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XII
Die leben, die genießen!
ОглавлениеAuf dem Rückwege von der Lützowstraße, wo sie Andreas’ noch unfertige Wohnungseinrichtung besichtigt hatten, bemerkte Köpf: »Sie haben wirklich eine großartige Karriere gemacht, mein Lieber.«
»Finden Sie?« fragte Andreas.
»Oh, kein Zweifel. Ich habe Ihnen zwar einen hübschen Erfolg vorhergesagt. Sie werden sich erinnern. Aber so viel hatte ich Ihnen denn doch nicht zugetraut.«
»Sie müssen mich doch noch unterschätzt haben. Ich will Ihnen mein Geheimnis verraten. Es ist eine einfache psychologische Wahrnehmung: Man braucht im Schlaraffenland bloß glücklich auszusehen, um es sehr bald wirklich zu werden.«
›Und eine fröhliche Vergeßlichkeit gehört auch dazu‹, meinte Köpf im stillen. Denn er war sich bewußt, den Freund einst eigenhändig in diese Tiefen psychologischer Erkenntnis hinabgeleitet zu haben. Er sagte: »Bewahren Sie sich nur Ihre harmlose Genußfähigkeit. Damit können Sie noch Ungeahntes erreichen.«
»Harmlos? Ah bah!«
Andreas machte ein blasiertes Gesicht.
»Was heißt harmlos? Neulich, an dem großen Tage, als ich nach der Börse mit Türkheimer die Linden entlangging, da habe ich ihm ins Gesicht gesagt, er sei ein Renaissancemensch, ein Eroberertypus. Nun, ich glaubte es momentan vielleicht selbst. Ich will nicht leugnen, daß ich begeistert war durch das künstlerische Motiv, das in den Gaunereien der Finanzleute liegt. Finden Sie nicht auch?«
»Oh, bitte. Aber jetzt urteilen Sie wieder anders?«
»Was wollen Sie? Unsereiner führt doch ein Zweiseelenleben. Wir möchten uns wohl den Erscheinungen hingeben, möchten wie die andern genießen und bewundern. Aber unser Literatentum, die Kritik, mit der wir vollgesogen sind, zeigt uns immer wieder das Unerquickliche, Kleine an den Dingen. Haben Sie es nicht auch schon bemerkt? Wir leiden unter dem zweifelhaften Vergnügen, die Menschen zu durchschauen. So zum Beispiel, mit dem Renaissancemenschen ist es ja gar nichts.«
»Tatsächlich?«
»Fauler Zauber, werter Kollege. Als ich ihm auseinandersetzte, die Ehrenfunktionen des Herrschers, etwa auch von Anarchisten ermordet zu werden, kämen eigentlich nur ihm zu, da kriegte er einen Schreck. Nun frage ich Sie, wenn er ebensogut Borgia wie Türkheimer heißen könnte, dann durfte er doch keinen Schreck kriegen? Nein, wir sollten uns stets unsere Überlegenheit über diese Leute bewahren; es sind ganz gewöhnliche Ausbeuter.«
»Sie sind streng, Herr Kollege.«
»Aber gerecht. Sie stecken ja das Nationalvermögen in die Tasche.
Das Nationalvermögen!« wiederholte er mit Nachdruck.
Dieses Wort, auf das er stolz war, feuerte ihn an und schärfte sein Urteil.
»Ein anderes Beispiel! Türkheimer wünscht einen Krach herbeizuführen, einen Konkurrenten aus der Welt zu schaffen und ganze Bevölkerungsmassen auszuplündern. Er nennt das: die Verhältnisse sanieren. Beachten Sie dies. Bevor er sich zu einer großen Tat entschließt, sucht er nach einem beschönigenden Wort dafür. Ebenso macht er’s mit dem kleinen Arbeitermädchen, wovon ich Ihnen erzählt habe. Wenn er sie und den Alten zu sich ins Kontor bestellt, so findet er dafür die Bezeichnung: etwas für das Volk tun. Was meinen Sie dazu?«
»Ich bin ratlos.«
»So will ich es Ihnen erklären. Der arme Mann fürchtet sich vor seinem Gewissen!«
»Ah!«
»Denn er würde vom schlechten Gewissen gequält werden, sobald er nicht allen seinen Streichen ein moralisches Mäntelchen umhängte. Glauben Sie meiner Erfahrung: bei Türkheimer steckt man, soviel Zynismus der gute Ton auch vorschreibt, im Grunde doch voll moralischer Bedenken. Es sind schließlich nur Bürgersleute.«
»Was Sie sagen! Woher nehmen Sie nur soviel Scharfblick!«
Köpf blinzelte verdächtig. Er genoß die Freude des uneigennützigen Mentors, seine Lehren, mit denen er des Jünglings erste Schritte auf schlüpfriger Bahn einst geleitet hatte, im Munde des erfolgreichen Schülers alle wohlbehalten wiederzufinden. Er äußerte: »Hüten Sie sich nur, Ihre reichen Freunde merken zu lassen, daß Sie ihnen in die Karten sehen.«
»Bah! Was liegt mir daran.«
Andreas schnippte mit den Fingern.
»Als ob sie meine Freundschaft nicht nötiger hätten als ich die ihrige.«
»Nein wirklich?«
»Türkheimer hat es mir selbst gesagt. Ich habe mir sogar vorgenommen, ihn bei nächster Gelegenheit einmal kräftig hineinzulegen. Wenn ich nur wüßte …«
Mit Eroberermiene spähte er ins Weite, wie nach einer Möglichkeit, den Beherrschern des Schlaraffenlandes seine Macht zu beweisen. Ein durchbrechender Sonnenstrahl blitzte auf dem Geschirr der Pferde und in der Laterne eines Wagens, der, noch weit entfernt, die Königgrätzer Straße heraufkam.
Köpf schüttelte leise das Haupt, voll unausgesprochener Besorgnisse. Wohl hatte er vorausgesehen, daß der sanguinische junge Mann seine Stellung in der Gesellschaft sehr bald überschätzen werde. Sein glückliches Selbstbewußtsein kleidete ihn gut, man ertrug es immerhin eine Weile. Aber wenn er irgendeine übermäßige Unbesonnenheit beging, die zu viele verletzte Interessen gegen ihn aufbrachte? Wenn man sich seiner entledigte? Dann war eine hoffnungsvolle Laufbahn vorzeitig unterbrochen; die Frage, wie weit ein möglichst günstig ausgestatteter Zögling, ein unschuldiger Streber und Genießer, ein unbewußter Spekulant in dem für ihn vorbereiteten, fetten Boden des Schlaraffenlandes fortzukommen vermöchte, diese interessante Frage blieb dann leider unentschieden. In trüben Ahnungen befangen, bereitete auch der wohlmeinende Freund sich auf ungewöhnliche Dinge vor. Welche Gefahr mochte wohl heraufziehen, dazu bestimmt, den armen Hansdampf zum Stolpern zu verleiten?
Er fühlte den Schritt seines Begleiters zögern; dann sah er, wie Andreas vorgestreckten Halses, mit aufgerissenen Augen die Insassen des herrschaftlichen Fuhrwerkes begaffte, das sich mittlerweile genähert hatte. Eine junge Dame saß darin, deren blasser Kopf von lauter brennenden Farben umwogt wurde. Ein ungeheures, hochrotes, gefiedertes Gebäude neigte sich mit Wiegen und Wippen auf das etwas heller getönte Haar, das locker gewellt um ihre Schläfen wehte. Sie trug über ihrem grünsamtenen Visitenkleid ein weißes Golf-Cape, gegen dessen steil aufgestellten taubengrauen Pelzkragen die feurige Pracht von Frisur und Federhut doppelt grell aufloderte. Zwischen den Knien hielt sie ein Spazierstöckchen mit silbernem Griff, und ihre weiß behandschuhte Rechte strich über das lange, seidene Fell eines großen Hundes, der, das kleine, bekümmerte Hyänenhaupt ergebungsvoll gesenkt, den Ehrenplatz neben ihr einnahm. Auf dem Rücksitz befand sich ein rotbärtiger, feingekleideter Herr. In ungeschickter Haltung, die auffallend stark entwickelten, mit gelbem Leder überzogenen Hände auf den Knien, musterte er stier und aufgeblasen die Fußgänger.
Andreas hatte den Rand seines Hutes angefaßt, doch ließ er ihn wieder los; er schien im Zweifel zu bleiben. Aber die Dame erhob das Lorgnon. Anstatt es ans Auge zu führen, schwenkte sie es in der Luft. Sie winkte mit beiden Händen und nickte, herzlich lächelnd, voll Eifer den Freunden zu. Unter dem gedämpften Hufschlag ihrer Rosse entschwand sie, wie in einer aufleuchtenden, verlöschenden Flamme.
Die jungen Leute sahen sich an. Köpf zuckte ein wenig mit der Wimper.
»Das war sie wohl, die kleine – die kleine …«
»Die kleine Matzke«, ergänzte Andreas feierlich. »Sie war es.«
»Sie haben übrigens, gelinde gesagt, verdutzt dareingeschaut, lieber Kollege.«
»Nun, ist das denn nicht auch ganz was Großartiges!«
»Das läßt sich allerdings kaum leugnen.«
»Ganz was Großartiges«, wiederholte Andreas, wie in abwesenden Gedanken. Während des Restes ihres gemeinschaftlichen Weges gab er nur durch kurze Ausrufe die Bewegung seines Innern zu erkennen.
»Nein, solche Range! Wie sie schon mit dem Lorgnon zu arbeiten versteht!«
»Meinen Sie, daß sie es ganz richtig anfaßte?«
»Und das alles in weniger als zwei Wochen!«
»Oh, keine Frau gehört einer bestimmten Klasse an«, bemerkte Köpf, ohne eine Miene zu bewegen. »Vornehmsten Anstand und tiefste Canaillerie, alles besitzen sie von Hause aus. Man zieht ihnen ein neues Kleid an, und flugs entdecken sie in sich die dazu passenden Sitten.«
»Und der Alte!«
»Er scheint sich mit den Gummirädern ausgesöhnt zu haben?«
»Und er war doch ein gefährlicher Revolutionär!«
»Jetzt tritt er offenbar für das Bestehende ein. Türkheimer wird ihn dafür gewonnen haben.«
»Wenn selbst die Genossen sich jetzt im Schlaraffenland ansiedeln!«
»Dann kann noch alles gut werden.«
Als sie sich trennten, versetzte Andreas, mit erneutem Erstaunen: »Die Equipage! Ich bitte Sie, Herr Kollege, und die rotgoldene Livree! Das Fuhrwerk war ja feiner als Frau Türkheimer ihres!«
»Schon deshalb, weil es noch ganz neu war«, erklärte Köpf.
Das Bild der kleinen Matzke, die mit Dogge und Lakai, Vater und Kutscher farbenprächtig und voll Pomp an ihm vorbeigeflogen war, das beunruhigende Bild ward Andreas keinen Augenblick mehr los. Er besuchte in diesen Karnevalstagen mehrere Ballsäle und verschönte seine Nächte durch Weingenuß und Liebe. Aber inmitten des festlichsten Rausches trat etwas Peinliches an ihn heran, etwas wie eine langweilige Pflicht. Bei ihrer ersten Begegnung, am Neubau in der Markgrafenstraße, hatte die kleine Matzke ihm, Andreas, herausfordernd zugelächelt. Türkheimer war damals nichts als ein Stoß vor den Magen zuteil geworden; heute aber besaß er sie. Es wäre das bequemste gewesen, sich dabei zu beruhigen, doch fürchtete Andreas hierdurch eine Einbuße an seiner Ehre zu erleiden. Durfte Türkheimer ihm, nur vermittelst der gemeinen Lockungen seines Geldes, ein Mädchen wegfangen, das sicherlich viel lieber die seinige gewesen wäre? Ein so tiefstehendes Individuum wie Türkheimer, ein beschränkter Bürger, ein sozialer Schädling und ein armer Diabetiker! Wenn er zu solcher Behandlung schwieg, dann hätte Andreas möglichenfalls jene zweideutigen Namen verdient, mit denen ihn die joviale Laune der Mächtigen im Schlaraffenland zuzeiten belegt hatte. Er wäre alsdann vielleicht eine Art Pulcinell gewesen, ein Spaßmacher und ein persönlicher Pflegling, ein magerer Zeitvertreib und ein liebenswürdiger Plauderer, der aus der Rolle fiel, wenn er etwas übelnahm. Aber er würde sich endlich rächen! Alle die wohlwollende Geringschätzung, deren er die Reichen beargwöhnte, vergalt er ihnen im voraus mit seiner grenzenlosen Verachtung. Beim Sekt, zu vorgerückter Stunde und in heiterer Damengesellschaft, häufte er auf Türkheimers Haupt eine Reihe der erniedrigendsten Bezeichnungen. Er erkundigte sich bei Werda Bieratz.
»Wo hat er denn seine knochige Liebe einlogiert?«
»Knochige Liebe ist gut. Du reißt auch egal Witze. Türkheimer hat sie doch möbliert, das weißt du noch nicht?«
»Wo denn?«
»Westend, Villa Bienaimee. Eigene Villa, mein Meiseken. Geld spielt keine Rolle.«
»Gleich ein ganzes Haus für das bißchen, was an ihr dran ist! Wie kommt die Göre zu soviel Glück?«
»Das frage ich ja gerade. Und so verschwuddert wie sie mit ihren siebzehn Jahren schon aussieht!«
»Und Bienaimee? Was meint sie damit?«
»Das ist ihr neuer Name, der gehört mit zu ihrer Brautausstattung. Achnes war ihr nicht mehr gut genug, sie ist fein geworden, du verstehst, und ekelt sich so leicht.«
Schon am nächsten Tage fand Andreas sich vor dem vergoldeten Gartengitter ein, in das mit barocken Lettern der wohlklingende Name des Besitztums hineingeschlungen war. Das Wohngebäude, klein, elegant und luftig, entdeckte der Besucher in der Tiefe des Parkes, hinter Veranden und gläsernen Orangerien versteckt, wie eine Stätte heimlicher Zärtlichkeiten. Er wechselte einen Blick mit dem Leidenschaft atmenden Moseskopf, der über der vierflügeligen Windfangtür aus der Mauer herabschaute; dann öffnete ein Diener in der Livree des Hauses Matzke ihm das Empfangszimmer.
Sein Herz klopfte heftiger; beim Anblick von so viel Reichtum vermochte er sich einer Regung von Achtung vor der Besitzerin zu seinem Ärger nicht zu erwehren. Er strich gespitzten Fingers behutsam über die hellgrüne Seide, mit duffem Atlas von derselben Farbe gestreift, womit Wände und Möbel bezogen waren. Er prüfte das Gewicht der Stühle: schwere Mahagonigestelle von weit ausladenden Formen und mit echten Bronzebeschlägen. Er ließ sich einen Augenblick im Winkel vor dem großen Tisch nieder. Bronzene, geschweifte Füße trugen die dreieckige Mahagoniplatte, in deren Mitte, auf eingelegter grüner Seide, ein hoher Diskoswerfer aus Bronze seine Muskeln zeigte. Bronze, Mahagoni und grüne Seide: alles verkündete den schweren, beruhigten Geschmack altgewohnter Wohlhabenheit. Nichts war zu spüren von den aufdringlichen Launen eines Emporkömmlings, und nichts von der reklamemäßigen Wollust in der Häuslichkeit einer Hetäre. War es möglich, daß hier ein Wesen namens Matzke wohnte?
Andreas trat vor den Nippesschrank; hinter den Scheiben blitzten lauter Kleinodien: Ein Omnibus in Filigranarbeit mit silbernen Pferdchen, eine goldene Kinderklapper, eine mit Brillanten übersäete Bonbonniere. Venus, voll und schlank in einen Onyx geschnitten, hielt sich vor das Gesicht einen Spiegel, der eine große Perle war. Indes er sich vor dem Genius Claudius Mertens’ verneigte, ging die Tür auf. Die Herrin dieses Raumes hüpfte lebhaft herbei, um ihm die Hand zu schütteln wie einem Gefährten ihrer Jugend. Das feurige Haar starrte ihr noch immer ebenso zwanglos um die Schläfen wie damals, vor dem Neubau in der Markgrafenstraße; dafür aber rauschte jetzt, weit hinter ihr, die Schleppe eines himmelblauen Schlafrocks mit Applikation von weißen, goldumrandeten Rosen, der unten geöffnet den rosaseidenen Ausschnitt eines intimen Gewandes sehen ließ. Die kleine Matzke machte auf ihren Gast den unmittelbaren Eindruck, als sei sie demoralisiert vom Glück, als bewege sie sich haltlos und vor übermächtigem Erstaunen immer zwischen Lachen und Weinen inmitten eines Zauberfestes, in das sie hineingeraten war, sie wußte selbst nicht wie.
»Guten Tag«, sagte sie. »Wie bin ich erfreut, mein Herr, Sie wiederzusehen. Wir haben doch schonst neilich den Vorzug unserer Bekanntschaft genossen.«
Andreas verbeugte sich achtungsvoll.
»Es macht mich glücklich, daß Sie sich meiner erinnern, Fräulein Bienaimee.«
»Un ob. Kokott hat mir auch verraten, wer Sie sind. Meinen hohen Gönner wollte ich lieber nich nach Ihnen fragen. So ’n älterer Knickstiebel, man weiß, wie die manchmal sind, er könnte es falsch auffassen. Sie verstehn?«
»Soviel Güte, liebes Fräulein Bienaimee …«
Ihr Antlitz verklärte sich dankbar, sooft er ihren neuerworbenen Namen aussprach. Sie bemerkte: »Ich habe sogar bestimmtest darauf gerechnet, daß Sie hier bei mir in meiner Villa Bienaimee antanzen würden, und zwarstens balde. Sie sind doch ’n berühmter Dichter, un so was muß man sich von nahebei besehen, es gehört zur Bildung. Türkheimer will nämlich, daß ich mich bilden soll.«
»So, das verlangt er auch noch?«
»Er ist ganz närrsch drauf. Nich wahr, es is zu vill? Denn was er sonst noch von mir will, das is ja gerade schon eklig genug.«
Sie unterbrach sich, gewandt wie eine Weltdame.
»Aber wozu der ganze Salm? Platzen Sie sich doch auf einen von meine grünen Fotöchs.«
Er sah entzückt umher.
»Sie sind wirklich reizend eingerichtet, Fräulein Bienaimee. Solch ein vornehmer Geschmack, wie man ihn in den besten Häusern nicht häufig antrifft.«
»Oh, das is noch gar nischt. Ich will Ihnen nachher was zeigen, daß Ihnen die Oogen übergehen sollen. Haben Sie sich schon meine Elektrizität besehen?«
Sie lief an die Konsole, die vier kindlich geformte, durchsichtige Mädchengestalten aus Alabaster trug. Auf hoch erhobenen Händen hielten sie weiße Blumenkelche, in denen die kleine Matzke das Licht entzündete.
»Hier is nämlich egal alles elektrisch«, erklärte sie. »Un nich, daß das Ding da stehenbleiben muß. Bewahre, ich kann es wegschleppen, wohin ich will.«
Sie eilte mit einer der Lampen an den Tisch und machte sich daran, den Strom zu schließen, zu öffnen und wieder zu unterbrechen. Sie tat es mit leisem Finger, voll Überlegung und nicht ohne Ängstlichkeit, den Oberkörper über die Mahagoniplatte gelegt, die Lippen aufmerksam aufeinandergepreßt und ganz ihrer rätselvollen Beschäftigung hingegeben.
»Was sagen Sie nu?« fragte sie. »Und wenn Sie sich denken, da drüben geht es nich! Allemal geht es!«
Und sie hopste, die Schleppe zusammengerafft, über den am Boden liegenden Draht hinweg, daß es aussah, als spränge sie noch über die Corde, mit derselben Anmut hier auf dem bunten Smyrnateppich wie ehemals im Rinnstein. Einmal versagte das Spielzeug; die Flamme blieb aus.
»Du Aas«, versetzte Bienaimee, doch verbesserte sie sich sofort. »Ich wollte sagen, es geht doch nich allemal. Na, laß ihm.«
Sie stellte die Blumenträgerin beiseite und kehrte zu Andreas zurück.
»Sagen Sie mal, un Ihr Freund, der is wohl auch Dichter?«
»Welcher Freund?«
»Tun Sie man nich so. Der, wo Sie neulich Königgrätzer Straße mit lang gegangen sind, als Sie noch zugesehen haben, wie ich mit alle meine Hoppheikens ausgefahren bin.«
»Ach der?«
Es befremdete ihn einigermaßen, daß sie Köpf überhaupt bemerkt und ihn im Gedächtnis behalten hatte. Er äußerte: »Ich kenne ihn nur oberflächlich, wahrscheinlich dichtet er auch, ist aber wohl nur unbedeutend.«
»Wie heißt er denn?«
»Wie er heißt? Ja, liebes Fräulein Bienaimee, Sie fragen mehr, als – Ich verkehre nämlich mit so vielen verschiedenen Leuten, und er gehört gar nicht mal der exklusiven Gesellschaft an, in der ich mich gewöhnlich bewege.«
Sie sah ihn verschmitzt an und verließ den Gegenstand.
»Aber ich lasse Ihnen hier ins ungelüftete Zimmer hinsitzen«, rief sie, vom Stuhl aufschnellend. »Nu muß ich Sie wirklich in meine gute Stube nötigen.«
Sie zog die Portiere von der Mahagonitür; die obere Hälfte war ein Spiegel, durch Messingstäbe in kleine quadratische Scheiben geteilt. Bienaimee blieb davor stehen, blinzelte ihrem Bilde zu und schoß im Glase ein schelmisches Lächeln auf den hinter ihr wartenden Andreas ab. Dann erschloß sie die Pforte zu ihrem Prunkgemach. Unter feierlichem Schweigen betrat sie die Schwelle; sie räusperte sich und sah ihn mit Spannung an. Er vermochte sein Urteil nicht sogleich zu formen.
»So etwas kenne ich allerdings noch gar nicht«, sagte er endlich, hingerissen wider Willen. Sie atmete auf.
»Nich wahr, nu imponiere ich Ihnen erst? Und was meinen Sie denn zu die nacklichen Geschöpfe da oben?«
Die ovale Decke wurde reich belebt von rosigen Leibern, die zwischen schwankenden Blütengewinden durch den reinen Azur schwammen oder, auf großen schimmernden Muscheln gewiegt, einander in den Armen ruhten. Sinnreich verkürzt, zeigten sie bald nur eine Schulterpartie, bald allein die Hüften. Vereinzelte Schenkel glitten schwellend aus verschlungenen Gliedermassen hervor; Haarsträhnen, man wußte nicht, von wessen Kopfe, flatterten wie goldene Banner durch die Luft.
»Es is gewiß vill schwerer, als es aussieht«, bemerkte die kleine Matzke, mit fühlbarer Ehrerbietung. Andreas kehrte zu der Gesamtwirkung des Raumes zurück.
»Und wie hier alle die roten Farben zusammengestimmt sind! Haben Sie das alles ganz allein gemacht, Fräulein Bienaimee?«
»Sie Schäker. Sie wissen doch ganz genau, daß ich in solche Sachen von Kieks und Kaaks nischt weeß. Nee, wer mir das alles angeschafft hat, das is ein Mann namens Liebling, ’ne Seele von Mensch.«
»Er ist mein guter Freund.«
»Na, denn wissen Sie ja, wie er aussieht in seinen langen schwarzen Dreckstipper. Bloß daß er es immer mit Moral hat und einen mit Redensarten besoffen macht. Aber auf die Jroschens is er durchaus nich, und wozu auch, denn es sind ja nich seine.«
»Es war mir allerdings schon bekannt, daß mein Freund Liebling einen hochgebildeten Geschmack besitzt.«
Die Hände auf dem Rücken, in der Haltung eines Kenners, musterte Andreas die Ausstattung des Zimmers. Wandhohe Spiegel, aus deren geschliffenem Glase Kandelaber sich reckten gleich kristallenen Armen, lagen eingelassen in den Tapeten aus bordeauxrotem Damast. Dazwischen warfen die erdbeerfarbenen Vorhänge der fünf Fenster ihre seidenen Falten. Den Erard-Flügel, in der Mitte des Parketts, bedeckte eine Stickerei von schillernden Sträußen auf pfauenblauem Grunde. Die tanzenden Figuren einer großen geschnitzten Elfenbeinschale neigten sich lächelnd über ihren mattgelben Widerschein in dem dunkeln Spiegel eines Ebenholztisches. Wenige Möbel, kleine vergoldete Sofas und Sessel, standen an den Enden des Gemaches und vor dem Kamin, dessen Sims den Nacken weißmarmorner Jünglinge drückte. Droben wölbten emaillierte Vasen, mit Messing eingelegt, ihre orientalischen Bäuche, und es hingen in zart getönten Rahmen zwei spanische Gemälde darüber: eine Kirchenszene, bei der weiße Schleier und schwarze Augen, Orangenblüten, Mosaiken, Meßgewänder und Myrtenkränze in Kerzenschein und Weihrauchwolken durcheinanderflirrten, und eine Gitarrespielerin von weitgehender Natürlichkeit; an ihrem netzartigen Kleide unterschied man jeden Faden.
»Un scheen bunt is es!« äußerte die kleine Matzke, die ernsthaft, einen Finger im Mundwinkel, davor verweilte. Andreas deutete auf die Lücke zwischen den beiden Bildern.
»Da fehlt wohl noch etwas?«
Sie nickte.
»Es kommt noch was Extrafeines.«
»Was denn?«
»Sie ahnen es nich. So ’n Ding, wo ich mir schon immer nach aufgehängt habe, als ich noch ’n Wurm war und eingesegnet wurde.«
Sie seufzte leise und schüttelte den Kopf. Er suchte sie aufzuheitern.
»Musizieren Sie ein wenig, Fräulein Bienaimee?«
»Sie wollen woll wieder ulken?«
Mit einem Satz war sie am Flügel, sie stemmte die Tafel in die Höhe und riß an den Saiten, daß sie schrillten. Dann schlug sie die Tasten an; sie entdeckte, eine nach der andern, sechs Noten von »Heil dir im Siegerkranz«.
»Hat ihm schon«, bemerkte sie. »Es stimmt. Nu zeigen Sie aber mal selber Ihre Kunststücke, und was Sie mang den feinen Leuten gelernt haben. Denn Sie sind doch soviel länger bei als ich.«
Andreas errötete. Sogleich fiel er ingrimmig über die Klaviatur her. Er haschte nach melodiösen Erinnerungen, fand nur eine Polka und begann zu hämmern. Er entlockte dem Instrument ein so wütendes Getöse, daß die Scheiben klirrten und die Armleuchter gläsern klingelten. Ein Knistern und Rascheln kam aus den Falten der seidenen Vorhänge, eine Tür sprang auf, und die kleine Matzke ward davongefegt wie im Sturm. Sie drehte sich, hingerissen von der jähen Tobsucht einer Mänade, die Arme in der Luft, den Kopf im Nacken, die roten Haare verweht über das käseweiße Gesicht, mit geschlossenen Augen, weit offenem Munde und umrauscht von der Schleppe ihres Schlafrockes, die wie ein riesiges blaues Gefieder fortwährend aufflatterte und sich senkte. Ein blinder Zusammenstoß mit dem Ebenholztisch, der die Schale aus Elfenbein von ihrer Staffelei herabwarf, rief die Eigentümerin der Villa Bienaimee aus ihrem Taumel zurück. Sie blieb stehen, eine Hand aufs Herz gepreßt, keuchend und noch halb bewußtlos, und sie flüsterte, selig lächelnd: »Det war doch mal ’n Jefiel.
Das hätten wir genossen«, meinte sie, ein wenig erholt. »Nu geht es erst los.«
Durch das Speisezimmer, wo silbernes Prunkgerät über der dunkeln Täfelung und auf den Borden des geschnitzten Buffets sein weißes Licht verbreitete, und durch einen Salon mit eichenen Säulen, bernsteingelben Samtmöbeln und blühenden Pomeranzenbäumen am Fenster gelangten sie zur Treppe. Droben verneigte sich ein Lakai. Bienaimee nickte ihm zu.
»Das is mein Diener Friedrich«, sagte sie. »Is er nich ein wirklich scheener Mann? Er könnte mir gefährlich werden. Aber Anton, den sollen Sie auch noch zu sehen kriegen, er hat noch mehr Forsche. Anton ist nämlich mein Kutscher.«
»Haben Sie hier auch schon reine gemacht?« fragte sie, mit einem Anflug von Strenge. Doch wandte sie sich sogleich wieder Andreas zu.
»Friedrich stäubt nämlich alle disse ollen Klamotten ab, er is eklig geschickt uf de Fingern un kann ’ne Seifenblase anfassen, ohne daß se kaputt geht. Ich selbst rühre natürlich nischt an.«
Dabei wies sie nach den zierlichen Bronzen, nach den Meißener und Sevres-Figürchen hin, die den dunkelrot dekorierten Korridor entlang auf den eingelegten Lederplatten kleiner metallener Tische standen.
Vor der Schwelle des Schlafgemaches sagte sie: »Immer rin ins Vergnügen.«
Aber Andreas schrak zurück; es stand jemand vor ihm, eine glatte speckige Matrone mit geöltem schwarzen Scheitel über der milchweiß geschminkten Stirn, und Arme, Brust und Bauch ganz beladen mit funkelnden Schmelzperlen. Sie grüßte gefällig, während die kleine Matzke erklärte: »Disse Dame is Frau Kalinke, meine Haus- und Jardedame, Sie verstehn? Frau Kalinke, dies is ein genauer Freund un Bundesbruder von Türkheimer. Mein Gönner schickt ihn mir her, daß er sich meine Villa Bienaimee soll besehn.«
Die Matrone erwiderte: »Ei ei, Kindchen, geben Sie sich man keine Mühe, Ihre Kalinke zu bemeiern, sie weiß doch, wie die jungen Leute sind und was ihre Herzchen für Wünsche haben.«
Sie seufzte ein wenig, drohte schalkhaft mit dem beringten Finger und drückte sich, die rote Wand entlang, unter dem Geklimper ihres falschen Jett, voll diskreten Eifers beiseite.
»Die gute Kalinke«, meinte Bienaimee, »ich muß ihr bißken was schenken für das gute Herz, was sie hat. Aber wie finden Sie Türkheimer, daß er mir so eine wie die Kalinke als Jardedame mitgibt? Nu tanzen ihm zweie auf ’m Kopf rum, anstatt sonst bloß eine, das hat er davon. Un son Mann soll auch noch gerissen sein. Hat sich was. Taprig is er un nischt weiter, das können Sie mir glauben.«
›Merkwürdig‹, dachte Andreas. ›Vor den Augen eines solchen Mädchens vereinfacht sich alles. Der größte Mann wird dumm bei ihr. Respekt hat sie vor keinem von uns.‹
Diese Beobachtung stimmte ihn ärgerlich; er versetzte ziemlich kühl: »Sie haben es hier ja recht gemütlich.«
»Nich wahr? ’ne ganze nette Schlafgelegenheit.«
Auf der blauen Seide, womit der Raum ausgeschlagen war, schwammen schwarze Bilderrahmen wie große Insekten im sommerlichen Firmament. Ein Spiegel in mächtigem Ebenholzgestell erhob sich mitten auf dem goldenen Gewebe des Teppichs. Der Kamin aus nero antico trug eine Gruppe bronzener Ringer.
Unter seinem Baldachin, zwischen den schweren, schneckenförmig gewundenen Säulen war das Bett ein wenig geöffnet. Andreas gewahrte inmitten der blauseidenen Falten etwas Weißes, ein wenig Linnen, das zarte Abdrücke unlängst umfangener Glieder zu bewahren schien. Doch erzeugte der monumentale Prunk eine Kälte, die alle innigeren Regungen ausschloß. Sicheren Schrittes, ohne das listige Blinzeln seiner Begleiterin zu beachten, durchmaß der junge Mann das Gemach.
Nebenan lag grünliche Dämmerung. Eine kristallene Ampel hing von der Decke; die hellgrauen, mit goldenen Leisten umzogenen Mauern wurden durch kein Fenster unterbrochen. Sie bildeten ein Achteck, dessen Flächen sich unter dem Druck der Herrin öffneten. Andreas fuhr zusammen, als er ihre Garderobe erblickte. So eingebürgert er sich im Schlaraffenland fühlte, es hatte dennoch bisher keine der Bewohnerinnen ihm ihren Kleiderschrank erschlossen. Und der weibliche Luxus, die Sorglosigkeit, mit der irgendein Wesen, vielleicht ein häßliches, das Vermögen einer Familie auf dem Leibe trug, besaß für ihn einen zehrenden Reiz.
Er strich mit leisem Finger über eine Atlasrobe, ließ einen Sammetärmel durch seine Hand gleiten und betastete neugierig eine Spitzentaille. Er fragte sich, woher dies alles in solcher Eile beschafft worden sei. Es waren möglichenfalls die Toiletten Lizzi Laffés; hatte Türkheimer sie für die kleine Matzke um die Hälfte verengen lassen? Sie schob eine letzte Kulisse zurück: »Disse mieserigen Dinger da, die muß ich anziehen, wenn mein Gönner auf Kaffeebesuch kommt, un denn muß ich ihn was vortanzen.
Das glauben Sie woll nicht?« setzte sie hinzu. »Na, was son Krippensetzer verdorben is, da macht sich ’n einfacher Mensch überhaupt gar keine Begriffe von.«
Er vermied vorsichtig die Berührung der seltsamen, hemdartigen Kleidungsstücke, deren Corsage nur ein schmaler Gürtel war, und die, in tausend gerade Fältchen zerknittert, bei jedem Lufthauch wie Spinngewebe hin und her wehten. Ihre blassen Nuancen, mit goldnen und silbernen Körnchen beworfen, berückten ihn. Er mußte an den schmunzelnden Türkheimer denken, der den lasziven Verrenkungen eines weißen, von schimmernden Fähnchen und roten Haaren umflatterten Geschöpfes zuschaute. Es ward ihm ein wenig schwül zumute. All die beunruhigende Weiblichkeit, die in diesen auf Verführung berechneten Hüllen verborgen schien, drang aus den Schränken hervor, von allen Seiten auf ihn ein. Hinter ihm kicherte die kleine Matzke. Seine Gelassenheit war etwas beeinträchtigt, als er weiterging.
»Hier mache ich meine Toahlette«, erklärte Bienaimee.
»Was meinen Sie zu meine Badewanne?«
»Höchst originell«, sagte er.
»Sie haben ja was Eisiges, Sie! Ich denke immer, jeder, den ich meine Badewanne zeige, muß dreimal hurra schreien un auf ’n Puckel fallen.«
In der Mitte des großen, mit farbigen Kacheln ausgelegten Zimmers öffnete sich das Bassin. Es hatte die Form einer Muschel, in deren rosige Tiefe drei Stufen aus duffweißem Marmor hinabstiegen. Jenseits des goldenen Geländers, von dem das Becken eingefaßt wurde, zwischen den Fenstern aus Kathedralglas und hinter hellen, gestickten Vorhängen standen lange weißlackierte Tische, auf denen die elfenbeinernen Gegenstände sich häuften.
»So ’ne Masse Kämme«, äußerte die kleine Matzke. »Un denn die Dosen, un die Bürschten, un die Quaste, un die Schalen, un die Tiegel, un die Büchsen, un die Pinsel, un die Flaschen, un denn all die Mätzken, wo ich gar nich weiß, wie es heißt. Un nich mal Kalinke weiß es, un sie is doch schon lange in dem Geschäft.«
»Das da sind wohl Parfüms?« fragte Andreas, und er wies auf die gläsernen Borde, auf denen kristallene Flakons sich aneinanderreihten.
»Stimmt«, erwiderte sie. »Un ich schmiere mir mit alle disse Wohlgerüche egal die Haut voll. Wenn ich so in den warmen Wasser rumspaddele, denn muß Kalinke mir erst aus eine un denn aus ’ne andere Flasche besprützen. Denn rieche ich vorne meinswegen so un hinten wieder anderscht. Es is sozusagen großartig.«
»Ist es auch«, sagte er, ganz gedankenlos. Die vermischten, schweren Düfte des überheizten Raumes stiegen ihm zu Kopfe, seine Stirn rötete sich. Die von Bienaimee soeben ausgemalte Szene erregte seine Einbildung, er fühlte sich zu einem Handstreich aufgelegt.
»Un scheen warm is es hier auch«, versetzte sie. Die Zungenspitze im Mundwinkel, prüfte sie ihn mit ihrem lasterhaften Seitenblick.
»Nu jlupschen Sie aber auffallend«, bemerkte sie.
Plötzlich hatte er den Arm um ihre Hüften geworfen, er riß sie an sich und suchte mit den Lippen ihren Hals zu erreichen. Aber sie bog den Oberkörper weit hintüber, und mit demselben schmerzhaften Stoß vor den Magen, der Türkheimers erste Huldigungen belohnt hatte, entwand sie sich ihm.
»Hände weg, oder ich kratze!«
Er war bestürzt.
»Aber Fräulein Bienaimee, so habe ich es ja gar nicht gemeint. Sie glauben doch nicht …«
»Sie werden mir doch nich sagen, was ’ne Sache is. Sie haben mir ja so gewiß die schuldige Achtung versagen wollen. Es is Ihnen aber vorbeigelungen, Kleiner.«
Sie tat einige würdevolle Schritte, indes sie sich mit einer Puderquaste das Gesicht betupfte. Unversehens stäubte sie ihm den ganzen Inhalt der Schachtel über die Stirn.
»Sie scheinen es nötig zu haben«, erklärte sie. »Daß Sie sich man wieder erholen!«
Sie zog ihn, während er sich noch die Kleider abklopfte, aus der Tür.
»Nu verfügen wir uns aber in mein Budoah, da wird sich anständig betragen. Sie verstehn?«
Er fand sie jetzt ganz besänftigt, sogar entgegenkommend, und er erlaubte sich die Frage: »Sie wollen also nicht?«
»Ich habe ja nischt gesagt«, erwiderte sie, voll Güte. »Man bloß kalt Blut un warm angezogen, das is die Hauptsache. Übrigens sind wir zwei beide gewiß dazu bestimmt, uns noch viell näher kennen- un schätzenzulernen.«
Mit Befriedigung sagte er sich, daß seine Werbung so gut wie genehmigt sei.
»Hier ist es wirklich gemütlich«, meinte er, angeheimelt von der Stimmung des matt erhellten Wohnzimmers. Auch hier hatten die hohen Fenster kleine, in Blei gefaßte Scheiben. Bequeme Samtsessel, durch bunte Handstickerei in Felder geteilt, standen auf weichem, rotem Teppich um bronzebeschlagene Tische. Von der silbergrauen Stofftapete herab lächelte, selbstzufrieden und wohlwollend, das lebensgroße Bildnis Türkheimers.
Als sie, in zwei niedrigen Sofas versunken, einander gegenübersaßen, sagte Bienaimee: »Tja, tja.«
Er sah sie erwartungsvoll an. Sie wiederholte: »Tja, tja. Wie die Natur spielt. So ’n Schenie, es kommt von oben.«
»Wen meinen Sie?« fragte er, vor Vergnügen errötend. Er flößte ihr also dennoch Respekt ein!
»Ihr Freund, wo Sie neilich Königgrätzer Straße mit lang gegangen sind, muß ein wirklich großes Schenie sein.
Oh, lassen Sie man!« rief sie lebhaft, als er, tief enttäuscht, einen Einwand versuchte. »Sie sind ja ’n ganz feiner Mann un haben auch was Äußerliches, aber wenn Sie meinen, Ihr Freund is als Dichter man unbedeutend, denn sage ich Ihnen: Scheibe, mein Herzken. Bei Ihnen liegt es ja gar nich drin.«
»Aber bei Ihnen?« erwiderte er gekränkt. Sie lehnte vornehm ab.
»Keine Deutlichkeiten, bitte mein Herr. Ich verstehe mich auf so was, das können Sie mir glauben, un was ein Schenie is, das erkenne ich schonst ganz von weiten. Alleine, daß ihm sein schwarzer Rock ein bißken zu enge is, daran sehe ich es schon. So was Ärmliches und dabei so ’ne edle Haltung, als ob er zu euch lackierte Affen spräche: Ihr könnt mir mal ’n Fennig wechseln.«
Sie senkte die Stimme.
»Ich habe nämlich so ’n Riecher, daß er woll von vornehmer Abkunft könnte sein.«
»Sie glauben wirklich?«
»Ich habe meine Gründe. Er hat nämlich ’ne genaue Ähnlichkeit mit einem scheenen Prinzen, den ich mal gekannt habe, ganz in blau Atlas mit große Puffärmel und blauweiß gestreifte Trikothosen. Es war der scheenste Mann, den ich je hab gesehn, und nie, nie kann ich ihn vergessen.«
Andreas betrachtete sie. War das dieselbe kleine Matzke, die über den elektrischen Draht wie über eine Corde gehüpft war, die nach seiner Polka getanzt und ihn mit Poudre de riz beworfen hatte? Sie schwärmte, mit aufgerissenen, wässerigen Augen, ein einfältiges Lächeln auf dem Gesicht.
»Wo haben Sie ihn denn kennengelernt?« fragte er.
»Es war in meiner frühsten Jugend, un ich war ’ne kleine Jöhre, un wenn Mutter bei die Leute zum Waschen ging, denn nahm sie mich mit. Un einmal, in eine Waschküche bei einen Geheimrat, da habe ich ihn gefunden. Er war nämlich auf ’ne alte Seifenschachtel aufgemalen, die da ins schmutzige Wasser rumtrieb. Ich kleines Wurm verliebte mich zum Sterben in den scheenen Prinzen un wollte ihn haben. Aber ’ne andere, Bertha hieß sie, nahm ihn mir weg. Ich hasse ihr noch heute.«
Sie schien in ihren Erinnerungen verloren. Er ermunterte sie.
»Und Ihr Seifenschachtelprinz und mein Begleiter von neulich sehen einander ähnlich?«
»Ich sage es ja. Wie zwei faule Eier. Un bloß, daß Ihr Freund Puffärmel und blauweiße Trikothosen anhaben muß.«
»Das gehört allerdings zum Märchenprinzen.«
»Sehn Sie woll? Drum habe ich ja auch ’ne klassische Idee un will hier in meiner Villa Bienaimee ein Maskenfest veranstalten, wozu ich Türkheimern seine Bande und den ganzen Klimbim zusammenlade. Denn sollen sie sich meinen Prinzen besehen, un was er scheen is. Wie finden Sie diß?«
»Erstaunlich.«
»Ich habe meine klassische Idee nämlich gerade wegen Ihrer gekriegt, un weil Sie mir in meiner guten Stube was vorgespielt haben. So ’n scheener Tanzboden, habe ich da gedacht. Hier muß er mit mir polken. Es gibt doch ein Erdenglück.«
Sie war plötzlich bei ihm auf dem Sofa; sie stieß, dicht an ihn gedrängt, ihre Hüfte gegen die seinige.
»Nu sein Sie mal nich so«, bat sie, »und sagen mir mal, wie heißt er, un wo wohnt er?«
»Ich weiß es nicht.«
»Ich schenke Ihnen auch was.«
»Wie der Kalinke?«
»Natürlich was Feineres.«
»Aber ich weiß es nicht.«
Sie seufzte.
»Denn stimmt es erst recht. Gewiß weiß keiner, wer er is. Das ist das Geheimnisvolle un die vornehme Herkunft. Mir wird ganz andersch, wenn ich bloß an denke.«
Mit eiligem Entschluß lief sie an den Schreibtisch, öffnete die gepunzte Ledermappe und kehrte mit einem Papier zu ihm zurück.
»Ich habe schon einen Brief an ihn geschrieben, den solln Sie ihn geben, wenn Sie ihn das nächste Mal sehen. Sie tun mir doch die Güte?«
»Sehr gern«, sagte er, mit kalter Wut.
»Ich wußte es ja. Sie sind ’n netter Mensch. Un nu müssen Sie mir auch noch die Schreiberei durchlesen. Sie verstehn, vielleicht stimmt es nur teilweise, und wie komme ich ihm vor, wenn Schreibfehler drin sind.«
»Ich verstehe.«
»Warten Sie, ich brenne Ihnen meine Elektrizität an, es is hier man ’n bißken duster.«
Sie rückte den Tisch mit der Lampe in seine Nähe und schob ihm eifrig das Rückenkissen zurecht. Er durchlief flüchtig ihre sorgfältig stilisierten Linien. Voll empörter Gedanken biß er sich auf den Schnurrbart. Darum also hatte sie ihn durch die Üppigkeit ihres Schlafgemaches entnerven wollen, darum ihn den Kopf in ihren Kleiderschrank und in ihre Badewanne stecken lassen! Er sollte, zum Liebessklaven geworden, der Austräger ihrer zärtlichen Botschaften sein. Aber sie unterschätzte ihn. Er, der die Rivalität eines Türkheimer nicht scheute, würde wohl auch einen zu Taten unfähigen Gemütsmenschen wie Köpf aus seinem Gehege zu vertreiben wissen. ›Schlaue Kröte‹, sagte er heimlich, ›du wirst niemals an der Brust deines Märchenprinzen ruhen. – Oder vielleicht doch?‹ setzte er hinzu. Ein teuflischer Plan begann sich in ihm zu formen. Dazwischen drangen einzelne Sätze der kleinen Matzke in sein Bewußtsein.
»… und sind Sie gewiß edel und hochherzig, was mich ungemein freuen würde.
Sie haben es, geehrter Herr, in so kurzer Zeit verstanden, sich meine Neigung zu erringen, und sind Sie darum gewiß von vornehmer Geburt, ohne es selbst zu wissen. Dies kommt häufig vor, und werden Sie es schon noch erfahren.
Arm und edel wie Sie bin ich früher auch gewesen und jetzt in meinem Fett durchaus nicht stolz geworden.«
Andreas sagte sich, daß alles da sei: die Gossensentimentalität des guten Mädchens und ihre volkstümliche Kolportagephantasie. Kaum auf den Kissen ihres Landauers, mit Kutscher, Dogge, Vater und Lakai, verliebte sie sich voll Rührung in den ersten abgetragenen Gehrock, der ihr begegnete – und verwandelte ihn ohne weiteres in blaue Seide.
Bienaimee fuhr in der Anrede ihres Ideals fort.
»Wenn Sie unsereinen auf Jummiräder fahren sehen, denn rufen Sie gewiß aus: ›Die leben, die genießen!‹ was ein Kopist immer sagte, der Zimmerherr bei uns gewesen is, als Mutter noch lebte, wenn er nachts aus der Destille kam und die Herren in der Friedrichstraße mit die Mädchen gehen sah. Womit ich Sie jedoch nicht mit jenem Elenden auf eine Stufe stellen will. Bloß daß Sie sehen sollen, daß die, welche leben und genießen, auch ein Herz für die Armut haben, un hege ich eine unzweifellos christliche Gesinnung, obschonst daß ich keine Frömmlerin bin un kenne keinen Vanatismus wie gewisse Leute, un die Faffen hasse ich und bin wirklich zu aufgeklärt, als daß ich …«
Die Schreiberin verlor sich in entbehrliche Einzelheiten. Zum Schlüsse brachte sie die Einladung zu ihrem über acht Tage stattfindenden Maskenfeste vor.
»Ich rechne also allerbestimmtest auf Sie, und bin ich, mit besten Dank im voraus, Ihre treuergeben Bienaimee Matzke.«
»Sie verstehn sich mit großer Sicherheit auszudrücken«, sagte Andreas, indem er sich erhob.
Sie erwiderte: »Das freit mir ungemein. Un denn besorgen Sie mir den Brief und bringen nächsten Mittwoch ihn samt Puffärmel und Trikots hier in meine Villa Bienaimee?«
»Ich werde keine Zeit verlieren.«
Er verabschiedete sich förmlich und fuhr sogleich zu Herrn Behrendt, wo er sich das von der kleinen Matzke beschriebene Kostüm bestellte. Er hoffte dadurch, daß er ihr die volle Seligkeit ihrer Kindheitserinnerung vor Augen führte, Köpfs fadenscheinigen Leibrock in Vergessenheit zu bringen. Es war sein Plan, ihrem Traumbilde seine eigenen Reize unterzuschieben. Warum sollte sie schließlich nicht ebensogut ihm wie einem andern eine diskrete Prinzlichkeit zutrauen?
Andererseits kränkte es ihn, ein Ideal verkörpern zu müssen, das in einer Waschküche, aus einer Seifenschachtel entsprossen war. Aber behufs Gewinnung eines Proletarierkindes hieß es nun einmal, zum Gemütsleben des Volkes hinabsteigen. Mit klarem Kopfe und nicht mehr unter dem Einflusse der Düfte und der luxuriösen Verführungen ihres Heims, gestand Andreas sich ein, daß die kleine Matzke eigentlich gar nicht sein Geschmack sei. Was den dürftigen jungen Mann im Schlaraffenland entzückt hatte, war die Fülle, die üppige Gewöhnung von Jugend auf, ein Fleisch, feiner als es anderswo erhältlich war, genährt mit zarten Gerichten, von teuren Essenzen durchtränkt, und unermüdlich gepflegt und erhalten durch Hilfsmittel von ungeahnter Künstlichkeit. Dagegen hatte aus dem Loch an der Schulter von Achnes Matzke nichts anderes hervorgesehen als die verkümmerte Haut der armen Leute. Vor ihrem fünfundzwanzigsten Jahre würde sie Runzeln bekommen. Aber diese magere und schon den Verfall ausatmende Jugend hatte eine letzte Flamme entzündet in dem erloschenen Auge Türkheimers! Es mußte etwas dahinterstecken. Das Wort des großen Mannes, »wieviel so einem jungen Menschen doch noch abgehe«, erregte Andreas’ Ehrgeiz. Er betrachtete es als ernste Pflicht, durch den Besitz Bienaimees seine weltmännische Erziehung zu vervollkommnen.
Als er zum ersten Male im blauen Atlaswams mit ungeheuren, gelbgeschlitzten Kanonenärmeln, in gepufften Höschen und blauweißen Trikots vor seinen Trumeau trat, da stutzte er und war geblendet. Er stülpte das Barett aus blauer Peluche auf die lange blonde Lockenperücke, befestigte den Degen und legte das blausilberne Mäntelchen um. Herr Behrendt hatte die reichsten Stoffe gewählt; die Brillantagraffe an der weißen Reiherfeder war echt. Andreas sagte sich, daß der Märchenzauber wohl kaum weitergetrieben werden könne, und daß in Zeiten bunter Sinnenfreude schwerlich schönere Menschen auf Erden gewandelt seien.
Am Abende des Festes verspätete er sich, weil der Gedanke an Adelheid ihn befiel. Erschüttert sank er auf einen Stuhl. Dies war also die schon längst vorhergesehene Stunde, in der, den höchsten Zielen zuliebe, der Künstler die verbrauchte Geliebte von sich wies. Ah! Das weinende Weib, das sich an ihn klammerte, würde ihn nicht zurückhalten. Er nahm sein weiches Bärtchen noch einmal in das heiße Eisen und brach auf.
Das Vorzimmer stand leer, aber zwischen den roten Damasttapeten des Salons schien sich eine unerhörte Menge kostbar gekleideter Gäste zu bewegen. Die einander gegenüberliegenden Spiegel täuschten dem Auge eine Flucht von Sälen vor, in denen gleißende Seide, durchsichtige Gaze und blasse Spitzen auf strotzendem Sammet unabsehbar dahinfluteten. Die schimmernden Nacken der Frauen über den schweren Farben ihrer Gewänder, der Glanz ihrer Augen und alle ihre Juwelen mit blauen, gelben, roten, grünen und violetten Gluten tauchten unter in einer blitzenden Ferne wie in einem Riesenstrauß elektrisch sprühender Blütenkelche.
Er suchte, von der Schwelle aus, nach der Hausfrau. In einem Kreise drehender Paare, an der Seite eines dicken Herrn, dem sie eben die Zunge ausstreckte, verharrte sie in ungewohnter Reglosigkeit. Andreas durchschaute bald den Grund davon. Um ihre halbnackte Büste schlang sich nur ein Silbergürtel; vom Magen abwärts aber stak die kleine Matzke in einem mit glänzenden Schuppen bedeckten Futteral, dessen Verlängerung in steifen Windungen hinter ihr am Boden schleifte. Unten sahen aus einer sehr engen Öffnung die Füße hervor, und wie sie von ihnen Gebrauch zu machen gedachte, schien ein Rätsel. Sobald sie jedoch die Anwesenheit des Märchenprinzen bemerkte, begann sie in sichtlicher Erregung sich mit winzig kleinen, überhasteten Schritten fortzubewegen. Sie schleuderte die Arme geschmeidig in die Luft, daß einige der goldenen Reifen bis unter die Achselhöhlen zurückklapperten. In ihrem Drange, den behinderten Beinen vorauszueilen, warf sie den Leib vornüber. Die mit großen blauen Blumensternen durchflochtenen Haarsträhnen ringelten gleich feurigen Schlangen um Bienaimees spitze Schultern.
Sie schob ihn in das grüne Empfangszimmer zurück und schloß hinter ihnen die Tür. Dabei ließ sie ihn keinen Augenblick los, als fürchtete sie, er möchte ihr unversehens entgleiten wie ein allzu schöner Traum. Sie betrachtete ihn, beglückt und ängstlich.
»Sind Sie es denn nu wirklich?« sagte sie, mit bebender Stimme. Aber gleich darauf stutzte sie. Andreas versetzte: »Ich bin es, schöne Melusine.«
»Nanu?«
Sie sah ihm starr in die Augen. Plötzlich stemmte sie die Hände auf die Hüften.
»Aber so ’n Ulk! Sie sind es ja gar nich!«
»Ich bin der Märchenprinz Fortunato in eigner Person«, versicherte er mit ritterlicher Anmut. Doch war er nicht imstande, ihre zornige Enttäuschung zu besiegen.
»Ich will Ihnen mal sagen, was Sie sind. ’n ganz fauler Kopp sind Sie, wenn Se was Neies wissen wollen, Sie!«
Er zog ihren Brief aus seinem Stulphandschuh.
»Da habt Ihr Euer Pergament zurück, schönste Herrin. Ich habe es dem Fürsten, an den Ihr mich absandtet, nicht überreichen können. Er war bei der Polizei nicht angemeldet.«
»Un denn meinen Sie woll, Sie können Ihre Bienaimee beblaßmeiern un mir Ihre eigene dämliche Person als Märchenprinz andrechseln? Oh, wie haben Sie sich aber geschnitten!«
»Schöne Melusine, erlaubt mir nur …«
»Was haben Sie denn immer mit Ihre Melusine? Ich verbitte mir Ihre Anzüglichkeiten. Jüngling, wie kommen Sie mir vor?«
Er taumelte zurück; er war nicht darauf gefaßt gewesen, das schreckliche Wort der faden Buffetdame im Café Hurra noch einmal von Frauenlippen fallen zu hören. Es traf eine zu schmerzhafte Stelle in seiner Seele, und er empörte sich.
»Schließlich kann ich mich wohl anziehen, wie ich mag«, meinte er. Sie lachte verächtlich.
»Un geschminkt hat er sich auch noch ganz rosenrot ins Gesichte. Ich würde Ihnen gebieterisch die Türen meiner Villa Bienaimee weisen, aber Sie lassen mich gänzlich kalt, mein Herr, Sie können meinswegen hierbleiben.«
»Danke schön«, erwiderte er, und er folgte ihr. Es dauerte lange, bis sie in ihrem Käfig aus Pappe den Salon erreicht hatte. Mit schriller Stimme rief sie: »Platz for Aujust. Hier kommt der Märchenprinz Faulkopp!«
»Fortunato«, verbesserte Andreas bescheiden.
Kaflisch vom »Nachtkurier« lief singend herbei: »Du kommst, doch fängt es an, zu spät zu sein.«
Er trug einen malerischen Räubermantel und einen spitzen Hut, und er klimperte unausgesetzt auf seiner Mandoline. In seinem Munde verwandelte sich alles in Melodie.
Ein weibliches Wesen, klein und übertrieben kurzröckig, sprang zwitschernd vor Andreas’ Füßen umher. Vorne schlug weißer Atlas gegen ihre Beine, hinten schwarzblauer Sammet. An den Schultern saßen riesige Flügel und oben auf der Frisur ein großer Vogelkopf mit langem Schnabel und gläsernen Augen. Die Larve, schmal wie eine Brille, bedeckte das Gesicht kaum von den Brauen bis auf den Nasenrücken.
»Kennst du mich, schöner Prinz?« fragte sie.
»Noch nicht.«
»Ich bin die Schwalbe, ich verkünde allenthalben den Sommer mit seinen Blumen und lauen Lüften!«
Kreischend und mit den Armen fuchtelnd, flatterte sie davon. Ihre Schwingen trafen jedermann in die Augen, beschädigten den Haarputz der Damen und erregten überall Feindseligkeit.
»Das war ja Werda Bieratz«, meinte Andreas. »Guten Abend, Herr Liebling.«
Ein persischer Zauberer im schwarzen Mantel, den Stab und die turmhohe Mütze von mystischen Zeichen bedeckt, strich mit blasser Hand durch seinen Bart von der Farbe des Ebenholzes.
»Die leben, die genießen!« sagte er, mit einer weiten Geste. Sofort setzte er hinzu: »Sehen Sie, mein lieber junger Freund, so schön könnten Sie es auch haben.«
»Wieso?«
»Sie richten sich neu ein, in der Lützowstraße, leugnen Sie es nicht, Freund. So etwas erfährt man gar bald, die Welt ist ja so klein. Nun, was will ich sagen? Hätten Sie mir, Ihrem ältesten Freunde, Ihr Vertrauen geschenkt, alles wäre längst getan. Was sage ich? Zum halben Preise wäre es getan und dennoch viel schöner. Fragen Sie den Herrn Generalkonsul selbst! Fragen Sie unsere freundliche Wirtin, das Fräulein Bienaimee Matzke. Was habe ich ihr nicht besorgt? Ihren neuen Namen habe ich ihr besorgt, und alles übrige hat sie ebenso billig.«
Das unsichtbare Orchester spielte einen Sir Roger. Eine reinliche Zigeunerin, in Satin-Duchesse und mit vielen Brillanten behangen, ward von Pimbusch in anmutigen Wendungen vorübergeführt. Der Schnapsfeudale, in Frack und Domino, winkte von weitem: »Die leben, die genießen!«
Pimbusch litt niemand im Saale, den er nicht in diese Formel eingeweiht hatte. Auf seinen Lippen ward sie sakramental. Wenn heute ein Bemitleidenswerter mit dem einst glänzenden Wort von der lieben Unschuld sich verspätet hätte, unter Pimbuschs Blicken hätte er fühlen müssen, daß er deklassiert sei.
Lizzi Laffé zeigte sich am Arme des Herrn von Reszczinski, pomphaft umflossen von den weißsammetnen Falten ihres Renaissancekostüms, die Taille spitz, die Ärmel riesig gewölbt und vom Hals bis zu den Füßen bestickt mit goldenen Arabesken.
»Sie ist zu eng geschnürt«, sagte Andreas zu einem gähnenden Nachbarn, »aber sehr diskret ausgeschnitten. Und weshalb sollte sie mehr tun? Sie hat recht, wenn sie es verschmäht, Vorzüge zur Schau zu stellen, die ohnehin niemand unbekannt sind.«
Seitdem Astas für Lizzi so verderblicher Herzenstrieb mit seiner Hilfe erstickt worden war, brachte er Türkheimers ehemaliger Freundin eine selbstlose Zuneigung entgegen.
»Es ist gut«, meinte er, »daß sie uns durch Reszczinski wenigstens teilweise erhalten bleibt. Was wäre das Schlaraffenland ohne sie?«
»Gnädigste Frau sind die Königin des Festes«, sagte er, als sie dicht an seiner Schulter vorbeitanzte. Sie schlug dankbar mit dem Fächer nach ihm.
Aber die Männer drängten sich, mit gereckten Hälsen, in dichtem Kreise um die Hausfrau. Unfähig, sich von der Stelle zu bewegen, unterhielt sie ihre Verehrer durch bacchantische Verrenkungen des Oberkörpers.
»Is es nich ein Leben wie im Sommer?« rief sie.
»Un allens is da, un wenn einer sonst noch was nötig hat, braucht er es bloß sagen. Beschafft wird alles, wenn’t auch schwerfällt. Besehn Sie sich mal das scheene bunte Bild da hinten überm Kamin.«
Alle Köpfe wandten sich. Ein wenig niedriger als die Prachtstücke der Benlliure und Villegas, auf dem Ehrenplätze zwischen ihnen, hing jetzt in schwergoldenem Rahmen ein scheußlicher Öldruck, die gemütstiefe Darstellung schlichtbürgerlichen Familienglückes. Gerührt erklärte Bienaimee: »Das is ja das Dings, wo ich mir schonst nach aufgehängt habe, als ich noch ’n Wurm war un eingesegent ward. Det mußte ich haben, un wenn’t auch fümf Fennig kosten dhäte. Mein hoher Gönner hat sich dessentwegen auf ’n Kopp gestellt, un Herr Liebling hat alleine fufzig Märker für Droschkenfahren veraast, bis er das Dings hatte. Na un nu? Da is es, wie Sie sehn!«
Diederich Klempner, der Andreas die Hand schüttelte, bemerkte: »Und zu sagen, daß unsere viehischen Instinkte uns dermaßen kopflos machen, daß wir die krasse Lächerlichkeit dieser Weiber momentan vergessen können. Aber passen Sie auf, ich will es ihnen nächstens geben!«
Seitdem Klempner, auf Herrn von Reszczinski gestützt, nur noch eine lose Verbindung mit dem Schlaraffenland unterhielt, gefiel er sich, seinem staatserhaltenden Äußern zum Trotz, immer entschiedener in demagogischen Anschauungen. Andreas fürchtete, durch einen öffentlichen Verkehr mit ihm seinem Rufe zu schaden; er entfernte sich von der Seite des Kollegen. Doch hatten die lauten Reden der kleinen Matzke auch ihm einen peinlichen Eindruck hinterlassen. Es ahnte ihm, als erwecke er selbst, mit all seinem Märchenzauber, in der Seele des glücklichen Proletarierkindes ganz ähnliche Vorstellungen wie jener gefühlvolle Schund. Das Familienglück und der Märchenprinz, sie entstammten möglichenfalls einer und derselben Waschküche. Wie war das beschämend! Wie viele muffige Erinnerungen an Hinterhäuser mochten mit der Tochter des Genossen Matzke hier eingezogen sein, um in den Prunkgemächern umzugehen als armseliger Spuk!
Allmählich erstreckten seine übelwollenden Betrachtungen sich auf die ganze Gesellschaft. Die den Sommer verkündende Schwalbe war keineswegs der poesiereichste unter den Einfällen der Damen. Eine Köchin in rosaseidener Robe, tief ausgeschnitten und mit nackten Armen, in Spitzenschürzchen und Mullhäubchen, ließ im Takte ihrer wiegenden Hüften die hölzernen Löffel, Pfannen und Reiben klappern, die inmitten wehender Bänder um ihren Leib und um ihre Rockkante baumelten. Satanella sprang im feurigen Kleidchen, aus dem gelbseidene Flammen schlugen, mit teuflischer Zuchtlosigkeit umher. Sie verlor regelmäßig einen ihrer roten Schuhe und versengte den Unvorsichtigen, der ihn zurückbrachte, mit einem ihrer berufsmäßigen Seitenblicke. Ihre Kappe loderte, und sie schwang den Dreizack. Mild und fromm aber gingen die holden Kinder des Lenzes einher, die auf dem Kopfe ein vergrößertes Stiefmütterchen oder eine Riesenheckenrose trugen. Der Vierländerin reichte ihr purpurner Rock kaum bis an die Knie, und er wippte in die Höhe bei jedem ihrer Schritte. Ihr schwarzes Mieder glänzte von lauter bunten Flittern, die großen Schleifen an ihrem Hinterhaupte und auf ihren Lackschuhen wurden von Brillantagraffen gehalten. Auch das Sammetkostüm eines italienischen Bauernmädchens, ungefähr aus der Gegend, wo man an immerwährendem Hunger und Fieber dahinsiecht, war mit Edelsteinen üppig bestirnt. Eine untersetzte Blondine hatte ihr weißes Atlaskleid mit einer schwarzen Stickerei versehen lassen, die das Notensystem vorstellte. Balken und Striche waren ohne Bedenken überall verteilt, und als Grundmuster dienten Violinschlüssel. Auf der Frisur türmte sich ein kunstvolles Gebäude aus Notenpapier. Sooft das Orchester einen neuen Tanz zu spielen begann, blieb sie stehen und erhob, träumerisch lächelnd, ihren Taktstock. Andreas erkannte mühelos in dieser Dame die fleischgewordene Musik; doch wußte er weniger anzufangen mit einer ihr ähnlichen Erscheinung, deren Gewand statt der Noten wahllos mit großen und kleinen Lettern übersät war. Über ihren ganzen Rücken rauschte eine schwere Schleppe hernieder, von aufgeschlagenen Buchdeckeln lose umklappert. Schultern und Kopf prangten in Zieraten von derselben Form. »Vielleicht will sie die deutsche Bildung sein«, meinte Andreas, aber sie hatte kaum bemerkt, daß sie ihm ein Rätsel sei, als sie auch schon erklärte: »Ich bin der Bücherwurm.«
»Ah! Das hätte ich mir denken können. Und ist das da auch voll von Büchern?« fragte er, indem er sich anschickte, den Inhalt ihres Corsage zu untersuchen, das ihm zu stark entwickelt vorkam. Doch nahm sie es übel.
»Du bist ja ’ne nette Biele! So ’n Märchenprinz meint woll, unsereiner geht bloß sonntags fein angezogen.«
Und sichtlich verstimmt ließ sie ihn stehen.
›Ich habe heute abend kein Glück‹, sagte er sich. ›Fortunato war ein verfehlter Name.‹
Mehrere weibliche Masken, die ihm freundlich entgegenkamen, enttäuschte er durch seine höhnische Kälte. Er meinte, die Entscheidung darüber wäre schwer, wer dümmer sei, die anständigen Frauen, denen man im Türkheimerschen Salon begegnete, oder die hier auftretenden Geschöpfe. Möglichenfalls gebührte diesen der Preis. Sie tollten in erkünsteltem Übermut durcheinander, sie breiteten mit verzweifelter Freigebigkeit alle ihre Reize aus und kreischten dazu wie besessen – um die ausgelassene Miene unversehens in ihre alten bösen, verlebten und gierigen Falten zurückfallen zu lassen, wenn Satanellas Drachenflügel ihnen eine Straußenfeder geknickt hatten oder ihre fliegenden Chiffons von einer ungeschickten Hand zerrissen waren.
Die Männer boten keinen erfreulicheren Anblick. In einen Domino gehüllt, glaubten sie sich anders betragen zu müssen als gewöhnlich, nur wußten sie nicht wie. Sie unternahmen einen launigen Sprung oder wagten eine leicht mißzuverstehende Gebärde, aber darauf entschuldigten sie durch ein zweifelhaftes Lächeln ihren Anfall von Wildheit. Sie zerdrückten eine Träne der Langenweile und feuerten sich an, indem sie einander zuriefen: »Die leben, die genießen!« – mit dem Stoßseufzer jenes betrunkenen Kopisten, der durch die Vermittelung der kleinen Matzke das geistige Bürgerrecht im Schlaraffenland erlangt hatte.
»Ihre Fröhlichkeit ist herzbrechend«, bemerkte Andreas. »Wie sollte es anders sein? Einen richtigen Mummenschanz haben sie nie gesehen.«
Und er schwelgte im Bewußtsein der älteren und leichteren Kultur seiner Heimat, wo jeder seßhafte Bauer ein Aristokrat war, verglichen mit diesen vergoldeten Landstreichern aus dem wilden Osten. Aber eine fremde Berührung störte ihn, wie die eines Taschendiebes, der sich an ihm zu schaffen machte. Er wandte sich um: es war die Hausfrau, sie schnüffelte, still und aufmerksam, an seiner Kleidung umher. Als sie sich ertappt sah, erklärte sie: »Entschuldigen Sie man, ich wollte bloß herauskriegen, ob es auch so riecht. Aussehn tut es ja ganz so, aber riecht es auch so? Das is die Frage.«
»Wie soll es denn riechen?«
»Nu, wie die Seifenschachtel, Sie wissen schon, wo mein Ideal aufgemalen war. Sie roch noch so süß, un nu schlag einer lang hin, ich müßte gänzlich auf dem Holzwege sein, wenn diß nich ebenso riecht.«
Andreas sagte sich im stillen, daß der Zauber der Erinnerung mit Bienaimee durchgehe. Er stützte die Rechte mit kraftvoller Anmut auf die schmale Hüfte, legte die Linke an den Degenknauf und warf sich in die Brust, so daß das Wams in den Nähten krachte. »Ich komme Ihrem Ideal also doch ziemlich nahe«, sagte er. Sie verschlang ihn mit den Blicken, ernsthaft, blaß und sichtlich verschüchtert.
»Un ob«, erwiderte sie träumerisch.
»Warum haben Sie sich dann vorhin so unpassend gegen mich benommen?«
»Sind Sie noch böse mit mir? Ich habe leider ’n bißken kodderiges Mundwerk, das liegt in der Familie. Was wir Matzkes sind, wir haben es alle. Sie verstehn? Aber darum keine Feindschaft nich. Sie bleiben doch immer ein wirklich scheener un feiner Mann.«
»Sehen Sie wohl?«
»Da gibt’s nischt, un von alle, die hier rumwimmeln in meiner Villa Bienaimee, sind Sie nu schonst gewiß der Scheenste.«
»Na also.«
Er wandte sich gleichmütig von ihr weg.
»Wo bleibt denn Türkheimer?« fragte er.
»Sehn Sie man mal dorten hinter dem seidenen Ofenschirm mit den scheenen bunten Bildern zu. Da muß er stecken. Er hat seinen schlechten Dag. Un was will er denn auch? So ’n Krippensetzer.«
Türkheimer schien durch den niedrigen Paravent von allen Freuden des Lebens abgeschieden zu sein. Die blaue Seide seines Kaftans gleißte, die weiten Hosen aus kirschrotem Atlas fielen in schillernden Falten bis auf die grünen Schnabelschuhe. Seinen Bauch umspannte eine purpurne Schärpe, ein weißer Turban nickte im blutigen Lichte eines Halbmondes aus Rubinen auf seinem Haupte. Aber müde des eigenen Glanzes, senkte er die geschwollenen Lider; die Unterlippe hing über das Kinn herab, mutlos zerdrückten sich die rötlichen Favoris auf der Brust, umspielt von den Arabesken der Gold- und Silberstickerei, umfunkelt von den Brillanten des Sonnenordens von Puerto Vergogna. Die Lichter aller Juwelen eines Sagenreiches blitzten durcheinander an der breiten Scheide des ungeheuren Krummsäbels; doch ruhte eine welke Hand am Gehenke. Dumpf in sein Leiden ergeben, kauerte der Sultan auf seinem easy-chair.
»Wie soll es gehen?« erwiderte er auf Andreas’ dringliche Erkundigung. »Faul, faul. Fragen Sie Klumpasch. Klumpasch, hörense mal!«
Der weltmännisch geschulte Arzt kam eilig herbei. Türkheimer fragte: »Immer noch ebensoviel?«
»Vierzig Gramm, Herr Generalkonsul.«
Türkheimer dachte nach.
»Es ist ja nicht viel«, seufzte er.
»Na, es reicht für den Anfang. Bloß Diät müssen Sie halten.«
»Und kein Sekt?«
»Seien Sie vernünftig, Herr Generalkonsul, Sie haben doch schon genug Sekt getrunken in Ihrem werten Leben.«
»Ich sage ja auch nichts. Es ist nicht wegen des Sektes, aber ich komme mir selbst so vor, wie soll ich sagen, so – süß, mit all dem Zucker …«
»Reinster Traubenzucker, verehrter Herr Generalkonsul.«
Türkheimer schwieg, er kraute sich am Kinn. Dann äußerte er: »Wenn er noch zu was zu brauchen wäre!«
»Auch noch? Freuen Sie sich, daß Sie ihn haben.«
»Es müßte eigentlich mehr sein. Sagen Sie, Doktor, könnte man ihn nicht für irgendwelche industriellen Zwecke verwerten?«
»Das ist ein Gedanke, Herr Generalkonsul, daran muß gearbeitet werden.«
»Ja, daran muß gearbeitet werden.«
»Also wünsche erfolgreiche Arbeit, Herr Generalkonsul.«
Klumpasch entfernte sich. Andreas dachte: ›Vierzig Gramm Zucker. Der Bedauernswerte!‹
Er sagte: »Sie haben übrigens eine vortreffliche Farbe, Herr Generalkonsul.«
»Am Leibe, meinen Sie wohl? Na, lassen Sie man. Was tue ich hier? Warum gehe ich nicht zu Bett? Ja, wenn ich nicht meiner kleinen Bienaimee helfen müßte, ihr Villachen einweihen. Wie kann sie es ohne mich? Das gute Kind, sehn Sie sie an, da steht sie. Sieht sie nicht aus wie ’n Lilienstengel?«
»Wie ’ne Feuerlilie, Herr Generalkonsul«, rief Süß, der den Kopf hinter die seidene Wand steckte.
Türkheimer lächelte blaß.
»So ist es, Süß, Sie haben es raus. Sie sind mein Freund, Süß, ich beteilige Sie an – na, es findet sich nächstens, an was ich Sie beteilige. Ich glaube, jetzt sollen wir essen. Was heißt essen? Kann ich essen?«
Auf der Schwelle des Speisezimmers zeigte sich Frau Kalinke, im schwarzen Atlaskleid, das knisterte, knatterte und zu bersten drohte. Sie legte die speckigen Hände über dem Magen zusammen und trippelte, den Kopf zärtlich auf die linke Schulter geneigt, der kleinen Matzke entgegen.
Die Hausfrau sagte, sobald sie sich niedergelassen hatte: »Jetzt kriegen wir mein Souper zu essen.«
Ihre Stimme war fest, und sie sah mit großen, leuchtenden Augen in der Tafelrunde umher. So zwanglos sie sich bisher betragen hatte, kam doch eine gehobene Feierlichkeit über sie, als sie sich in ihrem massiv silbernen Tafelgerät spiegelte. Leda mit dem Schwan, ein mächtiges Schaustück aus der Werkstätte Claudius Mertens’, stand zwischen ihr und Türkheimer. Von dem Gefühl hoher Verantwortlichkeit ganz erfüllt, nahm sie ihrem Nachbarn, dem Freiherrn von Hochstetten, sein Glas aus der Hand, um es mit ihrer Serviette auszuwischen. Sein Widerspruch bestärkte sie in ihrem Eifer.
»Reinlichkeit muß sind«, erklärte sie.
Und zum Entsetzen der Frau Kalinke begann sie, so weit ihr Arm reichte, alle die blitzenden Kristalle, die Bordeaux-, Rheinwein- und Sherrygläser und die flachen geschliffenen Champagnerkelche mit ihrem Tuche zu bearbeiten. Vor den Kannen mit silbernem Deckel, in denen der Rotwein funkelte, schrak sie zurück, und sie ergriff mit beiden Händen ihren mattweißen, mit Monogramm und goldener Mäanderborte versehenen Teller, indem sie sich entschieden weigerte, irgend etwas anzunehmen, bevor nicht alle ihre Gäste versorgt seien.
Der Direktor Kapeller war für seine Umgebung der Gegenstand ungewöhnlicher Aufmerksamkeit. Diederich Klempner fragte ihn: »Ist es wahr, Herr Direktor, daß Sie zum Leiter des ›Deutschen Volksballetts‹ ausersehen sind?«
»Ich schmeichle mir, einige Aussichten zu besitzen«, erwiderte der Schauspieler, bescheiden lächelnd.
»Ja, wie kommen Sie denn dazu?« rief Lizzi Laffé. Andreas meinte verwundert: »Wer Ihnen das vor vier Wochen gesagt hätte, Herr Direktor!« Aber Kaflisch versetzte: »Warum soll er nicht Direktor vom ›Deutschen Volksballett‹ werden? Im Schlaraffenland kann doch jeder alles werden.«
»Ich bitte Sie, meine Herren«, sagte Kapeller. Er rutschte voll Furcht, den Neid der andern zu erregen, auf seinem Stuhl umher.
»Was kann ich denn dafür, meine Herren, sagen Sie es selbst. Kann ich für die Dummheiten der andern? Warum muß sich der unglückliche Direktor Nothnagel in seinem Direktionszimmer an einen Nagel hängen?«
»An einen Notnagel«, ergänzte Kaflisch.
»Ein Schmeerbauch, der sich entleibt, und ein Nothnagel, der sich an sich selbst aufhängt. Zu dumm.«
Kapeller schlug ein breites Gelächter an, aus Dankbarkeit gegen den Journalisten. Er fühlte, daß die ihn umgebende Eifersucht mit sich reden lasse.
»Genug, meine Herren, was sage ich? Der bedauernswerte, in unübersteigliche finanzielle Schwierigkeiten tief verwickelte Mann erhängt sich, und als der Herr Generalkonsul Türkheimer, der, wie Sie wissen, das ›Deutsche Volksballett‹ finanziert, von diesem Unglücksfalle Kenntnis erhält, da bin ich zufällig zugegen. Ein einfacher Besuch, Sie verstehn, bloß um mich bei unserm mächtigen Gönner in freundliche Erinnerung zu bringen. Aber wer da ist, der kriegt es. Habe ich denn irgendwelche Verdienste, meine Herren? Nein, ich habe keine. Aber der Herr Generalkonsul sagt zu mir: Kapeller, was meinen Sie? Und ich antworte: Herr Generalkonsul, ich stehe zu Diensten, und hoffe ich, die Sache günstig zu befingern. Was wollen Sie? Kann ich dafür? Habe ich denn Verdienste?«
Er drückte, demütig lächelnd, das fette Kinn auf das feuchte Vorhemd. Eine innere Stimme sagte ihm, daß es für ein noch so großes Glück am Ende Verzeihung gebe, wenn nur kein Verdienst damit verbunden sei. Dann wandte er sich an Andreas.
»Ich darf wohl auf Ihre gütige Unterstützung rechnen, mein werter Herr? Eine enge Verbindung mit den Kreisen der Literatur gestaltet sich für unser Institut zu einem unabweisbaren Bedürfnisse. Sie überlassen uns doch Ihre ›Verkannte‹ zur Aufführung?«
Bevor der junge Mann antworten konnte, fielen die Riesenheckenrose, die Köchin und der Bücherwurm über den Direktor her. Sie verlangten, engagiert zu werden.
Duschnitzki bemerkte, indem er ein Stück von einer violetten Trüffel in den Mund schob: »’n ganz netter Ausschank hier.«
»Hier kommen wir öfter her«, fügte Süß hinzu.
Es gab schwarze, violette und weiße Trüffeln, ganze Trüffeln und Trüffeln in Scheiben, Trüffelsaucen, Trüffeln in Champagner und Püree von Trüffeln. Ein spanisches Ragout von Geflügel, mit Kapern, Oliven und Korinthen in weißer Tunke, nebst Blätterteig und Kresse, entfesselte einige Leidenschaften. Nachdem die Neuheit des Gerichtes von den meisten zugestanden war, ließ Pimbusch sich durch seinen Ehrgeiz zu der Behauptung verführen, er müsse es schon irgendwo gegessen haben. Ein allgemeiner Unwille erhob sich gegen ihn, Liebling ermahnte ihn ernst zur Wahrhaftigkeit. Bienaimee entrüstete sich.
»Wie können Sie denn so aufschneiden, mein Herr. Dies Essen hat ja meine Köchin ganz alleine ausgeknobelt. So was von Köchin lebt nich, sage ich Ihnen, meine Herren. Bloß daß sie man eben noch durch die Türe durchgeht. Un nischt dhut das dicke faule A…«
Sie besann sich rechtzeitig.
»Un nischt dhut son Mächen, als Mittagbrot kochen. Wenn Sie meinen, daß sie auch mal im Hause was anfieße! Lieber beißt sie sich ’n kleinen Finger ab.«
Außer den Speisen vermochte vorläufig nichts, der Hausfrau Teilnahme abzugewinnen.
»Die Ente!« rief sie. »Das is was für arme Leute, die’s nötig haben. Keule und Brust, sonst kriegen Sie nischt zu essen, das andere is eegal ausgequetscht. Drum is die Sauce auch blödsinnig kräftig.«
Türkheimer seufzte.
»Was tue ich damit?«
Er warf einen neidischen Blick auf den sorglos kauenden Jekuser und legte die Serviette beiseite.
»Ich soll keinen Sekt trinken«, sagte er. »Warum gehe ich nicht zu Bett? Bloß weil meine kleine Bienaimee mich braucht bei ihrer ersten Festlichkeit in ihrem neuen Heim. Ist sie nicht jung? Ist sie nicht unerfahren? Und die Versuchungen, wie leicht treten sie heran an solch Kind.«
Er wiederholte seine Klagen mehrmals und nickte weinerlich dazu. Bald genoß er nur noch ein wenig Grahambrot und knipste, in trübes Sinnen verloren, mit dem Messer die krossen Splitter fort. Sie machten unerwartete Froschsprünge, und wenn sie einmal ganz verschwunden waren, sah er mit offenem Munde umher. Schräg gegenüber begann Werda Bieratz seine Belustigung nachzuahmen. Sie schnellte ihre Brotrinde so geschickt über den Tisch, daß ein winziges Stück in Türkheimers geöffneten Schlund hinabflog. Er verschluckte sich, hustete, daß ihm die Tränen in die Augen traten, und goß vor Schreck und Unmut ein Glas Champagner hinunter.
Die kleine Matzke hatte in ihrer feierlich bewegten Stimmung mehr getrunken, als bei einem ersten Versuche zulässig erschien. Immer noch in sehr steifer Haltung, aber mit etwas schweren Lidern, musterte sie die Reihen ihrer Gäste. Sie fing an, unbeabsichtigte Dinge zu reden.
»Fiselig bin ich schonst«, bemerkte sie mit einem gerührten Glucksen. »Aber ich glaub, ich wer’ noch knille. Man Geduld, oller Geldsack!«
Und sie reckte, nach Türkheimer hinüberblinzelnd, die Zunge aus. Lizzi Laffés Bemühungen, sie in das Geleise der feineren Sitte zurückzuführen, blieben vergeblich. Türkheimer lächelte zärtlich, sooft Bienaimee ihn ihren Geldsack nannte. Kaflisch meinte: »Wenn ein großer Mensch kaputtgeht, was ist das doch sozusagen für ’n feierlicher Sonnenuntergang!«
»Geldsack ist gut«, äußerte Klempner. »Wissen Sie, woran es mich erinnert? An die Dubarry, als sie ihren alten König mit La France anredete. ›La France, schmeiß deinen Kaffee nicht um‹, sagte sie. In beiden Fällen wird ein ganzes Regime in seinem gekrönten Vertreter von so einem Mädchen verulkt und entweiht.«
»Oh!« flüsterte Liebling dumpf. »Wem sagen Sie dies? Sie berühren meine geheimsten Wunden. Diese Mädchen sind die vorgeschobenen Posten der Revolution in unserm eigenen Lager. Sie schleichen sich bei uns ein, um alles zu besudeln, was uns heilig ist, und den Grund zu unterwühlen, auf dem wir stehen. Wenn ein Türkheimer von einer kleinen Matzke sich Geldsack nennen läßt und geschmeichelt dazu lacht, dann …«
»Dann dauert es nicht mehr lange!« rief Klempner, mit ausbrechendem Jubel. Er prunkte mit Kenntnissen, die außer ihm hoffentlich niemand besaß, und trank mehr als irgendein anderer: beides in der Absicht, sich für sein gesunkenes Ansehen zu entschädigen. Liebling befruchtete seinerseits durch den Genuß von Heidsieck den ihm innewohnenden moralischen Sinn. Dagegen kneipte Kaflisch ohne Hintergedanken. Für ernstere Probleme unempfänglich, erkundigte er sich bei der Hausfrau, wie es ihrem Herrn Vater gehe und ob er heute nicht mehr erscheinen werde. Vielleicht hatte er erwartet, sie werde seine Aufmerksamkeit anerkennen; doch gab sie ihm ihre Unzufriedenheit zu verstehen.
»Sie ordinärer Mensch meinen woll, Sie können mir Ihre dämlichen Witze vormachen? Warten Sie man, wenn ich mir Ihren Ölkopp kaufe! Wer an mir klingeln will, der fliegt raus aus meiner Villa Bienaimee. Hier is allens mein, ich brauche mir hier nischt zu gefallen zu gelassen un kann euch alle auf ’n Puckel rumhopsen, daß es man so knackt. Is es vielleicht nicht so?«
Man bestätigte es eifrig, und allmählich beruhigte sie sich.
»Klein, aber oho!« bemerkte Kaflisch, noch ganz erschüttert.
Trotz dieser Zwischenfälle ließ die Gesellschaft sich von keiner Festfreude hinreißen. Türkheimers seelische Gedrücktheit lastete auf allen. Nur Pimbusch und Hochstetten führten hinter dem Rücken der Musik, die sich fortwährend mit Gänseleberpastete vollstopfte, ein lebhaftes Gespräch. Die Ähnlichkeit ihres Schicksals als Gatten hatte sie zu Freunden gemacht, die einander stützten und Trost gewährten. Der Baron, der von Asta, seiner Schwester wegen, nur noch ein ungenügendes Taschengeld bezog, fand bei dem Schnapsfabrikanten eine stets offene Hand. Pimbusch bot ihm jedesmal das Doppelte an von dem, was er brauchte, denn der Umgang mit Hochstetten versorgte seine wahnwitzige Hoffnung auf Aufnahme in den hocharistokratischen Jeuklub mit immer neuer Nahrung. Der Orden, der in Astas Heiratskontrakt ihrem Vater zugesichert war, blieb aus, und Türkheimer schmollte mit Hochstetten. Pimbusch aber fuhr fort, den Freund zu lieben, wie eine schöne Chimäre, an die man glauben möchte.
Zuweilen aber ließ sich nichts vernehmen als irgendein verstohlenes Kichern, das unter dem Tisch hervorzudringen schien, und das niemals unterbrochene, behagliche Schmatzen des Herrn Jekuser. Der Besitzer des »Nachtkurier« war Nichtraucher und Feinschmecker. Inmitten des matten Schweigens seufzte jemand: »Kellner, einmal Lebensfreude!«
Doch dieser Notschrei verhallte, und es war, als werde er erstickt und verschlungen von den schweren Falten der buntstrotzenden Gewänder, die die Tafel umkränzten. Prachtvoll, festlich und weit, warteten sie, um sich auszubreiten und zu leuchten, auf die mächtigen und leichten Gebärden überschäumender Bezwinger, die im Strahl von Kerzen, Silber und Kristallen, im Dampf der Speisen und im üppigen Atem der Blumen an Weibern und an Wein ihre Kraft gemessen hätten. Nun aber waren sie an zahme und durch wenige Stunden erquälter Tollheit schon verbrauchte Glieder verirrt; sie sanken zusammen auf Brüsten, die nicht jauchzten, sondern weise den Atem sparten, sie verkümmerten auf Mägen, die eine ängstliche Diät innehielten, und ihre Farben erloschen unter den nüchternen Blicken übermüdeter Augen. Andreas nahm, sobald er sich gesättigt hatte, nacheinander mehrere verführerische Stellungen ein, deren Wirkung auf die kleine Matzke seine Erwartung übertraf. Sie riß die Augen auf, als er ihr, plötzlich die langen Wimpern hebend, sein von goldenen Locken umrahmtes Profil zeigte. Er legte einen Arm auf die Stuhllehne, so daß die Spitzenmanschette ihm bis über die Finger fiel, er senkte träumerisch das Gesicht, in das die Haare hineinglitten – und Bienaimee seufzte. Aber er richtete sich jäh auf, um, die Faust auf der Brust, mit umwölkter Stirn, stolz und kriegerisch nach einem unbekannten Gegner auszuschauen. Da faltete sie die Hände, und er hörte, wie sie bebend flüsterte: »Gibt es so was Scheenes! Das kriegt man ja auf keinem Theater zu sehen!«
Niemand achtete der Glücklichen; Kapeller gab gerade einen anziehenden Bericht von seinem Debüt als Künstler, vor zwanzig Jahren in Inowrazlaw. Es stellte sich heraus, daß er bereits in jener fernen Zeit mit Lizzi Laffé bekannt geworden war.
»Die schöne Jugendzeit«, sagte er, leise bewegt.
Sie lachte etwas säuerlich.
»Ach ja. Tempi peccavi.«
Liebling verbesserte: »Pater passati.«
»Meinen Sie vielleicht, ich weiß das nicht?« rief sie.
»Selbstredend. Es war nur, um etwas zu sagen«, versicherte er, sich entschuldigend.
»Ein unbedeutendes Mißverständnis, meine Gnädige.«
Aber in Lizzis Gesicht traten die großen roten Flecken unter dem Puder hervor. Sie atmete schwer.
»Tun Sie mir bloß nicht leid!« versetzte sie mit Nachdruck, indem sie sich erhob, um am Arme des stummen und dienstfertigen Reszczinski rauschend und voll Pomp das Zimmer zu verlassen.
»Trösten Sie sich, mein Liebling«, sagte Kaflisch. »Es ist nicht Ihre Schuld. Die gute Seele hatte sich ja viel zu eng geschnürt, ihre Situation war unhaltbar geworden. Nu hat sie ihren Abgang, was will sie mehr?«
Mehrere Gäste benutzten die Gelegenheit, sich zu verabschieden. Türkheimer behauptete, es sei jetzt höchste Zeit, zu Bette zu gehen, und stand ächzend auf. Sogleich entquoll der kleinen Matzke eine neue Lebensfülle.
»Geldsack geht zu Bett!« rief sie. »Nu wird’s gemischt bei Matzkes! Hurra!«
Frau Kalinke, die hüstelte und sich zierte, mußte ihr das mit Schuppen bedeckte Futteral von den Beinen ziehen, und kaum im Besitze ihrer Freiheit, begann sie, in großen Sätzen und mit gellendem Geschrei ihren abziehenden Gönner zu umkreisen. Ihr rotseidener Unterrock flog wie vom Sturmwind gepeitscht bis über die Hüften hinauf. Sie warf die nackten Arme nach Türkheimer, ohne daß es ihm gelang, sie zu berühren. Plötzlich schnitt sie ihm, mit der brennenden, zottelnden Frisur dicht an seinem Gesicht, eine erschreckliche Grimasse, und bevor er sich erholte, hatte sie ihm schäkernd drei, vier kräftige Schläge auf den Bauch versetzt. Er nickte ihr mit schiefem Kopf ein Lebewohl voll sehnsüchtigen Bedauerns zu. Mit kleinen Schritten, von dem roten springenden Geschöpf immerfort umkreist, erreichte er die Tür. Dort wandte er sich noch einmal um und sagte, schwermütig und entsagungsvoll: »Die leben, die genießen!«
Die Zurückbleibenden sahen einander an, als bereiteten sie sich auf eine Veränderung des Tones vor. Aus dem Nebenzimmer, von der Terrassentür her, kam ein matter grauer Schein, der das Kerzenlicht gelb und die Mienen der Gäste fahl machte. Das Bewußtsein, im Ballsaal und bei Tische die ganze Nacht hingebracht zu haben, entzündete in ihnen augenblicklich eine wilde Freude. Diederich Klempner grölte: »Sind wir nicht zur Herrlichkeit geboren?«
Und alle waren fest davon überzeugt. Durch die trübe Langeweile bis dahin niedergehalten, brach ihre ganze, allmählich aufgestaute Trunkenheit jetzt auf einmal aus. Wer etwas versäumt zu haben glaubte, der holte es in Eile nach, und Duschnitzki goß, ohne besondere Veranlassung, ein Weinglas voll Kognak hinunter. Die kleine Matzke, die es nicht nötig hatte, ergriff eine Karaffe mit der Aufschrift »Malaga« auf silbernem Schilde und setzte sie an den Mund. Kaflisch zermarterte die Saiten seiner Mandoline und krähte dazu wie ein Hahn. Süß versuchte, auf seinem Stuhle kopfzustehen, aber die Vierländerin schrie: »Mit die Klamottenbeene rumangeln is nich!«
Und sie stieß ihn hinab, sosehr er auch zappelte. Er nahm, mit der Hartnäckigkeit des Berauschten, einen neuen Anlauf, und dieselbe unnütze Grausamkeit verwehrte ihm sein Vergnügen, bis er endlich, ohnmächtig und in allen seinen Hoffnungen enttäuscht, laut weinend zu Boden sank.
Werda Bieratz verlangte mit Gezeter nach Anton, dem Kutscher der Hausfrau, doch diese griff ihr sofort mit gespreizten Fingern in die Haare.
»Det könnte dir woll so passen, olle Kreete. Aber so ’n scheener Mann is nischt für dein Fannkuchengesichte!«
Nur mit Mühe gelang es Liebling, die Damen zu trennen. Aber der Moralist ließ sich selbst, wenn auch flüchtig, zu ungewöhnlichen Handlungen verleiten. Er hielt seine hohe, mit mystischen Zeichen beschriebene Zauberermütze in die Flammen eines Kandelabers und schleuderte sie in die Luft. Jemand fing sie auf, und unermüdlich warf man die lodernde Fackel einander zu, ohne von Feuersgefahr etwas zu ahnen.
Satanella und die Köchin führten mit Kaflisch und dem Rechtsanwalt Goldherz einen der guten Sitte entfremdeten Tanz auf. Aber obwohl alle durcheinanderlärmten und verschlungen, mit bewußtlosem Geheule umherschwankten, so schien dennoch ein jeder in einer tiefen, entrückten Einsamkeit zu leben. Die bleichen schwitzenden Gesichter mit den glasigen Augen und den weit aufgerissenen Mündern trugen die Maske eines in sich selbst versunkenen, von seiner Idee besessenen Ekstatikers.
Umringt von Weibern, die wie Pfaue kreischten, gab Süß auf dem roten Plüschteppich ganz still einen Teil des Genossenen zurück. Die Musik hatte, am Ende ihrer Pastete angelangt, mit heftigen Erstickungsanfällen zu kämpfen. Man lockerte ihr Leibchen und leerte eine Flasche Sekt in ihr Corsage. Schmerzlich berührt durch diesen Anblick, hängte Bienaimee sich über die Rückenlehne ihres Stuhles. Sie schlug die Hände vor das Gesicht und brach in ergreifendes Jammern aus.
»Oh! Wenn Mutter auf ’n Friedhof Heinersdorfer Straße es wissen dhäte, daß ich so jung schon an einen alternden Tyrannen geschmiedet.«
Die Herren fielen begeistert ein.
»Der alternde Tyrann hurra, hurra, hurra!«
Bienaimee sprang auf.
»Wer da nich aus de Jacke geht! Aber als wie ich, ich habe nu die Neese voll, ich ergebe mich nu …«
»Dem Trunke?« vermutete Klempner.
»Dem Verbrechen?« fragte Goldherz.
»Der Gottlosigkeit?« forschte Liebling.
»Nein, dem Sinnentaumel!« schrie sie, und indem sie die Arme ausbreitete, hintübergelegt wie in Verzückung, umschlang sie die Gestalt des Märchenprinzen mit einem flehenden Blick, zergehend in Zärtlichkeit. Aber die Situation deuchte ihm noch nicht reif, er trat von ihr weg, mit einer geschmeidigen Wendung, die ihr in den blauseidenen Trikots das Muskelspiel seiner Schenkel vorführte.
Unbekümmert um alle diese Einzelheiten, kletterte Kapeller auf den Tisch, um mitten unter zerpflückten Blumen, Brotrinden, Zigarrenasche und Weinresten den Prolog zu deklamieren, mit dem er das »Deutsche Volksballett« zu eröffnen gedachte. Er kam nicht weit; vor Schmerz laut brüllend sprang er wieder hinunter, da die Schwalbe ihn mit ihrem langen Schnabel heftig in die Wade gestochen hatte.
Nur Duschnitzki verhielt sich ruhig auf seinem Platze. Ein feines Lächeln erhellte seine Züge, er hatte einen Einfall, Er nahm seinen mattweißen Porzellanteller mit dem Monogramm B.M. und goldener Mäanderborte prüfend in die Rechte, wog ihn eine Sekunde lang und schleuderte ihn in wohlbedachtem Schwünge, kraftvoll und elegant zur Decke empor. Ein zweiter folgte, und mit einer durch Übung erlangten Gewandtheit hatte Duschnitzki bald ein Dutzend und mehr denselben Weg gesandt. Die Zigarette zwischen den Lippen und ein wenig eitel umherschweifend mit seinen mandelförmigen Sammetaugen, doch zielsicher und unverdrossen, arbeitete er fort.
Bienaimee schaute ihm eine ganze Weile zu, ohne zu verstehen, was vorging. Endlich schrie sie auf: »Nu zertöppert er mir mein Geschirre! Ja, wissen Sie denn, was ’t gekost’ hat, als ’t noch nei war?«
Gleich darauf sank sie tränenüberströmt an Andreas’ Hals, wo sie liegenblieb. Ihre Gäste aber tanzten, zwei Zeigefinger hoch in der Luft, mit wippenden Frackschößen und flatternden Schleppen, pfeifend, meckernd und aus voller Kehle jubelnd, um Duschnitzki herum. Sie stießen sich gegenseitig in den Scherbenregen hinein, der ununterbrochen vom Plafond herniederging. Wer von einem Bruchstücke des einstigen Matzkeschen Services getroffen worden war, warf sich unter anhaltendem, durchdringendem Gequieke zu Boden und strampelte mit den Beinen.
Klempner und Liebling, die beiden Naturen, in denen die Menschenwürde am tiefsten eingewurzelt war, blickten unvermutet einander an und schlugen die Augen nieder. Liebling hielt noch den Arm erhoben, mit dem er voll ungeahnter knabenhafter Lustigkeit nach einer umhersausenden Schüssel greifen wollte. Er ließ ihn sinken, zuckte bedauernd die Achseln und wandte sich, als sei nichts geschehen, seiner verlassenen Flasche wieder zu. Klempner schlich beschämt zur Tür. Und ganz allmählich kehrten auch die übrigen zur Besinnung zurück. Einer nach dem andern sah sich um, verwundert, als sei ihm alles unbekannt. Voll Entsetzen bemerkte er plötzlich, daß er sich mitten in einem Tobsuchtsanfall befunden hatte. Dann knickte er zusammen und entfernte sich schweigend, mit schlotternden Knien, gebeugtem Rücken, Schweißperlen auf der blassen Stirne und seelisch ausgeleert. Der Morgen langte mit grauer, lähmender Geisterhand in das Gemach und fegte sie hinaus.
Andreas trug noch immer die Hausfrau am Halse. Er spürte die schmerzlichen Zuckungen ihres schlanken Leibes, er sah die Beängstigungen, die ihr Magen ihr verursachte, und die grünliche Blässe auf ihrem Gesicht. Von Zeit zu Zeit lallte sie, sinnlos und vom Schluckauf unterbrochen: »Es war so scheen gewesen.«
Er sagte, sooft ein Hinausgehender ihn mit einem bedeutungsvollen Blicke streifte, gedankenlos vor sich hin: »Warum nicht?«
Aber in der verbrauchten und melancholischen Luft dieser verlassenen Tummelstätte allgemein menschlicher Triebe nährte jeder Atemzug die kläglichste Ernüchterung. Das Fleisch der kleinen Matzke schien ihm überhitzt und verwelkt, es duftete unklar und verdächtig. Ihr Haar und ihre halbnackte Büste fühlten sich feucht an, ihre Oberarme, deren Transpiration durch die Fettschminke hindurchsickerte, klebten an seinen Wangen. Sie hätte sich waschen sollen, meinte er. Übrigens hatte er selbst im Munde einen üblen Geschmack, den er vergebens hinunterzuschlucken trachtete.
›Was fange ich übernächtig und verkatert mit solchem Abenteuer an?‹ fragte er sich.
›Ich finde das Geschöpf einfach widerwärtig‹, setzte er hinzu. Doch zugleich dachte er an Türkheimer, und er richtete sich stolzer auf.
›Er soll sehen, wen er vor sich hat!‹
Dann fielen ihm Adelheid und Köpf ein. Es wurde ihm ganz fröhlich zumute.
›Hierbei brauche ich nicht zu fragen, wen ich denn betrüge. Warte mal, ich betrüge Türkheimer, ich betrüge Adelheid, ich betrüge Köpf und betrüge die kleine Matzke, die mich mit ihm verwechselt. Oder hält sie mich jetzt allen Ernstes für den Märchenprinzen?‹
Er wiederholte, und diesmal mit Entschiedenheit: »Warum nicht?«
Liebling, der sich als der letzte, in überraschend strammer Haltung entfernte, nickte ihm leicht mißbilligend, doch verständnisvoll zu. Der Diener Friedrich schaute zweifelnd nach seiner Herrin aus, aber Frau Kalinke, einen Finger auf den Lippen, schob ihn unter dem heimlichen Knistern ihres Atlaskleides zur Tür hinaus. Andreas blieb, eine leise stöhnende Liebeslast an seiner Schulter, in dem leer gewordenen Saale zurück. Den Kopf voll Sekt, mit entschlummernden Sinnen, vernahm er, wie das Haustor ins Schloß fiel.