzen will. Die Regierung hat ihnen Land versprochen, soviel ihre Füße an einem Tag nehmen können im Lauf. Seine Gier läßt den Mann kein Maß finden, er läuft, sein Antlitz rötet sich feurig, es erblaßt schneeweiß, er läuft. Mit keuchender Lunge, dem Herzen, das stocken will, läuft er, bis er umfällt. Ist tot, wird auf der Stelle begraben. Sechs Fuß war er lang. Sechs Fuß Erde braucht der Mensch.
Das ist der Ursprung.
Ein Gleichnis von einer Schlagkraft, einer Unerbittlichkeit, wie Jesus Christus es erfunden hätte, über die Vergeblichkeit des Besitzes und das Menschenleben, das nicht seinetwegen dahingehen soll. Dergleichen mehr, gesetzt, ein Volk wäre begabt und lauschte darauf, ergibt zuletzt die Revolution. Sie war vor ihrem Ausbruch zugegen.
Das ist der Ursprung. Westliche Intellektuelle, die seiner gewahr werden, verneigen sich. Sie hatten manchmal die Revolution sogleich begrüßt, unbesehen und mit einiger Anmaßung, als geschehe sie ihretwegen. Indessen waren sie dem Ursprung fremd.
Andere, vielleicht die Bescheideneren, haben abgelehnt und nicht begriffen. Ich wüßte zu melden, was diese Schritt für Schritt überzeugt hat: es ist die tiefe, ursprüngliche Intellektualität der Revolution. Züge von ihr, die manche frühen, sogar parteimäßigen Anhänger enttäuscht haben bis zum Abfall – von der Partei, wenn nicht von der Revolution – die Moskauer Prozesse insbesondere, haben andere, zögernde Zuschauer erst vollends aufgeklärt, vermöge ihrer in aller Welt einzigen Intellektualität.
So weit wir sind, so weit wie der Dean of Canterbury, der Londoner Bankier, waren vor sechzig Jahren die Bauern in der Hütte beim Talglicht, wenn sie lauschten.