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Von Bismarck bis Hitler
ОглавлениеDas deutsche Kaiserreich hat pünktlich das zweite französische abgelöst. In Versailles mußte es eröffnet werden. Ohne ein besiegtes Frankreich war das Deutsche Reich politisch vielleicht zu haben, seelisch nicht. Die Deutschen, ob sie es sagten oder nur fühlten, haben von ihrem Reich verlangt, daß es mit dem Prestige von Siegen glänze, wie bis dahin das andere. Der deutsche Kanzler konnte, nachdem dieser Weg einmal beschritten, nur der Schiedsrichter Europas sein, wie vorher Napoleon III. – der Nachahmer eines Größeren.
Was Deutschland sich im 20. Jahrhundert erlaubt hat, ist ein Maximum, viel zu ungeheuer, als daß es eine natürliche Überlieferung fortsetzen könnte. Traditionen enthalten Erfahrung. Sie lehren Vernunft. Die preußische, wenn sie wirklich nur kriegerisch wäre, geht das alte, kleine Land Friedrichs an, und hier zuerst die Kriegerkaste, – sie ist es aber nicht, die diese unwahrscheinliche Überhebung des ganzen Deutschlands gepflegt, sie zum kritischen Ende gebracht hat. Weniger die alten Preußen als die sehr viel neueren Mächte im Reich.
Deutschland ist nicht Preußen, es hat von dem alten Preußen beiläufig den undeutlichen Begriff wie alle übrige Welt. Schon sein zweiter Kaiser, Wilhelm, war und handelte unpreußisch, flüchtig, ohne Nüchternheit und Sinn für das noch Erlaubte. Ausreden auf Friedrich den Großen besagen nichts, Friedrich hat wohl seine Preußen als die neuen Römer erträumt – in einer unabsehbaren Zukunft. Inzwischen ermüdeten sie ihn, er hat sie nicht geachtet. Er ehrte allein die Franzosen seiner Zeit, jeden letzten Untertan des Königs von Frankreich, dem zu dienen sein wirkliches Glück war.
Den Deutschen ist Friedrich ein Name, mehr nicht. Die Schulen außerhalb Preußens unterrichten über seine Geschichte wenig, die preußischen lehren eine Fabel. Das ältere Preußen oder das unbestimmte Bild, das man von ihm hatte, verführte niemand, eher stieß es ab. Gerade an seiner Spitze verfiel seine Tradition. Wilhelm II. hat versucht, den absoluten Herrscher zu spielen, nur keinen preußischen. Seine Mittel waren häufiges Umkleiden, immer reisen, alles wissen und noch mehr reden.
Das sind zivile Mittel, dieser deutsche Kaiser war kein Militär. In dem Krieg, der nicht seiner ist – ganz andere hatten ihn gewollt und gemacht –, brachte jeder, der es konnte, sich zur Geltung. Gekämpft wurde für die Geldinteressen dieser, das Prestige jener, für bunte Kriegsziele. Der Kaiser allein trat zurück, mit jedem Kriegsjahr weiter zurück, bis er sprach: »Ich spiele nicht mehr mit«, und zu Bett ging. Dieser König von Preußen war ein herabgesetzter Preuße, oder ein abgewichener. Sein Nachfolger Hitler ist gar keiner.
Wenn Deutschland ein Großpreußen wäre und die preußische Geschichte fortsetzte, dann haben die Deutschen jedenfalls ihren neuesten Führer von draußen geholt, aus demselben Österreich, das Friedrich haßte, dessen Herrscher er der Kaiserwürde entkleiden und das er zerstückeln wollte. Der neue Auserwählte der Deutschen hat mit Preußen-Deutschland das Geringste nicht gemein, weder Vergangenes, das man im Blut trägt, noch auch nur das Schulwissen. Die Landkarte von Deutschland mußte er erlernen, als ihm erlaubt wurde, zwischen den Städten dieses fremden Landes umherzufliegen, in Ausübung seines Berufes als Tribun. Reden, wie Wilhelm, und auch wieder nach den Reden der Krieg.
Napoleon war vom ersten Tag an französischer Offizier und nie etwas anderes, kein fauler Handwerker oder unwissender Hetzredner. Er mußte seine Heimat Korsika nicht besetzen, sie gehörte freiwillig zu Frankreich, – Frankreich war anziehend schon vor Napoleon. Deutschland ist es am wenigsten durch seinen Hitler geworden.
Besonders fand Napoleon eine Revolution vor, seine Laufbahn vollzog sich nach ihrem Gesetz, in ihrem Zeitmaß. In den achtziger Jahren ein Unterleutnant, der einen Roman schrieb; um 1800 auf Schlachtfeldern herangewachsen zu dem Ersten seiner Zeitgenossenschaft. Man kann es normal nennen. Es geht hervor aus dem damals verbreitetsten Lebensgefühl, – das heute nirgends begriffen werden kann, mit der einzigen Ausnahme der Sowjetunion.
Der arme Wilhelm II., in seinem Bedürfnis zu reden und sich jede Blöße zu geben, hat nicht unterlassen, ihn den korsischen Parvenu zu nennen. Da liegt es gerade. Er selbst war der Emporkömmling, seinem Auftrag, vornehm ein gesichertes Reich zu leiten, hat er nie genügt. Inmitten der liberalen Jahrzehnte brachte er halb faschistische Gesetze ein, der erregten Öffentlichkeit opferte er sie alsbald. Fuhr übereifrig einem fremden Milliardär bis an den Hafen entgegen, aber mit seinem Onkel von England trieb er Scherze, die teuer zu stehen kamen. Übrigens hat er Napoleon nachgeahmt, – in der Herrschergeste, da ihm sonst nichts freistand.
Die schaubare Haltung, das Inbetriebsein, die Ubiquität, das Vornean-Agieren um jeden Preis, auch auf die Gefahr von Kriegen, die man durchaus nicht zu wagen gedenkt: dies alles bedeutet das Hinschwinden der Legitimität. Die ehemals Europa regierende Familie – da die souveränen Häuser verwandt waren – sah gewöhnlich noch auf Würde. Bei allen Treulosigkeiten wahrte doch jeder den gemeinsamen Anstand, das hieß aber: die Mächte blieben mehr oder weniger die gleichen, und über den Kriegen der Nationen erhielt sich ein Frieden der Souveräne.
Der Kaiser eines neuen Reiches fiel aus der Reihe der Legitimen. Zu schweigen von der »Kunst des Möglichen«, wie Bismarck die Politik genannt hatte, – dafür bedarf es eines Künstlers; aber Wilhelm II. machte auch nicht die Politik seines Hauses. Sie wäre vereinbar gewesen mit der Politik der anderen regierenden Häuser. Unvereinbar mit allem Bestehenden waren die Gier und der Neid der kürzlich in Deutschland heraufgekommenen Mächte. Wilhelm, der nur das Geld achtete, verband sich ihnen.
Der Neid allein bestimmte Deutschland, will sagen seine neue herrschende Schicht, im südafrikanischen Kriege gegen England Partei zu nehmen. Wilhelm, mit den illegitimen Gefühlen des Emporkömmlings, der noch immer benachteiligt sein will, gab sich geräuschvoll als der Beschützer der Buren, aber nun ihr Präsident nach Berlin kam, empfing er ihn nicht. Provozieren, zurückzucken, Spielerei mit tödlichen Feindschaften und Furcht vor ihnen. Da er sich und seine Gesten nicht ernst nahm, verlangte er von anderen dasselbe. Bis an den Rand des Krieges und darüber hinaus erwartete er von Großbritannien, daß es sich enthalte.
Noch naiver hat Hitler an die britische Friedfertigkeit geglaubt. Er rechnete nicht nur auf den Betrug, einen dauernd unbeanstandeten Betrug, – indessen schon der unfähige Chamberlain gesagt hatte: »Man versucht es mit ihm noch einmal, auch wenn man nicht mehr glaubt.« Hitler muß überdies in dem merkwürdigen Traum dahingelebt haben, das europäische Gleichgewicht, seit zweihundert Jahren die Sorge Britanniens und Bedingung seiner Existenz, habe plötzlich aufgehört die Briten zu interessieren. (Das Gleichgewicht ist seit 1943 wirklich aufgegeben, um das besiegte Deutschland dauernd machtlos zu erhalten.)
Nicht genug, daß dieser Hitler aus seinen Träumen das britische Vorurteil versehentlich wegließ. Wahrscheinlich ist, daß er von dem europäischen Gleichgewicht niemals gehört hatte. Alle folgenden Zeugnisse seiner Unwissenheit sprechen dafür. Siehe seine einfach blödsinnige Meinung über den Zustand der Sowjetunion, derentwegen er sie angriff. Siehe seinen frevelhaften, aber auch hirnverbrannten Vorsatz, die europäischen Nationen aufzuheben.
Sie sind die ganze Lebenskraft Europas, alles, was den Erdteil des Bestehens wert macht. Wer verfällt darauf, sie abzuschaffen? Napoleon nicht, er hat nicht gerührt an die Nationen. Sein entferntester, unberufenster Nachahmer unternimmt den mörderischen, vergeblichen Unfug. Noch angesichts seines eigenen Zusammenbruches betreibt er das Ende aller.
Ich mag es kaum hinschreiben, so selbstverständlich ist es, daß der Politiker Hitler dieselbe Stufe hält wie der Stratege Hitler: die unterste, eher gar keine mehr, sondern den nachgiebigen Boden des frechsten Dilettantismus. Das soll eine Idee sein: niemand will den Krieg, daher kann ich ihn machen? Als sie mußten, haben sie ihn allerdings gewollt. Die einzige Idee des Politikers führte ihn nach Stalingrad und geleitet den Strategen treulich – bis zurück in das zertrümmerte Deutschland.
Das Problem ist nicht dieser Pinsel, auf Zimmerwänden wird er sich auch nur talentlos betätigt haben. Die schwere Frage betrifft Deutschland – und dies Zeitalter. Deutschland, das sich einem durchaus niedrigen Individuum in die Hände gab. Die gesamte Mitwelt der Mächte und Völker, die es ihm erlauben mußte. Das eine wie das andere geschieht, wenn man es verstehen will, folgerichtig. Das Schicksal werde nicht bemüht. Was wirklich ist, ist berechenbar.