Читать книгу Ein Zeitalter wird besichtig - Heinrich Mann - Страница 18
England, wunderbar und einfach
ОглавлениеDas heißt scheinbar eine taktische Maßnahme wie jede andere: das europäische Gleichgewicht fallenzulassen. Indessen war es die Existenz Großbritanniens als einer Friedensmacht: der einzigen Friedensmacht. Der europäische Friede, insofern er bestanden hat, war eine Pax britannica. Die britische Macht war herangewachsen, bis eine Welt sie als Wohltat empfand: zum wenigsten das Viertel der Erde, das dem Commonwealth angehört. Man sei vorerst selbst überzeugt, daß man der Welt eine Wohltat ist, eher als ein Abscheu. Umgekehrt käme man nicht weit.
England hat, um das Gleichgewicht zu wahren, Ungerechtigkeiten begangen, die letzte zwischen den beiden Kriegen, zum Schaden Frankreichs, aber Deutschland sollte die Vorteile des britischen Friedens erkennen. Umsonst, Deutschland bleibt unzugänglich. In dem Maße, wie es ihm nachsichtig erlaubt wird, drängt es in die Stellung Englands – nicht, um der Welt eine Wohltat, sondern um ihr Abscheu zu sein, dies starr und dünkelhaft, als ob es das Höhere entdeckt hätte.
Hier läßt England das Gleichgewicht fallen; oh! nicht unvermittelt, es ist schwer, aus einer schon ausgereiften Friedensmacht noch einmal das kriegerische Land zu werden. Gleichwohl ist seither beschlossen, daß der Friede, wenn er eintritt, nicht mehr durch Überredung erhalten werden soll. Er wird auf Macht beruhen. Keine gleichberechtigten Gruppen verhandeln. Nur die eine hat das Recht gerüstet zu sein, sie allein verfügt über einen Willen und über die Mittel, ihn durchzusetzen. Sie diktiert, aber wehe dem, der diesmal über Diktate weint.
(Was alles dazwischenkommen kann, bleibt hier beiseite. Auf die Dauer verlangt der Friede das Einverständnis aller Teile, aber es ist auf keinem der jetzt gangbaren – oder denkbaren – Wege zu erreichen. Der Vorwand, Krieg zu führen, war diesmal der Faschismus. Es sieht nicht aus, als sollte er verschwinden. Seine Niederlage angenommen, übt er vielleicht auf einen Teil der Sieger die Anziehung, vor der ein Unterlegener sich hüten würde. »Kriege wird es immer geben«, sagt Stalin. Traurig genug. Noch trauriger, daß die Vorwände so schlecht und mehrmals dieselben sein dürfen.)
In Rede steht das Britannien, das für die Dauer des Krieges, wie Gott es nachher auch füge, sein Schicksal selbst verantwortet, bis an die Grenze, wo die Bestimmung über unsere Kraft geht. Britannien läßt das Gleichgewicht fallen. Es wählt seine Verbündeten für seinen künftigen Frieden der – gerechten – Übermacht: darunter die Sowjetunion. Ein unbelehrbares England hätte sie als einen notgedrungenen Mitkämpfer hingenommen – mit dem Vorbehalt: nachher sind wir ihn glücklich los, ni vu ni connu, würde Mr. Churchill in seinen französischen Ansprachen sagen. Er sagt überall das gerade Gegenteil. Für ihn und für ganz England ist die Sowjetunion der anerkannte Staat des Zeitalters, ja, der einzige, der es überschreitet, es weiterführt.
Sie sprechen: »Das Bündnis Großbritanniens mit Rußland wird den Krieg überdauern.« Sie verkünden: »Nach dem Krieg wird es in diesem Land keine Drohnen mehr geben.« Der Premierminister selbst hat die verurteilten Drohnen nach ihren Schichten aufgeführt: die ganz alten (seine eigene, adelige Klasse), die bürgerlichen Reichen, die frischen Profitmacher. Sie alle sind unstatthaft in einem Volk, das Unermeßliches getragen und unwahrscheinlich neu gehandelt hat. Ein Volk wie dieses kann nicht länger mit den alten Tricks der sozialen Ungleichheit übervorteilt werden.
Das wäre erstens praktisch untunlich. Ein Volk, das sich für den Krieg mitnichten gebrauchen ließ, sondern seinen selbstgefaßten, nüchternen Beschluß vollzog, wird nach allem Ermessen nicht mehr unbestraft benachteiligt.
(»Nach allem Ermessen« ist leider ungenau. Völker so gut wie Individuen haben Anwandlungen von Willensschwäche. Gewöhnliche Kriege hinterließen endlich die entwaffneten Kämpfer mit Verdiensten bedeckt wie ein General mit Orden, aber dennoch gehorsamer oder gleichgültiger als vordem. Wie wird das erst mit dem »totalen« Krieg kommen. Er hat nicht den bewaffneten Teil des Volkes, das ganze Volk hat er erfaßt, mitgenommen, ermüdet. Gerade hierfür hatten die deutschen Erfinder des totalen Krieges ihn bestimmt. Ihre Intelligenz ist übrigens unzulänglich. Nur wo es darauf ankommt, das Volk zu verringern, reicht sie.)
Praktisch verfehlt bliebe es darum doch, ein Volk, das gekämpft hat wie das britische, um den Preis zu prellen. Die Bestrafung der Unredlichen wäre nur vertagt: Eine Demokratie mit der alten Erfahrung der britischen weiß es. Sie mogelt wie die anderen Demokratien. Sie hat, bis zu diesem Krieg, ihre faschistischen Bestandteile groß werden lassen. Die deutschen Schlauköpfe zählten sogar nach ausgebrochener Katastrophe auf ihre Zuhälter in England: sie schickten ihren Heß hin. Er hätte, stände es noch immer wie einst, Großbritannien gegen das deutsche Verbrechen abstumpfen, wenn nicht dafür gewinnen sollen.
Er hat gar nichts gewonnen und durfte höchstens klagen, daß er noch immer nicht fein genug speiste, – als der mittlere Engländer schon die Reste seiner Mahlzeit in Papier wickelte und aus dem Restaurant nach Haus trug. Die ehemalige Nummer 2 der Nazielite ist von ihren britischen Freunden peinlich verleugnet worden: niemand will ihn gekannt haben. Was er beichten möchte, ist erlogen oder ist zufällig echt, auf keinen Fall interessiert es.
Seinen Auftrag, zu intrigieren, hat er inzwischen selbst als kindisch erkannt: dies sind die Jahre, die alles verwandeln. Als dieser Heß vorgab, er wäre geflüchtet, log er. Jetzt fände der geborene Ägypter ein längeres Verweilen in Deutschland tatsächlich unerwünscht.
Faschistische Sympathien können in England schlechterdings nicht einbekannt werden. Bei der Fügsamkeit des menschlichen Gemütes und solcher Gemüter, heißt dies auch schon: sie sind abgelegt. Geduldet wird der Antikommunismus. Aber jemand muß der Mann sein, sich vor die Brust zu schlagen und den Ton des herausfordernden Bekenntnisses zu gebrauchen. Auch darf er nicht vergessen, die Sowjetunion zu schonen.
Man redet dann: »Einem russischen Kommunisten würde ich ausweichen. Neben einem britischen Kommunisten möchte ich nicht einmal begraben sein.« (Engländer werden anrüchig durch Meinungen, die den Russen eben noch hingehen.) Die mannhafte Stimme gehört einer Dame, von britischer Herkunft ist sie wohl nicht. Damit wäre erklärt, daß sie den Verdacht der Unmoral nicht scheut. Britisch ist es, unter allen Umständen seinen Frieden mit der Moral zu machen. Neue Zugeständnisse, die für vernünftig und unausweichlich erkannt werden – so die Anerkennung eines mehr oder weniger kommunistischen Staates und seiner universalen Auswirkung –, werden in England moralisch gewertet. Wenigstens bekommen auch die sonst Unkundigen den überzeugenden Eindruck.
Es bleibe dahingestellt, ob vielmehr ein neu geoffenbartes Sittengesetz das Früheste ist. Vielleicht lag es zugrunde und wartete nur, bis die Schule des praktischen Lebens es tauglich erwies und ans Licht zog. Nehmen wir für alle Fälle an, daß zuerst die russischen Erfolge kamen, dann die Einsicht: ein Staat und Volk wie diese können nicht länger bemakelt bleiben. Es ist keine Schande, Kommunist zu sein, da Einrichtungen und eine Auffassung vom Leben, die kommunistisch heißen, in zwanzig Jahren ein Land groß und siegreich machen. Dem Siege vorbestimmt ist die proletarische Revolution – ist immer die echte Revolution. Stalingrad gleicht Valmy.
Hinzugerechnet die Schicksalsgemeinschaft. Denn die große britische Verwandlung vollzog sich unmittelbar, bevor auch die Sowjetunion um ihr Leben kämpfen mußte – um die Nation selbst, wie Großbritannien. Aus einem Mittler und Gönner von vornehmer Statur wird der nackte Mensch, verkrümmt von lange ungewohnten Anstrengungen: nicht wahr, da erkennt man den Proletarier, errät seine Seele.
Einer schien für immer gesichert, die edle Langsamkeit der Entschlüsse, eine praktische Vernunft ohnegleichen saßen ihm wie angeboren. Schneller als es sich sagen läßt, wird er ein großer Dulder, spannt sich an, kehrt um, bis er der erstaunlichste Abenteurer, ein Don Quichotte gar ist. Nicht wahr, das eröffnet Einblicke in das Wesen der Sowjetunion.
»Unser Bündnis mit Rußland wird den Krieg überdauern.« Nicht nur, weil beide auf der gleichen Seite kämpfen. Erst recht, weil sie mit verwandter Seele gekämpft haben und, ob sie wollten oder nicht, einander die Nächsten wurden. Wo ist das Jahr 1940, als England, zu spät, der französischen Republik die Vereinigung der beiden Reiche anbot! Großbritannien und die Sowjetunion, nur sie enthalten alle Kräfte, deren Europa bedarf, gesetzt, es sollte nochmals leben. Verantwortet wird das neue Europa von ihnen allein.
Großbritannien und die Sowjetunion haben niemals daran gedacht, einander nachzuahmen. Wollten sie es, wäre viel zu überwinden, ein konventioneller Abstand, noch größer als der praktische. Das Bewundernswerte ist, wie sie ohne Absicht, ohne Vorbild, dennoch zu gleichen Vollendungen gelangen. Nicht allein ist die britische Auffassung der Freiheit nunmehr abgewandelt in Richtung der Gleichheit – (ohne daß sie erreicht wird; wörtlich besitzt auch die Sowjetunion sie nicht). Sondern die andere Parallele, unerwartet, aber tief vorbereitet, tritt zutage. Die Sowjetunion errichtet wahrhaftig ein zweites Commonwealth.
Das sieht unmöglich, es sieht wie eine im voraus verlorene Wette aus. Jede der sechzehn Republiken soll ihre eigene auswärtige Politik haben; Polen würde mit der Ukraine zu tun bekommen, anstatt mit Moskau. Übrigens ist es dahin so weit wie zum britischen Kommunismus. Man begnüge sich mit der Neigung und dem Bekenntnis. Die Logik der Dinge wird begriffen, lange vor ihrer Verwirklichung. Offenbar verwandelt keine zentralisierte Autokratie sich über Nacht in eine Föderation. Das britische Reich hat mehr als hundert Jahre gebraucht.
Die Selbständigkeit der Sowjetrepubliken ist in ihrer Verfassung vorgesehen – nicht nur für ihre auswärtigen Angelegenheiten, sogar für ihre militärischen. Wenn beides schon heute durchgeführt wäre, könnte die Union diesen Krieg nicht bestehen. Damit wäre nicht bewiesen, daß der Vorsatz unernst ist. Aus der anerkannten Gleichheit der Menschenarten ergeben sich Rechte – auch Rechte, die in der Zukunft liegen, worauf es ankommt: den Punkt eins zu erreichen, wo die Selbstbestimmung der Republiken die Union nicht unsicherer macht, sondern sie befestigt. Das britische Commonwealth ist freiwillig und verbürgt einem Viertel der Erde seinen inneren Frieden.
Die Briten haben niemals befürchtet, Hitler werde mit der Sowjetunion fertig werden, weder in sechs Wochen noch überhaupt. Wer sowohl Antifaschist als auch Antikommunist war – aber Demokratie ist das noch nicht, sie setzt sich nicht aus Antis zusammen –, hat allenfalls gewünscht, Nazis und Rote möchten einander aufreiben und unschädlich machen. Das war alles, was man tun konnte, um die innere Annäherung an Rußland zu durchkreuzen. Es ist wenig. Unvergleichlich kühner handelte zu derselben Zeit die Moral.
Das Buch des Dean of Canterbury über die Sowjetunion, so bedeutend es ist, fällt doch nur unter die Symptome. Die wiedergeborene Moral schreit dermaßen zum Himmel, daß einer der höchsten Priester des Landes, wo sie das meiste gelten, nicht anders kann, als einstimmen. Es war aber sein Traum von je, so sprechen zu dürfen, von dem Heiland als seinem Zeitgenossen, von den Verheißungen des Heilands an die Armen, nur an sie, und von dem Ende des verhängnisvollen Unterschiedes, den die christliche Welt bisher krampfhaft festhält, zwischen Wirklichkeit und Lehre.
Der Abstand vom Wissen zum Handeln ist verringert, wenn nicht aufgehoben, in der Sowjetunion. Dies allein geht den Dean an, – nicht Worte wie Kommunismus. Die meisten machen sich mit Worten bezahlt. Wenn sie Entrüstung in die Aussprache des Wortes Kommunismus legen, fühlen sie sich mannhaft oder doch erleichtert. Es ist ihr fragwürdiges Gewissen, das sich hiermit beruhigt.
In Rußland ist mit der Verstaatlichung der Produktionsmittel der Kommunismus durchgeführt. Was die Gerechtigkeit schlechthin betrifft, werden Kommunisten wie andere Sterbliche sich ihr allenfalls annähern: ihr gleichkommen nie. Schon die Wirtschaft des einzelnen kann nach seinem Belieben außerhalb der Gemeinwirtschaften bleiben. Nur ist dafür gesorgt, daß wirtschaftliche Übermacht weder erlangt noch mißbraucht wird. So einfach ist das.
Den Antikommunisten außerhalb der Sowjetunion, den handgreiflichen wie den sprachlichen, fehlt die technische Kennerschaft dieses Geistlichen. Sie werden niemals richtig wie er angeben, was vorgeht bei den Sowjetvölkern, in dem kollektiven Ackerbau oder der Ölgewinnung, der Technik und Wissenschaft, die beide, von Rücksicht auf den Handel befreit, der menschlichen – und internationalen – Wohlfahrt helfen dürfen. Es wird ihnen keinen Eindruck machen, wenn sie hören, daß die Höchstgeehrten im Lande die Lehrer sind.
Die Abschaffung, das tatsächliche Ende aller Verfolgungen von Rassen, Religionen, Gedanken, dürfen sie nicht sehen – liberal, wie die Antikommunisten zu sein pflegen, und auch Juden sind sie oft. Aber sie sind ungläubig, daher würde sogar eine bessere Informiertheit sie nicht weiterbringen. Sie wollen nicht, und können nicht wollen.
Eine ganz ungewöhnliche Begabung muß sich, unter Schwierigkeiten wie den jetzt zeitgemäßen, finden und hervorarbeiten, damit jemand Moralist wird – vielleicht, ohne es zu wissen. Da ist Chaplin, ein Schauspieler, kein sittenstrenger Geistlicher. Sicherlich hat er, ganz von selbst, den Antrieb gehabt, sich in Szene zu setzen. Absichtsvoll die Existenz der Mühseligen nachzuleben, wie mancher Intellektuelle es zeitweilig tut, ist ihm nicht eingefallen.
Aber obwohl er von Anfang an besser als die Lohnarbeiter bezahlt wurde, teilte er dennoch ihr Lebensgefühl, und teilte es beständig. Es kostete ihn Aufrichtigkeit, aber keine Überwindung, damit er aus seinen, scheinbar glücklichen, Umständen eine arme, umgetriebene Gestalt ans Licht zog: sie war nun der wirkliche Mensch. Nicht seine bürgerliche Existenz, nur die lächerliche, reizende, bedauerns- und liebenswerte, die er fortan spielte, war wirklich. Die Gestalt verkörperte, bewahre, daß er es gewollt hätte, sittliche Forderungen. Das Publikum, höchst zweifelhaft gesonnen, nahm der Gestalt zuliebe Mahnungen hin, – jedem anderen hätte es sie verboten.
Es konnte nicht ausbleiben, daß die Bedeutung der Gestalt, die zuerst als wehmütiger Spaß gedacht war, ihrem Urheber aufging; daß sie über ihn Macht gewann, ihn selbst zu einem Geisteskind und Empörer machte: das letzte was er jemals von sich erwartet hätte. Da zeigt er, in einem seiner späten Filme, die Arbeit am laufenden Band – ein schauerlicher Wettlauf des Menschen mit der Maschine, eine groteske Atemlosigkeit, nur erträglich, weil grotesk. Offen, kaum noch statthaft, erklärt sich die Drohung: so geht das nicht lange. So wird mit Menschen nicht verfahren.
Chaplin, in Amerika verhaßt bei allen, die für das laufende Band sind, ist Engländer geblieben. Kommunist, nein. Seine Begabung ist die Moral.
Auch der Dean of Canterbury ist nicht Kommunist. Westeuropäer werden es in der östlichen Bedeutung selten sein; der ganze Antikommunismus ist gegenstandslos. Der Priester, ein normaler Einverstandener, durchaus kein abseitiger Kritiker, erfreut sich einer christlichen Erfüllung: das ist die »neue Demokratie der Arbeiterschaft, als eines Bollwerkes der Sowjetfreiheit«. Das meint, anders gesagt: »Die Armut muß man kennen, um sie zu verstehn.« The very reverend Hewlett Johnson hat, wie manche Intellektuellen beim Beginn dieses Zeitalters, selbst die Probe gemacht, er hat körperlich gearbeitet mit den Mühseligen und ihre rauhe Art der Existenz auf sich genommen.
Seither kennt er das »gefährliche Leben«: es ist allein bei den Kämpfern um das tägliche Brot. Die Feinde der Arbeiter und Enteigner fremder Nationen haben das Wort nur geschändet. Für nichts und wieder nichts fallen, noch lieber andere in den Tod schicken, ist kein gefährliches Leben. Man drückt sich vielmehr von dem harten, aber normalen Leben.
Seither weiß er um Ziele, – die natürlich noch fern sind, aber es kommt darauf an, sie zu sehen. »Den Unterschied zwischen Hirn- und Handarbeit aufheben, dadurch daß Arbeiter so viel lernen wie Ingenieure«, ist real und erreichbar. – »Das junge Volk kontrolliert die Faktoreien, Werkstätten und wissenschaftlichen Arbeiten« wird geistig vorausgesetzt, nicht deutlich angeschaut. Seinesgleichen, gesättigt mit Wirklichkeit, hängt doch immer an Träumen. Ein weiser Skeptiker, der er zum Glück nicht ist, hätte aber niemals den endgültigen Satz gefunden, – aus Traum und Erfahrung formt sich die lautere Wahrheit:
»Ein Land, wo es arme Leute gibt, ist nicht frei.«
Der very reverend betet die Freiheit an, wie seinen Gott selbst. Er gibt wahrhaftig keinem Liberalen nach, sein Dafürhalten wird eher sein, daß sie von Freiheit nur dahinreden und getünchte Gräber sind. Er läßt nichts ab und die sozialen Bürgschaften sind ihm heilig, um so mehr, da sein Land unter den Ländern mit kapitalistischer Klassenherrschaft das letzte ist, wo sie noch eingehalten werden. »Den Arbeitern steht es frei, die Arbeit niederzulegen, obwohl der Hunger sie meistens zwingt, doch wieder zu arbeiten.«
Stolz trotz allem. Engländer geblieben, ungeachtet des glänzendsten Vorbildes dort draußen. Will auch die Pressefreiheit. Unter den gewohnten Umständen ist sie die schroffe Umkehrung der Freiheit: das wird nicht hindern, sie eines Tages richtig zu wenden.
Ein Volk, das lernt und liest, wird keine betrügerische Publizistik der überreichen Interessen mehr haben. Die Interessenten sind weg, und was sie zu sagen hatten, verfiele dem Gelächter. Die Sowjetunion mit ihrer Unzahl von Büchern und den Konsumenten der Bücher nimmt die europäische Zukunft voraus, sie ist schon unsere Nachwelt. Unter den meistgelesenen der heutigen Autoren nennt der britische Priester auch mich: ich bin ihm innig dankbar. Es ist Tatsache: ob ich wollte oder nicht, solange Europa – »Deutsch-Europa« – mir verschlossen bleibt, habe ich ein einziges Feld: Sowjetrußland.
Ich habe es mit Romanen, in denen das Wort Kommunismus weder vorkommt noch dem damals bekannten Sprachgebrauch angehörte. Der Kommunismus, wie seine Heimat ihn versteht, ist mehr als nur ein politisches Bekenntnis. Die Bücher, die ihm Genüge tun, zeugen von einer Anschauung des Menschen, seiner Lage, seiner Bestimmung, die erstens wahr ist, zweitens unsere Würde hebt. Das ist alles. Mehr muß man nicht haben oder tun, um – gegenwärtig allein in Sowjetrußland – populär zu sein.
Die Kommunisten regieren das Reich nur so lange, bis, nach der Definition Lenins, jede Köchin das Regieren erlernt hat. Was Lenin definiert und der englische Priester sich zu eigen macht, ist die moralische Reife: das Erwachen eines Volkes bis zur sittlichen Männlichkeit, die innere – und praktisch experimentierte Zuversicht, daß sie erreichbar sei.
Statt Kommunismus sage man Moralität. Der Kommunismus als Technik der Einrichtungen wäre kein Gegenstand der erregten Neugier. Seine sittlichen Hintergründe sind es. Umgekehrt ist jeder Antikommunist an der Moral durchaus unbeteiligt. Dasselbe gilt für den Antichristen, Antiintellektuellen, es trifft viele Antifaschisten, die nichts weiter sind. Gegen dies und jenes gerichtet – wird man nichts wesentlich anderes als die Widersacher. Was man gerade ablehnen soll, bedingen die Umstände, es ist auswechselbar. Standhaft erhält die Moral. Nur sie macht fruchtbar.
Der Dean of Canterbury hat über den Diktator Stalin das Gute und Rechte gesagt: er ist kein Diktator. Er wäre es, wenn er, gleich den faschistischen Machthabern, die Diktatur für ein Ende, ja, für das Immerwährende hielte. »Sein persönliches Verdienst ist die nationale Freiheit, sie ist seiner größten Werke eines.« Der Brite meint: Freiheit einer Nation ohne arme Leute. Er meint: Freiheit einer Nation mit hohem sittlichen Anspruch.