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pitalistenschklavin«. Der ehemalige Proletarier war, seit er nicht mehr auf Gummirädern fuhr, zu revolutionären Anschauungen zurückgekehrt.

Da das Familienleben ihn wenig anheimelte, verbrachte Andreas viele unbeschäftigte Stunden in seinem Redaktionsbüro. Er lehnte sich an den schönen Herbsttagen gern aus dem Fenster. An der Hausmauer blitzten in der Sonne die mannsgroßen Relieflettern, zu denen er einst, nach seinem ersten Besuche bei Doktor Bediener, den betörten Blick erhoben hatte, voll von Hoffnungen und Begierden. Jetzt hatte er sie unter sich; alles war erreicht und erledigt. »Berliner Nachtkurier«: so hieß die erste Haltestelle auf seiner Fahrt durch das Schlaraffenland, und so hieß die letzte. Die Reise war beendet. Zuweilen, wenn er über den Gegenstand nachdachte, stellte er sich die Frage: ›Wozu?‹ Er antwortete darauf: ›Wie oft bedienen sich Natur und Schicksal großer Mittel, um ein verhältnismäßig unbedeutendes Resultat zu erzielen. Ich bin Modelöwe, Berühmtheit und, meinen Renten nach, fast schon Millionär gewesen und habe jetzt dreihundert Mark monatlich. Aber die höhere Absicht in dem allen war: ich sollte nicht ein wissenschaftlicher Hilfslehrer am Progymnasium zu Gumplach werden, sondern Redakteur des »Nachtkurier« – was denn doch ein Unterschied ist.‹

Wenn ihn der Drang zu arbeiten überkam, so blätterte er wohl in einem Manuskript, das Köpf ihm zur Prüfung überreicht hatte. Seit er sah, wie Andreas von seinen eigenen Gedichten soviel er mochte in der »Neuzeit« abdruckte, konnte sich der Romancier den Wunsch nicht versagen, durch die Protektion seines ehemaligen Zimmernachbars in das Beiblatt des »Nachtkurier« zu gelangen. Das Vergnügen, die Menschen zu durchschauen, tröstete Andreas leicht über diese unerwartete Niedrigkeit des Freundes. Übrigens hatte sein Verhältnis zu Köpf seit der Episode des Märchenprinzen eine Trübung erfahren; und wenn er ihn wegen Bienaimees verliebter Laune unmöglich zur Rechenschaft ziehen konnte, so war dies für Andreas begreiflicherweise ein Grund mehr, den Kollegen unangenehm zu finden. Köpfs Roman erregte in ihm ein ehrliches Mißfallen, das er oft in Worte zu kleiden trachtete. Er fand jedesmal nur einen einzigen Satz, den er eines Abends zu Papier brachte und dem Verfasser übermittelte. »Ihr Werk macht sich leider über die höchsten Güter lustig, und bedauern wir deshalb ergebenst, es für unser Organ nicht verwerten zu können.«

Tags darauf trat Köpf, seinen Brief in der Hand, bei ihm ein.

»Kommt dies von Ihnen?« fragte er bescheiden.

»Natürlich. Warum.«

»Ich meinte nur.«

»Verstehen Sie mich recht, ich sage nicht, daß Ihr Manuskript nichts taugt, aber das deutsche Volk wird entschieden lieber darauf verzichten.«

»Ich glaube fast selbst.«

»Na sehen Sie. Mein persönliches Gutachten geht dahin, daß Sie sich da auf Dinge eingelassen haben, von denen Sie nichts verstehen. Was wissen Sie denn von unserer feinen Gesellschaft? Sie haben das Ganze, wenn ich ein Gleichnis gebrauchen darf, aus der Luft gegriffen.«

»Sie haben ja recht, Herr Kollege, aber ich dachte, mit Talent …«

»Oh, Talent!«

Andreas erinnerte sich an Doktor Klumpasch, den weltmännisch geschulten Arzt.

»Sie meinen Neurasthenikerphantasie. Was Talent anbetrifft …«

Er richtete sich stolz auf, um die modernste unter den ihm bekannten Ansichten von sich zu geben: »Talent ist das, womit man Geld verdient.«

»Dagegen ist natürlich nichts einzuwenden«, sagte Köpf.

Andreas empfand Mitleid mit dem Enttäuschten.

»Ich gebe Ihnen harte Wahrheiten zu kosten«, äußerte er.

»Bitte darum.«

»Sie sind gallig und unglücklich, mein Lieber, wie Ihre Satire – und die stimmt nicht mal. Ihr Held geht inmitten der Jobberweiber unter. Ja, meinen Sie, daß jemand, der wert war, zu leben, überhaupt untergeht? Ohne Unbescheidenheit: bin ich selbst denn untergegangen? Man unterhält sich, man läßt sich der Wissenschaft zuliebe mit den Leuten im Schlaraffenland ein, man sammelt Dokumente über sie. Himmel, was für Dokumente und was für Leute!«

Er begann, durch fingierte Kotelettes zu streichen und sich am Kinn zu scheuern. Er setzte sich einen Klemmer vorn auf die Nase und ging mit kleinen unsicheren Schritten, den Bauch vorgeschoben, auf Köpf zu.

»Mein Name ist Ausspuckseies«, sagte er mit Türkheimers schleppender, leicht näselnder Stimme, »Generalkonsul Ausspuckseies, und hier ist meine Frau, geborene Rinnsteiner.«

Köpf betrachtete leise kichernd den jungen Mann, der sich atemlos, rot im Gesicht, die Seiten hielt.

»Endlich erkenne ich Sie wieder«, bemerkte er.

Langsam gewann Andreas seine Haltung zurück.

»Aber man behält sich doch in der Gewalt«, versetzte er, noch ein wenig mühsam, »man bleibt Herr der Situation. Und wenn man eines Tages genug hat von den Patschuli- und Kloakendünsten – o mein Gott, ich empfand nachgerade ein unwiderstehliches Bedürfnis nach Reinheit.«

»Und da haben Sie das Fräulein Matzke geheiratet.«

Köpf nickte ernst. Es entstand eine kurze Pause. Plötzlich sagte er: »Tusch.«

»Wie meinen Sie?«

»Hören Sie nicht? Man bläst Tusch.«

Sie lauschten. Es drangen fremdartige Töne zu ihnen, erst vereinzelt; dann ward ein Getöse daraus, ein stoßweises Brausen und Donnern, das die Fensterscheiben erschütterte und die Hörer mit wildem Schrecken und mit kriegerischer Leidenschaft erfüllte, als rührte es von einem epischen Siegeszuge.

Die Tür ward aufgerissen, Kaflisch stürzte herein.

»Sie kommen!« schrie er.

Sofort hängte er sich, mit den Beinen zappelnd, weit aus dem Fenster.

Köpf und Andreas sahen die Leipziger Straße hinauf. Es nahte ein wimmelnder Haufe, in dessen Mitte sich ein turmartiges Gebäude erhob. Etwas nicht Erkennbares blitzte und funkelte über den Köpfen aller. Kaflisch war der erste, der etwas unterschied. Er zog sein Notizbuch und diktierte sich selbst.

»Um zwei Uhr zweiundvierzig Minuten fuhr ein prächtiger ungarischer Dunkel-Honigschimmel-Viererzug über den Dönhoffplatz und am Hause des Berliner ›Nachtkuriers‹ vorüber.

Passen Sie auf!« rief er über die Schulter hinweg, »wenn Sie dies versäumen, können Sie einpacken. Es kommt nicht wieder.«

»Wer lenkt denn?« fragte Andreas. »Nanu, Ratibohr?«

Der Lärm setzte aufs neue ein, diesmal ehern, übermächtig und erbarmungslos. Sie entdeckten endlich, was es war. Auf den hinteren Treppen eines pyramidenartig aufgebauten Jagdwagens standen vier grünsilberne Lakaien, die aus schlanken, zwei Meter langen Posaunen über die Häupter der Insassen hinschmetterten. Das Gefährt war voll eleganter Herren, die einen in weidmännischer Ausrüstung, die andern mit Zylinder und hellem Überzieher. Auf der höchsten Bank befand sich Türkheimer, an der Seite eines kleinen schwarzen Menschen. Kaflisch diktierte: »Zur Rechten des großen Finanzmannes erblickte man die sympathisch fremdartige Erscheinung des Großfürsten der Walachei, der eigens die Reichshauptstadt aufgesucht hat, um für seinen Plan, die moderne Kultur in sein Land einzuführen, die Unterstützung des Bankhauses James L. Türkheimer zu gewinnen.«

»Also noch mal siebzig Millionen«, sagte Andreas, ganz überwältigt.

Der Wagen war unter ihrem Fenster angelangt, er mußte einen Augenblick anhalten, das Gewühl ward zu groß. Hunderte von jauchzenden Bummlern umdrängten die Pferde, daß sie scheuten. Ratibohr peitschte auf die Menge ein, das erhöhte ihre Begeisterung. Kleine Mädchen mit Schulranzen kreischten und klatschten in die Hände, Passanten blieben stehen und lüfteten die Hüte, Schusterjungen warfen die Mützen in die Luft, Schutzleute standen stramm und grüßten. In den vorbeirollenden Droschken erhoben sich die Fahrgäste, von der Imperiale eines Omnibus fiel jemand herunter und geriet unter die Räder. Auch Kaflisch hätte bald auf dem Pflaster geendet; die andern ergriffen ihn rechtzeitig bei den Rockschößen. Er schrie, mit dem Notizbuch winkend, »Hurra! Hurra!« in alles Toben hinein.

»Sie haben recht«, bestätigte Köpf, »es hat was Zündendes.«

Der Zug setzte sich in Bewegung. Türkheimer und die Seinigen schwankten dort droben, wie auf dem Rücken eines mit Gold, Purpur und Pfauenfedern aufgeputzten Elefanten, der, aus einer glücklichen Schlacht heimkehrend, das Blut zehntausend zertretener Sklaven von seinen Füßen spritzt. Es schob sich immer schwärzer und wirrer unter fern grollendem Posaunenschall die Straße hinab. Türkheimers rötliche Kotelettes leuchteten noch einmal, vom Licht getroffen, goldig auf, wie ein der Anbetung des Volkes errichtetes mythisches Symbol. Dann verschwand unter der strahlenden Bläue des Himmels alles in einer rosig besonnten Staubwolke, gleich der Apotheose am Schluß eines Feenmärchens.

Andreas sagte sich, daß noch vor wenigen Wochen ein bevorzugter Platz im Gefolge jenes Sagenkönigs ihm selbst gehört hätte. Die Überlegung machte ihn unwillig, er fragte Köpf: »Finden Sie, daß Türkheimer gut aussah? Ich glaube, Karlsbad hat ihm auch nicht mehr geholfen.«

»Wenn er doch noch die Kraft in sich fühlt, die Kultur in fremde Länder zu tragen!«

»Ich werde mich auf seinen Nekrolog vorbereiten müssen.«

Er sann nach.

»Ich werde den Lesern erzählen, daß trotz glänzendster geschäftlicher Erfolge häuslicher Kummer seinen Lebensabend verbittert habe. Reichtum allein macht nicht immer glücklich, werde ich sagen. Wenn Frau und Tochter nicht guttun wollen – Wissen Sie, mit so was bringt man die großen Männer dem Volke näher.«

Die Idee erwärmte ihn.

»Was meinen Sie? Ich unterzeichne den Artikel mit meinem vollen Namen. So ein Nekrolog auf einen Türkheimer …«

Kaflisch kehrte, durch das Schweben im Äther ermüdet, ins Zimmer zurück. Er entsetzte sich.

»Ein Nekrolog auf …? Na, den nehmen Sie nur gleich unter Ihre posthumen Werke auf, armer Meister. Türkheimer überlebt Sie und uns alle, verstehnse mich? Er schwimmt ja jetzt in Seligkeit!«

»Wegen des Großfürsten?«

»Ach der Kleine aus der Walachei? Ist ja bloß Staffage, darf hinten am Triumphwagen ’n bißchen mitschieben. Aber der Schlüssel zur Lage dürfte denn doch woanders zu suchen sein.«

Er erhob sich auf die Fußspitzen.

»Es verlautet bestimmtest, daß Türkheimer nächsten Ersten ’ne hohe Auszeichnung kriegt. Hochstetten hat ihm einen Orden verschafft.«

»Ah! Wissen Sie auch, welchen?«

»Sie werden es nicht glauben! Den Kronenorden vierter Klasse!«

»Vierter …?«

Der Reporter wunderte sich.

»Sind Sie damit nicht zufrieden? Wenn der große Mann es doch ist! Wäre ’ne fünfte Klasse zu haben, er nähme sie auch. Er hat ja gelitten, wie nur ein Mensch leiden kann, sehr geehrter Herr. Jetzt ist auf einmal alles wieder gut. Asta und ihr Mann sind wieder gut, Türkheimer ist mit Hochstetten wieder gut, Adelheid und die ganze Welt sind wieder gut.«

Andreas senkte die Stirn.

In der Stille nach dem Tumult ließ sich draußen das Getrappel herrschaftlicher Pferde hören. Köpf fragte, heftig erstaunt: »Wer sitzt dort neben Frau Türkheimer? Ist das nicht Herr …?«

Kaflisch schüttelte sich vor Lachen.

»Was haben Sie denn? Sie kennen doch Liebling.«

»Ich begreife nicht, wie Liebling in Frau Türkheimers Wagen kommt«, murmelte Andreas.

»Ist er nicht Zionist?« bemerkte Köpf. »Nun, dann ist es sein Beruf, die Unglücklichen und Verlassenen unter seinem Volke zu trösten.«

Kaflisch grinste.

»Sie Schlauberger! Sie meinen, er gewährt ihr die Tröstungen des Zionismus?«

Andreas bemühte sich, verächtlich zu lächeln.

»Ein Moralbaffze!«

Er sah ihnen nach. Adelheid lehnte gemächlich, in der schönen Fülle ihrer gesättigten Existenz, neben Liebling, wie sie ehemals an seiner eigenen Seite geruht hatte. Unter dem schwarzen Spitzenschleier schimmerte ihr Gesicht breit und mattweiß, eine üppige Verführung. Er trat vom Fenster zurück, erblaßt und zitternd.

›Das habe ich davon‹, flüsterte es in ihm. ›Begierden, nicht zu stillen, und eine endlose Reue.‹

Es galt, sich zu beherrschen, die anderen verabschiedeten sich.

»Viel Vergnügen!« rief Kaflisch ihm zu.

Er schob sie zur Tür hinaus.

»Soviel ist sicher, die Herrschaften sehen alle recht glücklich aus«, sagte Köpf.

»Kunststück! Im Schlaraffenland sind immer alle glücklich«, sagte Kaflisch.

»Dumm, ruchlos und glücklich. Meinen Segen haben sie«, sagte Andreas.

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