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Der Herr von 1944

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Seit er der Regierung Seiner Majestät vorsteht, veröffentlichte der Schriftsteller Winston Churchill ein Buch, das von Blut, Schweiß und Tränen handelt. Was er tut, ist ebenso schmerzensreich. Der Minister hat dem Parlament, während es alle seine Rechte wahrnimmt, ganz offen erklärt, zu erwarten habe es nur Blut, Schweiß und Tränen. Auch Disraeli-Beaconsfield sprach seinerzeit zu dem Unterhaus im Stil seiner Romane, er selbst ihre Hauptfigur.

Der Landoffizier und Seemann Churchill hat dem Frieden nie getraut. Als andere davon absahen, war ihm bekannt, daß England der Neuheiten viele werde erleben müssen, sich neu bedenken, kämpfen auf unerhörte Arten und für gründlich andere Ziele als je vorher. Der Abenteurer Churchill wurde allgemein zu kriegerisch befunden. Im vorigen Krieg hatte er ein Amt versehen. Zwischen den Kriegen, als der zweite noch vermeidbar war, aber einzig mit der brutalen Bereitschaft ihn zu wagen, – kam kein Churchill daran.

Er wurde gerufen, als die Not ausbrach. Die hohe Tragödie gab endlich dem Edelmann Churchill seine vornehme Rolle. Sie bleibt die seine bis in Untergang oder Sieg, für ihren tragischen Stil ist jedenfalls gesorgt. Ob er über die Bösewichte der Welt (ihre billigen Bösewichte) triumphiert, oder in den verschiedenen Zonen der Erde seinen Hobby pflegt und Hüte kauft (mehr wert als die schlechten Gesellen), er bleibt, unter der Maske des Zeitalters, ein Held von Corneille.

Er hat den Glauben, er hat auch die Geste, und tritt er auf wo immer, »il est un peu là«. Das macht: unterhalb seiner Berufung, die das Fatum selbst ist, liegt in seiner Brust eine Gleichgültigkeit ohne Namen. Ich bin, was ich bin; solange ich da bin, wird gehandelt bis zur Vernichtung der Feinde. Träfen sie mich früher als ich sie, es hilft ihnen nicht. Sie sind gerichtet, nicht erst von mir. Ich bin entbehrlich.

Das ist aber die vollendete Form des Tragöden: »Sogar ich bin entbehrlich.« Daher fliegt er kreuz und quer über die Erdteile. Gibt bekannt wo er ist, gesetzt, es wäre nicht sowieso ausgespäht. Auf sein Flugzeug wird eine organisierte Jagd gemacht. Sein Weg von Afrika zurück nach London hat eigens abgeschossene Apparate gekostet, nur seinen nicht. Ein Schauspieler, Jude, aus Polen gebürtig, von Aussehen der perfekte Engländer, ist für Churchill gefallen. Wäre es nicht geschehen, bleibt es als ein Gleichnis wahr.

Er selbst überstand noch mehr als eine Reise, deren Verlauf nicht verbürgt war, auch noch zwei Lungenentzündungen. Die hohe Luft hatte auf sein altes Herz gedrückt, wer sagt, daß er durchkommen mußte. Er kommt durch, dank Fatum und Gleichgültigkeit. Tritt wie ein Unsterblicher vor die Kammer hin und verkündet das endgültige feste Ziel: Bedingungslose Unterwerfung – der anderen. Für seinen Teil wird er davon nicht abgehen – er und sein Gewissen, nie.

Käme es anders und er wäre noch da, er dächte wohl: »Auf meinen Krieg mußte ich zwanzig und mehr Jahre warten. Das Folgende mit anzusehen aus der Ewigkeit, verlangt weder Geduld noch Verzicht.« Es ist sicher, daß er an ein Fortleben glaubt, in der Art und aus dem Grund wie Bismarck: »Sonst wäre das Leben nicht das An- und Ausziehen wert.«

Sie sind so, in diesem Zeitalter, und in jedem. Aber dann haben sie sein umwölktes Gesicht, das ich einzig finde. Klasse? Andere seiner Klasse sehen wahrscheinlich noch immer glatt aus, wie ihresgleichen, unter Viktoria. Der tragische Mensch läßt hinter sich seinen Stand, die geistigen Gewohnheiten, nebenbei auch die äußeren, seines Standes.

Sein leidvoller, furchtbar tiefer Blick: »Und wenn die Welt voll Teufel wär«, spricht der Blick. Diese gespannten Lippen: »Ich – oder das Ende«, spricht der verschlossene Mund. Alles, die Zusammenziehung des Wangenmuskels, das dreifach gefaltete Fleisch an der Nasenwurzel, jeder Zug und das ganze Gesicht sprechen aus einer Nähe, als fühlte ich den Atem: »Klopf an, so wird dir aufgetan. Habe Mut! Habe den Mut auf Trümmern, und die Kraft, die dem hartnäckigen Dulder zuwächst!«

Die armen Leute, die er während der Battle of Britain aufsuchte bei ihren rauchenden Trümmern, fühlten und verstanden den Mann. Ihnen mußte er keine Rede halten. Ein Wink mit der Zigarre, sie riefen ihn an. »Winnie!« riefen die Obdachlosen, voll Freundschaft für den breiten, umwölkten Gast. Er saß im Wagen allein, keine Leibgarde, was siegreichen Diktatoren empfohlen sei. Er – war damals nur der Vorderste der Geprüften, inmitten eines Kampfes ohne Zukunft, außer man glaubte und wollte.

»Halten Sie Mr. Churchill für keinen fortschrittlichen Idealisten! Er lebt in den herkömmlichen Anschauungen der englischen Aristokratie«, sagte bald nach Dunkerque ein hochgebildeter, sehr wohlmeinender Amerikaner, damals in Frankreich mein hilfreicher Freund. Aber eine aristokratische Herkunft verpflichtet niemand, stehenzubleiben. Der menschliche Adel kommt, woher er kann. Man muß erfahren haben und muß wissen.

Am 4. August 1789 legte der französische Adel freiwillig (was man so nennt) seine Vorrechte nieder. Dem reichen Bürgertum fiel damals nichts dergleichen ein, und kommt ihm heute, nach Überschreitung jeder anständigen Frist, noch weniger bei. Nie und nirgend hat der Adel sein Unrecht verteidigt mit einer Entschlossenheit wie die Truste. Ihren zweiten Krieg, den Krieg der Welt um die Truste, haben sie nächstens hinter sich gebracht, aber bis zur völligen Ausrottung der Menschheit ist noch weit: sie geben sich nicht verloren.

Deutschland, das, aller Redensarten ungeachtet, nur für die Truste kämpft, zieht ihre Niederlage gar nicht erst in Betracht. Sie sind universal verschachtelt, die europäischen sind nunmehr in Berlin zentralisiert: das Ende der deutschen Bourgeoisie wäre nicht ihres allein. Alles wird für ihre Rettung zusammenwirken, gleichviel, wie der Krieg verläuft. Aber, höchst paradox, wird auch die Niederlage Großbritanniens von seinem Gegner nicht mehr ernstlich eskomptiert. Sie ist versäumt und nicht nachzuholen. Übrigens hätte sie Ergebnisse, die zu weit führen. Die Deutschen fürchten eine heillose Verwirrung, als ob sie nicht mitten darin wären.

Widerspruch über Widerspruch, hassen sie dennoch den einzigen Churchill. Ihn wollen sie töten, nur ihn, dann wäre, ihrem Wahn zufolge, in England niemand übrig, um sie zu enthüllen. Das ist aber ihr Schmerz: erkannt zu sein als viel zu gering für all das Wesen, das ihnen erlaubt wird. Daher ihre Friedensoffensiven, dreister als jede militärische. Der Witz mit Heß unterstellte, daß England nur den einen harten Nacken hat. Nach seiner glücklichen Beseitigung wären sie selbst nicht länger die verdächtigen Nebenfiguren, die sich vordrängen. Ihr historischer Auftrag könnte für beglaubigt gelten.

Sie wären Europa. Sonst keiner. Nun hat dieser Churchill sich wortwörtlich einen »guten Europäer« genannt. Das hat er von Nietzsche, und Nietzsche sprach – für ihn. Er meinte den wahren und starken Mann: kein geistiges Wagnis umgeht er, zu schweigen von den derben Abenteuern. Er darf hintreten und einbekennen: ich bin geschlagen, – wie in der Stunde von Dunkerque. Er, ein konservativer Brite, verspricht seinem Volk das Ende der Drohnen – im guten Glauben, wie völlig feststeht. Neuestens läßt er ein Gesetz vorbereiten: jeder Untertan Seiner Majestät ist künftig seiner Existenz gewiß, derart, daß er das Recht auf Erhaltung gewinnt, sobald er sich einreiht unter die Arbeiter, die Rechenschaft schulden. Wer es ablehnt, darf allein bleiben – nicht anders als in der Sowjetunion.

Konservativ ist nicht das Beharren auf dem Unhaltbaren. »Die Kunst des Möglichen« nannte Bismarck die Politik, seine lebenerhaltende Politik. Das ist auch Churchill. Zu der lebenbejahenden Sowjetunion zieht es ihn ehrlich. Das mörderisch entartete Deutschland widerstrebt ihm: es lügt aus Ohnmacht. Die Lüge ist seine Amme, die keine Milch gibt. Die britischen Kriegsgefangenen anketten und behaupten, England habe es mit den deutschen zuerst getan, – es ist schlechthin unbegreiflich, wie man dermaßen die Verachtung eines Churchill herausfordern mag. Man haßt ihn doch. Von einem, den man haßt, will man doch geachtet sein.

Die deutschen Militärs, immer noch meistens Adlige, haben leider verlernt, daß die Lüge unvornehm ist, und daß sie endgültig Schande bringt, anstatt Vorteil. Ihre bessere Natur (als sie für den König und den Ruhm kämpften) ist nicht nur den Erfolgen Hitlers erlegen. Viel schlimmer, das Wesen der Truste, das über Deutschland waltet, hat auch den Militäradel erfaßt. Er ist zugelassen bei den Monsterspießern der Truste.

Man sagt, damit die Welt Frieden habe, müsse die deutsche Kriegerkaste zerstört werden. Das wäre wenig. Die Kriegerkaste sitzt verschwägert, angestellt und beteiligt in den Präsidialbüros, wo ein Kontinent betrogen wird. Krieg zu führen ist ihr Nebenberuf. Um wenigstens dies zu ihren Gunsten anzuführen: die Militärs sind es nicht gewesen, sie haben kaum jemals gedrängt, daß wieder ein Land überfallen werde. Sie sind nicht, wie gesagt wird, Verbündete der Truste. Verschluckt ist nicht verbündet.

Die Vornehmheit, die nicht lügen mag, erscheint noch jetzt in der Adelskaste Britanniens: nicht zu oft; es wäre schade, wenn Vornehmheit die Regel würde. Aber daher das reine Antlitz ihres Königs, der sich in jeder seiner Ansprachen König seiner Völker nennt, in Britain, North Ireland and the Dominions beyond the seas. Daher das umwölkte Gesicht seines Premierministers – einem Denker und einem Schwerarbeiter würde es anstehen. Er ist beides.

Um England wird nicht gebangt. Zur Zeit ist England dieser Mann, um den niemand bangt. Wenn er krank ist, beten sie, und er steht auf. Indessen liegen nicht weit zurück die Tage, als er und alle Grund zur Furcht hatten. Da erließ er Anweisungen, wie die Nation sich verhalten müsse im Fall der Invasion. Er weiß: der Schrecken eines Einbruchs läßt nach, je näher man sich ihm fühlt, je genauer der Vorgang erwogen wird.

Der mittlere Brite soll ohne Phantasie sein. Dann lehrt jedenfalls ein Churchill ihn, wie es zugehen könnte und wie es ausgehen soll. In vierzehn Millionen von Abdrucken hat er damals der Nation seine Anweisungen erteilt. Er bereitete sie vor: »Leicht mag es einige Wochen währen, bis der Eingedrungene völlig vernichtet ist«. Nur Monate sind es, da wurde der wirkliche Beginn der Invasion verkündet, nur daß es nicht die deutsche in England ist. Die Verbündeten landeten endlich auf Sizilien.

Mr. Churchill und seine amerikanischen Alliierten werden wissen, wie es weiter geht. Er hat vor ihnen sonst allenfalls nichts, nur das eine hat er voraus: sein Land war einstens in Gefahr. Es ist noch gut gegangen für das Leben des Landes. Es hat sich zum Besten gewendet mit seiner Moral. Die heimgesuchte Bevölkerung Englands hatte Tote, sie waren um einiges zahlreicher als die übrigen Opfer der Verkehrsunfälle. Man vervielfache sie, nachgerade steht fest, daß ein Volk vom Sterben der Mütter und Kinder nur härter wird. Nicht jedes, aber dieses Volk.

Dem Herrn von 1944 – Cäsar nannte ihn, in dieser oder jener Absicht, eine politische Dame – würde der »Blitz« liegen. Die deutschen Propagandisten des Blitzes waren ihm, als der Ernst anbrach, mitnichten gewachsen. Das Tempo eines Churchill, wenn nicht alles täuscht, ist presto allegro – und, darf man vermuten, mit langsamen Tränen beiseite. Hiermit will ich aufhören, ich würde zu viel sagen. Für alle die Verachtung, die zu fühlen mir peinlich ist, kann mich nur entschädigen, daß ich auch bewundern darf.

Man gibt soviel man kann, oder hat es schon gegeben. Was ist vornehm, volkstümlich, liebenswert? Am Schluß meiner Lebensbeschreibung des Königs von Frankreich, Henri Quatre, lasse ich ihn zu uns allen sprechen – französisch, da dies seine »langue d'inclination« war. Außerdem hält er seine Allokution lange nach dem Tode und von einer Wolke hernieder.

Er spricht: »J'ai eu mes heures de grandeur. Mais qu'est-ce qu'être grand? Avoir la modestie de servir ses semblables tout en les dépassant. J'ai été prince du sang et peuple. Ventre saint gris, il faut être l'un et l'autre, sous peine de rester un médiocre amasseur d'inutiles deniers.«

Das ist es. Excusez du peu.

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