Читать книгу Sieben Stunden Licht - Heinrich-Stefan Noelke - Страница 11
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ОглавлениеDie Uhr zeigte auf kurz vor eins. Der Sturm presste nach wie vor gegen die massiven Wände und die Doppelscheiben, aber Max fühlte eine Stille, die ihm auf die Ohren drückte. Richtig unheimlich war das.
So leise wie möglich stand er auf und raffte seinen Schlafsack zusammen. Er nahm sich sein Kopfkissen, seine Isomatte, die er ihm Dunkeln ertastete, und schlich sich in den Aufenthaltsraum.
Ein schwaches Notlicht bei der Treppe erhellte den vorderen Teil des Raumes. Das Thermometer am Fenster zeigte dreißig Grad unter null, aber es hatte aufgeklart. Der zunehmende Mond war fast voll. Sein Licht wurde von den Schneeflächen reflektiert. Nur wenige Wolken jagten noch vor den Sternen vorbei.
„Möchtest du Kaffee?“
Sarah saß in einer Ecke im Dunkeln und wärmte ihre Hände an einer Tasse.
„Gerne“, sagte Max, ging aber selbst, um ihn sich zu holen. In der Küche stand eine Thermoskanne.
„Ich kann nicht schlafen“, sagte Max. „Es ist so still und in meinem Kopf summen die Gedanken. Nicht schlafen können ist wie nicht pinkeln können, weißt du? Da hilft kein Pressen und man will sich ständig entschuldigen. Es ist so unwürdig, nicht mal das zu können.“
Sarah lachte leise. „Ich kann auch nicht schlafen“, sagte sie und machte Platz. Max setzte sich zu ihr.
„Am liebsten würde ich Paul packen und Morgen nach Hause fahren“, sagte Max. „Es ist zu gefährlich für den Jungen.“
„Wenn es darum geht: Es gibt nur den einen Bus, den Holdin erwähnt hat. Von Setermoen kommst du nach Bardufoss zum Flughafen. Sonst ist hier niemand, der euch bringen könnte. Ihr müsst früh aufstehen.“
„Penttis Frau hat den Bulli. Grete … sie kann uns fahren.“
„Wenn du sie fragen magst ...“
Max schmunzelte bei dem Gedanken an die ruppige Fahrt im Bulli. „Hierher laufen die Leute, um sich zu verstecken“, sagte er. „Was ihr wohl passiert ist?“
Sarah schlürfte ihren Kaffee. Max dachte an das Gesicht am Fenster.
„Als ich zwölf Jahre alt war“, sagte er, „da wurde meine Mutter sehr krank.“
„Das tut mir leid.“
„Seither schlafe ich schlecht, Sarah. Mein Vater hat ihr vorgeworfen, zu simulieren, aber dann brachte man sie ins Krankenhaus. Nierensteine. Sie hat nicht simuliert. Ich bin vor Angst jede Nacht wach geworden und wollte aufs Klo, aber ich habe im Dunkeln meist die Zimmertür nicht gefunden. Stell dir vor: Es gab keine Tür mehr. Sie war weg. An den Wänden habe ich mich entlang getastet wie in einer Zelle. Ein Schreibtisch, ein Stuhl, aber keine Tür. Nur der Schrank. Manchmal bin ich dort reingeklettert und hab mich nass gemacht. Ich habe alles Mögliche gefunden, aber nie die Tür. Ich hatte Angst, dass mein Vater davor stünde, doch der wusste nicht mal, dass ich wanderte.“
„Er stand gar nicht vor der Tür?“
„Nein. Nie. Es war völlig sinnlos. Ich hab mich so fürchterlich geschämt.“
„Meine Mutter ist gestorben, als ich ein kleines Mädchen war“, sagte Sarah. „Ein Unfall. Anschließend musste ich zwei Schwestern und einen Bruder versorgen. Und meinen Vater. Der war Reisender für eine Wurstfabrik. Ich habe für uns alle gesorgt. Wenn ich nachts pinkeln musste, dann habe ich das Licht angemacht, um besser sehen zu können. Ich hatte keine Zeit, auch mein Bett noch neu zu beziehen.“
„Das tut mir leid“, sagte Max.
„Das muss dir nicht leid tun. Ich habe meinen Geschwistern so viel bei den Hausaufgaben geholfen, dass ich später dabei geblieben bin. Ich habe Sprachschulen eröffnet. Es gibt schon eine ganze Reihe davon. Alle meine Geschwister haben ihren Schulabschluss.“
Da Max nicht antwortete, fuhr sie fort.
„Was ist deiner Mutter passiert?“
„Sie ist gestorben, damals. Im Krankenhaus.“
„Oh,“ sagte Sarah und schwieg eine Weile.
„Bist du verheiratet?“, wollte Max wissen.
„Nein“, sagte Sarah. „Geschieden. Du?“
„Nein“, sagte Max.
„Aber du hast einen Sohn“, sagte Sarah.
„Ja“, antwortete Max und schwieg wieder.
„Ich hätte gerne Kinder gehabt“, sagte Sarah. „Kinder gehören dazu.“
Sie lauschten in die Stille hinein. Eine der Türen zu den Schlafkammern stand auf. Ruhiges Atmen war zu hören.
„Ihr brennt Schnaps“, sagte Sarah. „Achnitzer Torfbrand, richtig? Den kenne ich. Ihr seid fast pleite.“
„Ja … Paul weiß es nicht. Ich habe jemanden, der das Unternehmen übernimmt.“
„Entschuldigung. Ich bin sehr direkt. Aber es steht in den Zeitungen.“
„Richtig. Ich habe vor Jahren meinen Vater ausbezahlt. Jetzt will er den Betrieb zurückkaufen, aber er hat keine Chance. Sein Lebenswerk – verstehst du? Er denkt, er kann es besser als ich.“
„Und du? Was denkst du?“
„Ich weiß nicht, wie ich es Paul erklären soll. Das Unternehmen ist zu klein, um vorwärtszukommen.“
„Denkst du, dass dein Vater es besser kann?“
„Er selbst hat keine Zweifel daran. Ich soll Geschäftsführer bleiben. Es wäre so wie früher, sagt er. Nur dass inzwischen viel Geld verloren ist. Man würde mich weiter grüßen im Ort. Das wird anders sein, wenn ich das Unternehmen verkaufe. Trotzdem muss es sein. Es muss Schluss sein. Wir sollten nicht sein Geld auch noch verlieren.“
Sarah trank ihre Tasse leer und blickte dann zu ihm hoch.
„Max“, sagte sie.
„Hmh.“
„Ich mag Kurt nicht.“
Max lachte. Zehn Tage blieben ihm mit Sarah. Die wollte er nutzen. „Das merkt man.“
„Ich habe keine Angst vor dem Sturm“, sagte sie, „aber vor Kurt. Er kommt mit Wut. Pass gut auf.“
„Ach was“, sagte Max. „Er hat vielleicht noch alte Ansprüche. Ein Ehedrama im Schnee, das ist alles. Mehr Romantik geht nicht.“ Er lachte sein Lachen und machte sich breit wie ein Affe: „Ich beschütze dich.“
„Sicher“, sagte Sarah und hatte ihren Spaß. Sie stand auf, schlug die Fäuste ineinander und blies sich auf.
„Beschütze mich!”, sagte sie mit tiefer Stimme. Beide lachten.
„Übertreib es nicht mit dem Fasten“, sagte Max. „Dir steht das Üppige.“
„Gute Nacht“, sagte Sarah und schloss die Tür zu ihrer Kammer.
Max brummte eine Antwort, trank langsam seinen Kaffee und schaute aus dem Fenster. Er rollte sich zwischen zwei Bänken in seinen Schlafsack ein und schlief fest, bis Paul ihn am Morgen weckte.