Читать книгу Heinrich Mann - Gesammelte Werke - Heinrich Mann - Страница 30

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Träumen heraus.

Andreas dachte daran.

»Warum begeben wir uns also nicht zu dir?« fragte er.

Sie wurde ganz ernsthaft.

»Nanu nee! So was machen wir nich. Was denkst du denn!«

»Du bist zu zartfühlend.«

»Nicht wegen seiner. Aber bei mir zu Hause würde es natürlich rauskommen. Zwar feife ich auf die öffentliche Meinung, aber ich scheue den Skandal vor meinen Leuten. Man soll den unteren Schichten kein schlechtes Beispiel geben. Wo bleibt sonst die soziale Ordnung und all der andere Quatsch. Man immer so tun, als wenn bei die feine Welt allens sauber wäre, das is meine Parole.«

Den Kopf im Nacken, mit feierlich geschwungenem Lorgnon, rauschte sie zweimal über den Teppich. Er runzelte die Stirn. Wahrscheinlich nahm sie weniger Rücksicht auf die soziale Ordnung als auf die eifersüchtigen Wallungen ihres Dieners Friedrich oder Antons, ihres Kutschers. Es war zu fürchten, daß sie einem von ihnen gewisse Rechte eingeräumt hatte; vielleicht auch beiden. Er wußte nicht, wieviel er ihr zutrauen durfte. Er versetzte wegwerfend: »Nun, es ist gut, daß du vorsichtig bist. Schließlich hängst du von Türkheimer ab.«

»Na un du?«

Sie setzte die Hände auf die Hüften. Er maß sie, aus stolzer Höhe.

»Ich verdiene mir mein Geld selber.«

»Tu dir man keinen Schaden!«

Sie sah sich höhnisch um.

»Un denn grüße deine Olle von mir und sage ihr, das Brautgemach wäre süß, und so unschuldig wie sie kann nich jeder.«

Andreas biß sich auf die Lippen. Sie hatte erraten, daß sein Schlafzimmer eine Schöpfung Adelheids war. Schmale goldene Spiralen stiegen die weißseidenen Wände hinan, aus den Winkeln hinaus und verbreiteten sich in Garben über die Decke. Das kostbare Louis-Quinze-Bett erstrahlte in seiner frischen Vergoldung unter einem Thronhimmel von blauem Atlas. In tiefen weichen Fellen versanken die gekrümmten Füße der buntbestickten Sessel.

Bienaimee nahm einen der zarten rosa Fenstervorhänge zwischen zwei gespitzte Finger.

»Daß sie man nich hinausfliegen«, sagte sie. »Weg is weg.«

Dann hob sie das schwellende Polster des Diwans auf und schnüffelte in die Tiefen des Möbels hinein. Er wandte sich errötend ab. Er erinnerte sich des feuchten Blicks und der zärtlich gespannten Miene, mit der Adelheid ihm dieses Gemach erschlossen hatte wie ihr eigenstes Heiligtum. Sie hatte ihre ganze Seele in diese Stoffe gewebt und durch diese schlanken Arabesken geschlungen, und sie erwartete atemlos sein Lob. Natürlich hatte er ihr nur eine kühle Anerkennung gezollt. Ihr Geschmack war überraschend jungfräulich für eine beleibte Matrone. Aber blieb das Zimmer darum nicht wunderhübsch? Er nannte die Witzeleien der kleinen Matzke ungerecht, sie kränkten ihn, und dennoch fand er keine scharfe Erwiderung. Wie oft hatte er Adelheid wegen geringerer Meinungsverschiedenheiten eine Szene gemacht. Aber Bienaimee besaß eine unerklärliche Überlegenheit; sie reizte ihn immerfort und erfüllte ihn doch nur mit einer kindlichen, hilflosen Traurigkeit.

»Ich hätte mich ja auch über die Einrichtung deiner Villa lustig machen können«, bemerkte er endlich. »Aber ich entferne mich nicht gern von dem üblichen Anstande, und ich möchte auch in deiner Gesellschaft an meinen Gewohnheiten festhalten.«

»Sollst du auch, mein Meiseken!«

Sie sprang ihm an den Hals und riß ihn mit sich fort. Durch das Billardzimmer mit den Ledertapeten und den weißlackierten Likörschränken, durch das ernste Arbeitskabinett mit gepunzten Sesseln, geschnitzter Bibliothek und ragenden Blattpflanzen tollten sie in den Speisesaal, wo die Tafel, voll Blumen, die Liebenden einlud. Andreas schickte sich mit Würde zur Erfüllung seiner Wirtspflichten an, aber Bienaimee vermochte heute nichts ernst zu nehmen.

»Daß uns die Männekens da an de Wand man nich in de Suppe spucken!« rief sie, und sie reckte die Zunge aus nach den fünf weißen Büsten, die aus den Nischen der pompejanisch bemalten Mauer herniederblickten. Er verschwendete seine Geduld daran, der Tochter des Genossen Matzke zu erklären, wer Heine, Poe, Baudelaire, Nietzsche und Verlaine waren. Er verehrte sie alle; einige nach gewissenhafter Prüfung, andere auf Treu und Glauben, ohne sie zu kennen. Und nun schauten die Geisteshelden im Vereine zu, wie Andreas mit der kleinen Matzke frühstückte.

Häufig genug kam der junge Mann in Versuchung, die Geliebte zur Tür hinauszusetzen. Dann stellte er folgende Überlegung an: ›Wenn sie mich ärgern will, ist es nur ihre Sache; mich regt es nicht auf. Denn ich behalte sie nicht um ihretwillen, sondern gewisser sozialer Vorteile wegen. Heute weiß das ganze Schlaraffenland, daß ich Türkheimers Mätresse besitze. Mir persönlich gefällt sie nicht, aber zu meiner weltmännischen Erziehung ist sie unerläßlich. Adelheids Liebe war zu leicht, jeden Augenblick konnte ich sie haben. Dieses boshafte, dürre und alberne Geschöpf muß ich jeden Tag neu erobern, und was ich erobere, ist nicht der Mühe wert. Aber es hat in Türkheimers erloschenem Blick eine letzte Flamme entzündet! Ich bin verpflichtet, es zu genießen, gerade weil es so reizlos ist. Das ist eben die hohe Korruption.‹

Der deutlich erkannten Berufspflicht opferte er seine Neigungen. Zuweilen rächten sich seine natürlichen Anlagen, der bäurische Drang nach ungeheurer fleischlicher Fülle übermannte ihn. Dann zwang er sich zu desto größerer Kälte gegen Adelheid.

Sie hatte gehofft, in der Lützowstraße, in diesen Räumen, die das selbsterträumte Kleid ihrer Liebe waren, neue Flitterwochen zu feiern. Seiner bürgerlichen Umgebung, den Klauen gemeiner Menschen, allen möglichen Entweihungen durch den Alltag hatte sie den Geliebten entrissen, um ihn in dieses glänzende und weiche Nest zu betten, das sie beide gemeinsam erbaut hatten, und in das nur sie ihn begleiten durfte, nur sie. Als sie, zum ersten Male im weißseidenen Schlafzimmer, den Kopf zurücklegte und ihm die so oft geküßte Kinnlinie darbot, da hatte sie alle seine alten, schon ermatteten Umarmungen vergessen und dachte nur an die vielen, immer jungen Zärtlichkeiten, die sie ihm aufgespart hatte, und die für ein langes Leben ausreichen würden, unabsehbar. Aber sie schloß erblassend die Augen; seine Lippen waren kalt.

Sie wollte sie an den ihrigen wärmen; wochenlang ließ sie nicht ab. Endlich mußte sie sich seinem Willen fügen, und sie lebten fortan, ohne einen Vorwurf und ohne einen Herzenslaut, in einer lauen Atmosphäre verjährter Freundschaft, die einen guten Tisch und wohlgepflegte Weine braucht, um bei Laune zu bleiben. Adelheid bestellte eigenhändig seine Tafel, sie benutzte seine Ehrfurcht vor den Künsten des Luxus, um sich verstohlen in sein Dasein einzuschmeicheln, das ohne Umschweife ganz ihr hätte gehören sollen. Sie fuhr selbst zu Huster, um Krammetsvögel zu bestellen, Kaviar holte sie von Schischin und Krebse von Martini. Ihre Gedanken an ihn vereinigten sich ganz und gar mit der Sorge um zarte Bissen, und am Ende tat es ihr kaum noch weh, daß sie ihm am wenigsten ungelegen kam, wenn sie eine neue Leckerei mitbrachte. Beim Nachtisch erklärte sich der Erfolg. Und nachdem Andreas seinen Kognak geschlürft und seine Zigarre angebrannt hatte, sah sie ihn mit Entzücken wieder zum Knaben werden, zu jenem ausgelassenen, frühreifen, kleinen Jungen, der so allerliebst mit ihr gekost hatte, damals am Anfang des Winters, in dem ärmlichen Studentenzimmer der Dorotheenstraße. Sie gedachte wehmütig der entschwundenen Zeit.

»Wie schön war das doch damals«, seufzte sie einmal.

»Ich finde es hier bedeutend netter«, sagte er kühl.

Zu seinem Geburtstage, den fünften Mai, hatte sie ein vollständiges Dejeuner von Chevet aus Paris kommen lassen. Es war ein Fest zu zweien. Er saß ihr gegenüber, im Frack, mit gesticktem Jabot, eine Rosenknospe im Knopfloch und elegante Gefühllosigkeit in jeder Bewegung. Adelheid hatte eine Minute des Schmerzes zu überwinden.

›Wo weilt seine Seele?‹ fragte sie sich. ›Was vermag ich über sie? Ach, ich wirke nur auf seine Zungenwärzchen.‹

Und das bleibende Verhältnis auf der Grundlage liebevollen Vertrauens, wovon sie geträumt hatte! Es ruhte jetzt auf der Grundlage von Rehpastete und Ochsenmaulsalat.

Als sie aufstanden, ward ein großes Paket gebracht. Es enthielt ein paar Lampen, und Andreas erkannte die schlanken nackten Blumenträgerinnen, mit denen Bienaimee sich belustigt hatte.

»Du hast dich in Unkosten gestürzt?« bemerkte er mit einem schiefen Blick. Sie verstand nicht, was ihn verstimmte.

»Ich fand sie hübsch. Man sagte mir, daß ein zweites ähnliches Paar von einer sehr hohen Persönlichkeit angekauft ist.«

»Ah! Die Persönlichkeit hat aber einen Geschmack wie eine Kokotte. Entschuldige, ich halte die Dinger für süßen Kitsch, unkünstlerisch und unanständig lüstern.«

»Oh!«

»Ich darf es dir wohl sagen, du hast sie ja nicht gemacht. Kitschig und ganz ohne künstlerischen Ernst.«

»Du bist strenge.«

»Es handelt sich um ästhetische Prinzipien.«

Und noch eine lange Weile verfocht er den Ernst und die Würde der Kunst, so höhnisch und so erniedrigend dünkte ihm der Zufall, daß er von Adelheid dieselben Figuren erhielt, die ihr Gatte der kleinen Matzke geschenkt hatte. Sie flehte umsonst: »Sage mir nur, mein Schätzchen, womit ich dir eine Freude machen kann.«

Endlich unterbrach er sich in einer Periode.

»Gib mir doch eine billige Kleinigkeit. Der Wert einer Gabe wird für mich dadurch bestimmt, ob sie sich auf meine intime Persönlichkeit bezieht. Ich bin Dichter, nicht wahr? Vielleicht hast du bemerkt, daß ich zuweilen fieberhaft an mir umhertaste, mir fehlt dann ein Stück Papier oder ein Bleistift. Übrigens mache ich dir keinen Vorwurf daraus, wenn du es nicht bemerkt hast. Unser Geist arbeitet fortwährend, weißt du. Die Eindrücke gestalten sich, wir können das Werden des Werkes nicht aufhalten, weder beim Essen noch beim Schlafengehen. In allen Zimmern müßte ich Blocknotes zur Hand haben. Daß ich sie nicht längst angeschafft habe, ist eines der Rätsel, die mir meine Natur aufgibt. Aber so ist der intellektuelle Mensch; jede Tat kostet ihn namenlose Mühe.«

Sie kaufte sie ihm, und er riß zuweilen ein Blatt ab, um die Hemden anzuschreiben, die er in die Wäsche gab. Denn er hielt seine Habe zusammen wie ein ländlicher Hausvater. Seinen jungen Groom, der Kompottreste ausschleckte, verjagte er auf der Stelle. Mittags nach dem Bade, im seidenen Schlafrock und die Frühstückszigarette zwischen den Lippen, ließ er sich über die Ausgaben der Wirtschaft berichten, zuweilen besichtigte er den Bestand der Speisekammer. Er speiste um zwei Uhr, machte oder empfing Besuche und pflegte sich gegen Abend in den »Klub der Eroberer« zu begeben. Liebling hatte ihn eingeführt, und er traf dort die Mehrzahl seiner Bekannten: Kaflisch, Blosch, Goldherz und Abell, Stiebitz und den Kommerzienrat Bescheerer, Kapeller, Ratibohr, Bediener, Jekuser, Hochstetten und Claudius Mertens. Die Mitglieder genossen mannigfache Vorzüge; sie fanden stets eine kalte Dusche bereit, einen Masseur und einen Fechtmeister, und durch die Verwaltung bezogen sie, früher als die übrige Welt, die letzten Londoner Neuheiten in Handschuhen, Kragen und Krawatten.

Im Fechtsaal pflegte von sechs bis sieben Uhr der Bankier Ratibohr mit Hahnenschritten umherzugehen. Sein gefährlicher Ruf machte seine Freundschaft begehrenswert. Andreas suchte ihn regelmäßig auf; während des Diners und später im Rauchsalon beim Whisky war er sein dankbarster Zuhörer. Nach Erledigung der Kurse und der Börsenwitze füllten Weibergeschichten den Rest des Abends, und wenn man im »Klub der Eroberer« erzählen konnte, was man wollte, so blieb es doch eine Kunst, sich Glauben zu verschaffen. Andreas lernte sie von Ratibohr; bald verkündete er mit schneidender Stimme die seltensten Abenteuer, und niemand bezweifelte sie, denn sein Blick drohte wie eine Säbelklinge. Nur als er einmal den Namen Claire Pimbusch nannte, ging über Ratibohrs gelbe Duellantenmaske ein dünnes Lächeln. Der junge Mann tat sofort, als habe er nichts gesagt. Übrigens hatte keiner der andern mit der Wimper gezuckt.

Sein Glück im Börsenspiel schien unbesiegbar, und sobald er nachts an der Roulette zu verlieren begann, stand er auf und entfernte sich. Man erkannte seine gesellschaftliche Stellung als befestigt an; mehrmals erfuhr er, daß man ihm mehr Kredit und Einfluß einräumte, als er erwartete. In einer Unterhaltung mit dem Doktor Bediener erwähnte er zufällig die schwierige Lage Diederich Klempners, dem er sein Wohlwollen bewahrte. Er erwärmte sich und behauptete, da der Wohllaut der Rede es zu verlangen schien, daß der Name des berühmten Dramatikers jeder Zeitung zur Zierde gereichen würde. Acht Tage später, als er nicht mehr daran dachte, saß Klempner in der Redaktion des »Patriotischen Arbeitsmannes«, einer volkstümlichen Filiale des »Nachtkurier«. Sein eigener Ruhm mußte in seiner fernen Heimat unermeßlich angewachsen sein. Von Zeit zu Zeit stellte sich ihm, mit einer Empfehlung des alten Herrn Schmücke ausgerüstet, irgendein junger Mensch aus Gumplach vor, der, durch das Beispiel seines großen Landsmannes angereizt, sich der Literatur als Broterwerb zu bedienen wünschte. Andreas erteilte ihm gütige und gewichtige Ratschläge, mit vornehm gelassener Handbewegung über seinen monumentalen Schreibtisch hin; seine Büste, von Claudius Mertens’ Meißel, stand darauf. Mit viel, viel Arbeit könne es jeder so weit bringen wie er selbst. Man müsse sparsam, nüchtern und praktisch sein, auch tue man gut, sich immer mehr zu vergeistigen. Selbstverständlich gehöre etwas Glück dazu. Schließlich überreichte er dem ehrfürchtigen Neuling seine Visitenkarte mit anderthalb Zeilen von seiner Hand, und schon kurz nachher erfuhr er mit Genugtuung, daß sein Schützling die ersten zwei Mark verdient habe.

Allmählich häufte sich das der körperlichen Veredelung dienende Handwerkszeug auf seinem Toilettentisch wie auf dem der kleinen Matzke. Seine Sammlung von Parfüms wurde im Klub von niemand überboten. In einer schwachen Stunde verriet Liebling ihm das letzte Geheimnis der Hautpflege, eine gelbliche milchige Flüssigkeit, die er für Frau Türkheimer und wenige andere Erwählte aus Brüssel verschrieb; es hieß, sie sei menschlichen Ursprunges. Bei Anlage der neudeutschen Barttracht kam ihm der schwache Wuchs seines Schnurrbartes zu Hilfe; er vermochte die Haare einzeln nebeneinander zu legen, bevor er sie bis an das untere Augenlid hinaufführte. Die Härte und Entschlossenheit seines Blicks, die er Ratibohr absah, verstand er durch dunkle Schatten, mit Kohle hergestellt, noch wirksamer zu machen. Ebenso verlieh er der Falte über der Nasenwurzel eine scheinbare Tiefe. Einen Monat lang schmollte er mit Herrn Behrendt, dem er Mangel an plastischer Kraft vorwarf; er bringe seine Büste nicht genügend zur Geltung.

Seit den ersten Frühlingstagen bevorzugte er heliotropfarbene und mattblaue Hemdbrüste. Unter seinem breit umgelegten Beinkleide schimmerte die bunte Seidenstickerei auf seinen schwarzen Socken. Er setzte den braunen Juchtenschuh fester als sonst auf das Pflaster der Friedrichstadt und blickte den Vorübergehenden herausfordernd und voll Verachtung unter die Hüte, ohne ihnen auszuweichen. Wenn er einem andern jungen Manne von Welt begegnete, so war es, als schlichen zwei zornige Kater, mit gesträubten Stacheln unter der Nase, umeinander herum. Es galt, sich gegenseitig Furcht einzuflößen durch stark betonte männliche Tugenden, durch Kälte, brutalen Wirklichkeitssinn und äußerste Reizbarkeit. Ein neunzehnjähriger Gardeleutnant, der mit steifem Ellenbogen in der Hoffnung eines Sieges auf Andreas zuschritt, mußte im letzten Augenblick seinen Irrtum erkennen. Unmittelbar vor dem Zusammenprall vollführte er eine schnelle Wendung mit dem Oberkörper und verbeugte sich leicht.

Darauf war es Andreas zumute, als sei er geadelt worden auf dem Felde der Ehre. Er entfernte das Schild von der Tür seiner Wohnung und ließ ein neues befestigen mit der Inschrift »Andreas zum See«. Er fand, daß dieser Name, wenn noch nicht aristokratisch, doch kaum mehr bürgerlich klinge. Ein heraldisches Büro verschaffte ihm sein Wappen: Zwischen steilen Felsen ein See, aus dem ein nackter Frauenarm sich reckt, ein Motiv voll Sagenahnung. Gern hätte er es auf einen Wagenschlag malen lassen; vorläufig mußte er sich mit dem herrschaftlichen Coupe begnügen, das der Cercle nebst seiner Livree seinen Mitgliedern zur Verfügung stellte.

Rasch und mühelos gewöhnte er sich an eine Lebensweise, von der er früher nur eine traumhafte Vorstellung gehabt hatte wie von etwas Auserlesenem und Unzugänglichem. Hin und her zwischen der Hildebrandtstraße, dem Westend, der Lützowstraße und dem Klubhause, zwischen seinem Blumenhändler, seinem Schneider und seinem Zigarrenlieferanten, zwischen den Theatern, den Restaurants und den Vergnügungslokalen, wo er stets denselben festlichen Freundeskreis wiederfand – immer unterwegs, aber überall zu Hause, geschäftig und doch wie ein gleichmütiger Flaneur, fuhr er kreuz und quer durch das elegante Berlin, nicht anders, als schlenderte er durch seinen eigenen Rosengarten. Alle Genüsse waren leicht und billig geworden, alles Begehrenswerte bot ihm das Heer der Bedürftigen auf sehnsüchtig erhobenen Händen zum Kaufe dar. Der Mechanismus einer ganzen Kulturwelt bewegte sich, arbeitete und produzierte für ihn, bloß damit er genieße.

»Das Leben stellt unerhörte Ansprüche an mich«, sagte er zu Adelheid, der er häufig seine Ideen mitteilte. Sie zeigte sich soviel dankbarer dafür als die kleine Matzke.

»Meine mondänen und repräsentativen Pflichten, meine Position in der Presse und in der Gesellschaft und die stündliche Beherrschung, die jeder öffentlich bekannte Charakter sich aufzuerlegen hat, das alles würde ausreichen, um zehn andere für immer zu beschäftigen. An die Raffinements der Seele würden sie überhaupt nicht mehr denken; ich aber kann nicht darauf verzichten. Man glaubt, mich zu kennen, nicht wahr? Nun wohl, niemand weiß, wer ich bin. Ich besitze, fast möchte ich sagen leider, ein zu empfindliches Organ für den kaum erst wahrnehmbaren Hauch des Zeitgeistes. Ah! Wie wenige sind wir im Grunde, in ganz Europa verstreut, die es besitzen. Wir bilden sozusagen einen Geheimbund, mit der Absicht, zu fühlen, was keiner fühlt, die erst zu erfindenden Verfeinerungen, den noch ungeborenen Kitzel einer hohen geistigen Korruption. Fühlen, das ist alles! Was bedeutet es, Gedichte zu verbrechen oder einen Roman zu schreiben?«

Er schrieb keinen. Dagegen scheuchte die Gewöhnlichkeit der kleinen Matzke, die Verbrauchtheit aller Genüsse und die stumpfe Wiederkehr stets glücklicher Tage den Feinfühligen immer häufiger in einen Winkel seines Billardzimmers und tief in das Polster des Ledersofas vor der geöffneten Spiegeltür des weißlackierten Likörschrankes. Wenn er die öligen Schnäpse der Holländer die Zunge entlanggleiten ließ, so tauchten über ihm, dicht vor seinem Gesicht, aus Schleiern, die ihn wie Sommerluft liebkosten, goldige Glieder hervor, schmelzend weich zu berühren und dennoch ungreifbar. Er trank zwei Gläschen grüner Chartreuse, und ein brennender, aufstörender Reiz zwang ihn, die Arme emporgestreckt und das Antlitz verklärt, zur Traumjagd nach den Freuden des Übersinnlichen, nach Weibern, die an unsere Brust geschmiegt nur ein Gedanke sind, oder deren Geschlecht verklärt wird durch die unerhörten Künste entlegener Zeiten, nach Helena in ihrem Grabe und nach der Frau der Zukunft im Schatten des Niegewesenen. Schluchzend vor metaphysischem Bedürfnis sprang er auf; er hatte einen Schluck von Pimbuschs Fusel genommen.

Sogleich verschaffte er sich einige purpurne Kerzen mit Sternchen von Stanniol sowie etwas Weihrauch. Mehrere Tage lang genoß er nur ein wenig Honig aus Athen. Er ließ eine leerstehende Kammer mit mattfarbigen, fadenscheinigen Stoffen behängen, und aus Kisten, die er mit Teppichen verkleidete, ward etwas wie ein Altar. Dann entbot er die kleine Matzke zu sich.

Beim Anblick seiner bleichen, feierlichen Miene verstummte sie; das Gewissen schlug ihr. Vor Verwunderung hielt sie ganz still, als er ihr zwei mächtige, schwer zu Boden wallende Brokatstickereien auf Brust und Schultern legte. Er faßte ihre Hand und führte sie in sein dämmeriges Heiligtum; die Lichter brannten hinter halb geschlossenen Vorhängen. Sie war bereits die Stufen hinangeschritten, sie stand droben zwischen dampfenden Becken. Die Luft verdickte sich vom Duft welkender Blumen und verbrannter Kräuter. Ein Knie gebeugt, schwang er vor ihr den Kessel.

Plötzlich fiel sie dem in Andacht Versunkenen auf den Hals. In ihren byzantinischen Talar verwickelt, kugelte sie mit ihm über den Estrich.

»Nu wird’s Dag«, kreischte sie. »Du meinst woll, ich brauche keine Luft zu ’n Leben, daß de mir de Neese vollqualmst.«

»Ruhig! Du beträgst dich würdelos!«

»Ich feife auf Würde. Wenn ich doch geräuchert werden soll wie ’n Stockfisch!«

»Bienaimee! Du weißt nicht, was du in mir zerstörst!«

»Dich reitet woll ’n Dummer? Was bil’t er sich für Schwachheiten in?«

Er mußte sie ausreden lassen, froh, als sie dem Erlebnis eine belustigende Seite abgewann. Sie ergriff ihn und drehte ihn, trotz seiner Gegenwehr, im Galoppschritt um den Altar. Dabei sang sie mit herzhafter Kinderstimme: »Dussel muß sterben, is noch so jung, jung, jung.«

Diese Erfahrung verbitterte ihn. Er hatte Stimmungen, in denen er fast geneigt war, es mit dem Geiste der Niedrigkeit und des Aufruhrs zu versuchen. Er fragte sich: ›Wie, wenn meine unbefriedigte Seele satanistischen Gelüsten anheimfiele?‹

Aber wer würde ihm dabei behilflich sein? Adelheid war für solche Dinge zu gutmütig, die kleine Matzke zu profan. Er verzweifelte.

›Ich kann doch nicht ein Inserat in den »Nachtkurier« rücken: Wo findet feingebildeter Herr gemütlichen Familienanschluß zwecks Abhaltung schwarzer Messen und so weiter.‹

Da überlief ihn ein jäher Schauer; er hatte an Frau Pimbusch gedacht. Er sah sie vor sich, wie sie damals im Türkheimerschen Salon die kleine Werda Bieratz abwechselnd umarmte und verwundete, und er hörte wieder das Wort des jungen Dichters aus der Schar der Namenlosen: »Das ist ja der reine Sadismus.« Oh, ihre höhnische Grimasse, die an jenem Abende des Triumphes, nach der Aufführung der »Verkannten«, sein Fleisch aus seiner Ruhe gepeitscht hatte! Oh, die Flocken ihres karminroten Haares, die gegen seine heiße Stirn geschlagen waren!

›Sie hat mich doch verführen wollen. Warum bin ich ihrer Aufforderung eigentlich nicht gefolgt? Ach ja, das banale Leben hat mir auch dazu keine Zeit gelassen. Übrigens, wer weiß? Vielleicht gehe ich einem Abenteuer voller Rätsel und seltsamen Gefahren entgegen.‹

Um sich Mut zu machen, schlug er abends dem Bankier Ratibohr, ohne das dünne Lächeln auf seiner gelben Duellantenmaske zu beachten, eine Wette vor, es werde ihm innerhalb vierzehn Tagen gelingen, Claire Pimbusch zu erobern. Solche Wetten waren vom Wesen des Lebemannes unzertrennlich; sie kamen alle Tage vor, er hatte unzählige Male davon gelesen. Am folgenden Nachmittage fand er sich im Hause Pimbusch ein.

Ein ernster blasser Diener, schwarz gekleidet und von gemessenem Betragen, öffnete ihm geräuschlos eine gepolsterte Tür. Er stand in einem Gemach, wo im grünlichen Halbdunkel ein Geheimnis zu schlummern schien. In der Mitte, auf der Ottomane, regte sich etwas Weißes. Er näherte sich, und die Hausfrau lud ihn zum Sitzen ein. Sie schwieg; Andreas räusperte sich, er sah erschreckt umher. Jeder Laut verschwand, aufgesogen wie eine Flüssigkeit von der Watte, mit der alles dick ausgelegt war: die weißseidenen Wände, die Möbel, die Teppiche, die Decke. Man fühlte sich allen Härten des Daseins entrückt, frei von Druck und Stoß. Alles wurde weich, leicht, luftig, und es war, als schwömme man, vom Boden emporgehoben, vom Körper befreit, in eine grün beleuchtete Traumwelt hinein, in der Visionen ohne Sinn und Namen die Seele ängstigten und berückten. Phantastische Pflanzen, mit Knollen gleich Gesichtern, bewegten ihre fleischigen Blätter, wie wenn Tiere die Glieder reckten. Sterbende Soldaten, blutend aus gräßlichen geschlitzten Öffnungen, lagen auf grellem Schnee, über den langbärtige Spukgestalten in schwarzen Kaftanen herbeiflatterten. Sie waren angelangt, sie machten Krallen und griffen in die Wunden hinein, um Kleinode daraus hervorzuholen. Einer biß einem Offizier den Finger ab, der einen widerspenstigen Ring trug. Ein anderer schwang ein Messer und langte nach einem bleichen Kopfe, auf dem die Haare sich sträubten; es hing an dem Halse des Geängsteten ein Amulett an goldener Kette, deren Schloß nicht aufging. Auf einer Estrade, über die ein schwarzsilberner Läufer herabfiel, wand ein behaarter Unhold, möglichenfalls das ersehnte Mittelglied zwischen Affe und Mensch, einen seiner abscheulich langen Arme um eine unreife, vor Furcht vergehende Mädchengestalt mit wehenden roten Flechten. Den anderen schnellte er alle fünf Minuten wuchtig geradeaus, gegen einen unsichtbaren Verfolger. Andreas befand sich auf seinem Platze in ständiger Gefahr, eine Ohrfeige zu erhalten.

»Ich habe geträumt«, sagte Frau Pimbusch mit einem Gähnen. »Ätherträume. Ein wenig zu schwer, aber was wollen Sie, man entflieht aus der blöden Wirklichkeit, so gut wie man’s versteht. Sie kennen Ätherträume?«

»Leider nein, gnädige Frau, aber ich vermute, sie würden mir ungemein zusagen.«

»Man muß sich daran gewöhnen. Ich habe es auf mehr als einen halben Teelöffel gebracht. Die Welt ist langweilig, nicht wahr? Man erlebt nichts. Aber wenn ich meinen halben Teelöffel verschluckt habe, erlebe ich alles, was ich will. Die Brust wird leer, das Dasein hat kein Gewicht mehr, ich fühle nichts als die Wallungen meines Herzens, hoch und immer höher. Es schlägt weite Wellen, die mich forttragen.«

»Wohin, wenn ich fragen darf?«

»Überallhin. Ich fahre durch die Welt, genieße Dinge, die es gar nicht gibt, bestehe Abenteuer und werde manchmal sogar ermordet. Das heißt, ich erhole mich immer gleich wieder.«

»Aber das wäre ja ganz mein Fall!« rief Andreas, der sich zu begeistern anfing. Frau Pimbusch sprach mit müder, gläserner Stimme weiter.

»Ich versichere Sie, es gibt weite Reisen, von denen ich durchaus nicht weiß, ob ich sie gemacht habe oder nicht. Habe ich sie nur geträumt? Nun, schließlich wäre es dasselbe.«

»Es wäre sogar schöner.«

»Wir verstehen uns. Einmal bin ich geradezu von Räubern gefragt worden, ob ich Geld bei mir habe.«

»Ah?«

Sie merkte, daß sie ihn enttäuscht habe, und setzte hinzu: »Es hätte sogar noch schlimmer kommen können. Ich fuhr mal nach Italien, ein Freund hatte mir von dort geschrieben, die Gegend sei so schön. Wie ich aussteige, ist kein Omnibus da. Ein unheimlich aussehender Kerl bietet mir einen Einspänner an. Na, nachts im Einspänner … Ich übernachte also im Wirtshaus. Na, das Wirtshaus! Unten sitzen bloß lauter scheußliche Italiener, ganz gelb, und deutsch versteht keiner. Sie geben mir das Galazimmer, es stehen zwei Betten darin! Ich bekomme es schon mit der Angst. Ich hebe die Kissen auf, aber es ist nichts darunter. Die Türen schließen nicht, um das Haus läuft ein Balkon; wer will, kann einsteigen. Ich verbarrikadiere mich mit meinem Koffer, aber was hilft das? Ich höre draußen immerfort was kratzen, ich versichere Sie, stundenlang kratzt es, und ich weiß noch heute nicht, was es gewesen ist.«

»Vielleicht Mäuse?«

»Oh! Wie können Sie das sagen! Als ich am nächsten Morgen aufwache, bin ich ganz verwundert, daß ich noch da bin. Nun fahre ich also mit dem unheimlichen Einspänner, ein anderer ist nicht zu haben. Aber vielleicht hätte ich ihn selbst dann genommen. Sie verstehn? Kolossal schöne Gegend, ich schwelge natürlich. Da dreht sich plötzlich der Kutscher auf seinem Sitz nach mir um, macht eine unheimliche Gebärde und fragt mich was. Ich verstehe nicht, aber mir ahnt, daß ich etwas erleben werde. Schließlich höre ich, daß er nichts von mir will als Geld, der Elende. ›Aben Sie Gold?‹ Ich sage: ›Nein, jetzt kann ich Sie nicht bezahlen‹, und mache ein recht unschuldiges Gesicht dabei. Als wir dann ankommen auf dem Lande bei meinem Freunde und ich mein Portemonnaie ziehe, da sieht mich der Kerl so an, na, Sie wissen wohl, mit einem so durchbohrenden Blick, als wenn er hätte sagen wollen: Hätte ich gewußt, daß du soviel Gold bei dir hast …«

»Unerhört!« stieß Andreas hervor, gekränkt im Rechtsgefühl des Besitzenden. Aber sie lächelte verächtlich.

»Finden Sie? Ich habe es meinem Freunde gesagt, und der hat den Kerl belangt.«

»Ah!«

»Sie verstehen mich nicht. Wegen des Raubversuches hätte ich ihn wahrscheinlich gar nicht angezeigt.«

»Sondern?«

»Anfangs, als ich seine Frage noch nicht begriff, da habe ich ja ganz was anderes erwartet. Sie ahnen noch nichts? Nein? Ich glaube, er wollte mich vergewaltigen.«

»Oh, wie schrecklich!«

»Scheußlich, nicht wahr? Und daß er dann bloß mein Geld wollte, das konnte ich ihm nicht verzeihen. Darum habe ich ihn mit einem besonderen Gefühl der Polizei übergeben, wie soll ich sagen, mit einer Art Wollust … Es war auch ein schöner Mann, sehr braun und kräftig.«

›Schon wieder der Sadismus‹, dachte Andreas.

Er äußerte: »Gnädige Frau haben sich wirklich sehr mutig gezeigt. Haben Sie damals in Italien noch mehr erlebt?«

Sie kicherte.

»Habe ich es erlebt? Wer sagt Ihnen, daß ich nicht Äther genommen hatte. Übrigens interessiert mich Italien nicht weiter, es ist mir zu süß. Wie lebt solch ein Italiener? Er denkt nur daran, die Fremden zu bestehlen und einem andern ein Mädchen wegzunehmen. Er gibt seinem Rivalen einen Stich zwischen die Rippen und holt sich in der nächsten Kirche die Absolution, damit ist es wieder gut. Das alles passiert in einer unverschämt blauen Gegend ohne Stimmung. Nein, ich bin für den Norweger. Er sitzt in einer Holzbude, wo es nach Tran riecht, und quält sich halbtot mit Grübeln über Gott, Satan, alle seine Gedankensünden und die ewigen Strafen, die die Hölle ausdrücklich für ihn erfunden hat. Der Mann hat doch wenigstens eine Seele.«

»Wenn auch eine muffige«, sagte Andreas, Beifall nickend. Er überlegte.

»Der Mann hat mit seiner raffinierten Selbstmarter eigentlich auch etwas Sadistisches. Was halten gnädige Frau vom Sadismus, wenn ich fragen darf?«

»Oh, sehr fein. Hätten Sie übrigens dem Direktor Kapeller so was zugetraut? Er weiht das ›Deutsche Volksballett‹ mit einem ›Coucher‹ ein.«

»Er konnte wohl nichts Älteres erfinden?«

»Nichts Neueres, mein Lieber. Bei diesem Coucher sieht jemand durchs Schlüsselloch. Die Dame nestelt gerade ihr Kleid auf, da klopft es: ein Liebhaber, der nicht warten kann. Aber sie ist unentschlossen, sie streift den Rock ab. Er lärmt stärker, beginnt zu schelten; sie findet das brutal und macht sich an ihrem Korsett zu schaffen. Plötzlich wird es still, man hört durch das Schlüsselloch seine keuchenden Atemzüge. Sie fängt an, ein heftiges Vergnügen zu empfinden. Sehr begreiflich, nicht wahr? Sie löst ihr Haar, geht daran, sich zu waschen – Er fleht hinter der Türe, ganz windelweich. Dann wieder ein Wutausbruch, er versucht, das Schloß zu erbrechen; umsonst, und er weint, herzzerreißend. Auf einmal stirbt er! Ja wirklich, er stirbt! Man hört ein widerwärtiges Röcheln. Sie lächelt glücklich ins Publikum und zieht sich langsam und mit Genuß das Hemd über die Schultern. Sehr fein, finden Sie nicht?«

»Sehr fein«, wiederholte Andreas. »Überhaupt der Sadismus.«

Sie seufzte; dann streckte sie einen Arm aus, um auf einen Knopf am Boden zu drücken. Sogleich setzte der Tisch an ihrer Seite sich in Bewegung. Er rutschte lautlos über den Teppich, verschwand hinter einem Vorhang und kehrte bald aus der gegenüberliegenden Wand ins Zimmer zurück. Er brachte Tee und Zigaretten mit. Frau Pimbusch sog den süßen Duft des verbrannten Tabaks begierig ein.

»Ah! Der Sadismus«, bemerkte sie. »Zum Beispiel, wenn ich Fleisch esse. Sie verstehen doch, das Fleisch unserer Mitgeschöpfe!«

Hierauf versank sie in ein Schweigen, schwer von Sinnen und Begehren. Er beobachtete, wie ihre Nasenflügel sich öffneten und sich schlossen. Angesichts ihres Haares gedachte er mit Bitterkeit und Verachtung des feurigen Werges, das gedankenlos um den Kopf der kleinen Matzke zottelte. Auf Claire Pimbuschs Haupte brütete ein Rausch; die bleichen Leiber verbuhlter Träume stiegen an dem tiefen Karmin ihrer Flechten auf und nieder, mit traurigen, verderbten Gebärden.

›Meine Wette ist halb gewonnen‹, sagte er sich. ›Wozu habe ich mir vierzehn Tage ausgebeten? Ich könnte sie mir schon heute nehmen, gleich, wie sie da liegt. Sie wartet vielleicht bloß darauf? Aber ich habe für diesmal genug geleistet, es wird klüger sein, ihre Einbildung sich mit mir beschäftigen zu lassen. Wenn ich wiederkomme, hat sie schon nichts mehr zu verlieren.‹

Er ging, um im Klub von seinem Erfolge zu berichten.

»Die Frau hat etwas Unmenschliches, das Grauen einflößt. Es gehört Mut zu dem, was ich vorhabe, meine Herren, viel Mut sogar. Sie kommt mir vor wie das verkörperte Laster: ein Symbol.«

»Ach was«, sagte Doktor Klumpasch, »die Ärmste ist ja überhaupt ganz krank, und Sie, Verehrtester, leisten ihr Vorschub mit Ihrer Neurasthenikerphantasie.«

Andreas’ Blick schüchterte ihn ein, er verbesserte sich.

»Ich meine natürlich mit Ihrem Dichtergemüt. Entschuldigen Sie meine wissenschaftliche Ausdrucksweise.«

Bei seinem folgenden Besuche bat sie um Auskunft über die körperlichen Eigenschaften der Herren, in deren Gesellschaft er badete und sich kneten ließ. Der eine verbarg seine ungleichen Hüften, der zweite seine Plattfüße, der dritte einen noch unangenehmeren Schaden unter den kunstvollen Hüllen aus dem Atelier Behrendt. Jede Einzelheit erregte ihre heiße Teilnahme. Allmählich staunte er sie an wie eine Zauberin; unter den Händen der Fee Pimbusch ward alles, auch das Harmloseste, unzüchtig. Sie sprach von dem Kinderreichtum ihrer Freundin Mohr, einer guten Familienmutter.

»Was mich anbetrifft, ich verhüte den Kindersegen durch infame Kunstgriffe«, sagte sie langsam und deutlich. Sodann stellte sie eine Frage.

»Ich nehme an, Sie hintergehen Ihre beiden Geliebten, deren Namen jeder kennt, mit irgend jemand, zum Beispiel mit mir. Würde Ihnen das Spaß machen? Was würden Sie dabei fühlen?«

Er antwortete etwas unsicher.

»Es täte mir vermutlich leid, aber die Leidenschaft würde mit mir durchgehen?«

»Weiter nichts? Ich selbst, ich werde ohnmächtig vor Vergnügen, sobald ich mich in Ihre Lage versetze. Ich würde mir die beiden Damen vorstellen, zusammen, ich will nicht sagen wie …«

Sie schloß die Augen und drückte auf einen zweiten Knopf am Boden. In der weißseidenen Tapete entstand ein rundes, schwarzes Loch, und eine hohle Stimme begann Verse herzusagen.

»Sur ta chair le parfum rode

Comme autour d’un encensoir.«

Frau Pimbusch stöhnte.

»Et tu connais la caresse

Qui fait revivre les morts.«

Sie schnitt plötzlich eine Grimasse, dieselbe, die ihn schon früher so tief beunruhigt hatte. Ihre blutroten Mundwinkel krümmten sich, zwischen den geschwollenen, geröteten Lidern spielte ein grünliches Licht. Das grünliche Licht des Gemaches schien nur von ihr auszugehen, sie schwamm darin mit dem mattweißen, fischigen Fleisch ihrer Glieder, es war wie ein heimliches, lüsternes Plätschern, das ihm die Sinne gefangennahm. Von drüben, aus dem Dunkel, tönten dumpfe Worte:

Quelquefois pour apaiser

Ta rage mysterieuse,

Tu prodigues, serieuse,

La morsure et le baiser.

»Was würden Sie zu einer Geliebten sagen, die, um eine rätselhafte Gier zu stillen, Sie abwechselnd beißt und küßt?«

Er schnappte nach Luft, ohne den verlangten Aufschluß zu geben. Ratlos starrte er das unholde Mittelglied zwischen Mensch und Affe an, das kräftiger als je seinen abscheulichen Arm um die zitternde Mädchengestalt preßte. Der Anblick beschämte Andreas. Eine Gardine blähte sich, der sommerliche Regentag schickte seinen feuchtheißen Atem durchs Fenster.

Unvermutet neigte er seine perlende Stirn tief über die Regungslose. Sie antwortete verfrüht auf eine Bewegung, die er noch gar nicht ausgeführt hatte, und erhob ein verzweifeltes, durchdringendes Gekreisch, voll kopflosen Abscheues und wahnsinnigen Grauens. Das brennende Gesicht zwischen den Fäusten, fuhr Andreas zurück; eine kalte harte Hand hatte ihm einen fürchterlichen Backenstreich versetzt. Er sah sich um; war hier wirklich alles verhext? Woher nahm das schreiende Weib soviel Kraft? Seine Wange blutete. Auf einmal stand er auf, ernüchtert und abgekühlt; es war ja das ekelhafte Mittelglied gewesen, das regelmäßig alle fünf Minuten seine behaarte Tatze gegen einen unsichtbaren Verfolger ins Leere schnellte.

Die Tür war geöffnet worden, Pimbusch, der ein wenig Brillantine auf seinem Schnurrbart zerdrückte, kam herbei.

»Was ist denn los, liebe Claire«, fragte er. »Du leidest wohl?«

Er bemerkte den jungen Mann, der sich am Tische zu schaffen machte.

»Ah, Herr Zumsee, sehr erfreut, Sie zu sehen. Sie wollten meiner armen Frau gewiß helfen? Na lassen Sie man, es ist nichts zu machen, wenn sie schreit. Ich kenne das.«

Plötzlich stutzte er, die verlegene Schwüle belästigte ihn. Seine Gattin gab von Zeit zu Zeit einen rauhen Laut von sich, dann wälzte sie den Kopf in die Kissen und lachte gellend, immerfort. Pimbusch sah Andreas an; sein Schweigen klärte den Ehemann vollends auf. Er zog die anmutig dargebotene Hand fast erschrocken zurück, betrachtete sie ängstlich und führte den langen, zart geschliffenen Nagel des kleinen Fingers an die Lippen.

»Was haben Sie denn gemacht?« sagte er leise und schnell, mit einem verbindlichen Lächeln. »Ich merke schon, Sie haben – sonstwas versucht. Aber Sie irren sich, Verehrtester.«

Er wiederholte eindringlich, und als ob er sich entschuldigte: »Sie befinden sich tatsächlich im Irrtum.«

Andreas nahm sich zusammen, er erklärte frei und ritterlich: »Herr Pimbusch, ich erbiete mich zu jeder Ihnen beliebigen Genugtuung für meinen Eingriff in Ihre Rechte.«

Der Schnapsfabrikant hüpfte auf den Absätzen empor.

»Eingriff? Bitte, greifen Sie mal ein! Erst können!«

Die Genugtuung, die er erhalten sollte, erregte ihn sichtlich.

»Sie treten ja mit ganz falschen Voraussetzungen an die Sache heran«, rief er in der Fistel, und belehrend, die Brauen ernsthaft hinaufgezogen, setzte er hinzu: »Wie gesagt, ich versichere Sie, daß der von Ihnen gewünschte Eingriff überhaupt ganz unausführbar ist. Ich habe gar nicht nötig, ihn Ihnen zu verbieten, er verbietet sich von selbst. Sie verstehn?«

In der heftigen Besorgnis, ganz unnötigerweise seine Ehre rächen zu sollen, wiederholte er mehrmals dasselbe. Endlich mußte Andreas ihn wohl begreifen; es schien ihm darauf, als ob hier nichts mehr zu tun und nichts zu sagen sei. Er senkte das Haupt und entfernte sich, nicht sehr stolz, verfolgt von dem krampfhaften Gelächter der jäh enträtselten Dame und von dem Geplapper des Gatten mit den unverletzbaren Rechten.

›Ich hatte also doch noch Illusionen zu verlieren‹, sagte er sich draußen, und der Gedanke erbitterte ihn gegen Frau Pimbusch. Was war das für ein Geschöpf, was für ein Benehmen! Und ihre Ideen! Italien war eine schöne Gegend, die von Briganten unsicher gemacht wurde, nämlich von ein paar Mäusen und von einem Kutscher, der seine Bezahlung vorausverlangte. Dann kam der bekannte schöne Mann, »sehr braun und kräftig«, mit dem alle Geschichten der Dame schlossen; andernfalls hätte sie sich für tief gesunken gehalten. Ihre Unanständigkeiten waren gerade so philiströs wie bei andern die Prüderie. Aber was konnte man von den Leuten verlangen? Wie einfältig, dort die hohe geistige Korruption der wenigen erlesenen, in ganz Europa verstreuten Genießer zu suchen, wo nichts zu finden war als entartete Dummheit, schlechte Nerven und krankes Fischblut und, wenn es hoch kam, eine mißratene Formenbildung wie bei dieser Unglücklichen. Diese Leute taten, was sie konnten, um alle ihre bürgerliche Moral loszuwerden, und handelten doch kein Spürchen Geist dafür ein. Griseldis von Hochstetten, die hochnäsige alte Jungfer, die es sich erlaubte, die Leute zu verachten, von deren Almosen sie lebte, hatte im Grunde recht; es gab im Schlaraffenland doch nur brave Bürger.

Frau Pimbusch, deren Kopf einer farbenprächtigen, gedunsenen Giftblume auf einem zu dünnen Stengel glich, was war sie, wenn man näher zusah?

Andreas antwortete hierauf: ›Eine von Hysterie befallene Buchholz.‹

Heinrich Mann - Gesammelte Werke

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