Читать книгу Sieben Stunden Licht - Heinrich-Stefan Noelke - Страница 8
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ОглавлениеNicht weit von Großbeesen entfernt stand wartend Hans Wagner auf einem Golfplatz und suchte Schutz vor dem Regen unter einem Baum. Er kannte den Mann nicht, den er treffen sollte, doch er wusste sehr wohl, wer das war: Hermann von Achnitz. Der große alte Schnapsbrenner. Der Mann, der den Achnitzer Torfbrand verkörperte und der jetzt als Wohltäter in allen Zeitungen genannt wurde. Er unterstütze Kinder in Rumänien, war dort zu lesen, und er bohre nach Brunnen in Afrika.
„Fahren Sie zum Golfklub Kattenmoorer Land“, hatte man Wagner in seiner Bremer Kanzlei gesagt. „Treffen Sie sich um Punkt achtzehn Uhr mit einem Klienten. Sie finden ihn auf der Driving Range.“ Das sei die Übungswiese, hatte man ihm erklärt, so als ob er das nicht wüsste. Der Klient werde allein dort sein und Wagner solle dessen Anweisungen entgegennehmen und befolgen. Ein paar Tage Abwesenheit und ... ein Augenzwinkern: Warme Unterwäsche mitnehmen. Das war alles.
Wagner war achtunddreißig Jahre alt, rund, dick und stand auf viel zu kurzen Beinen. In seinen schwarzen Dreiteilern hätte er vertrauenswürdig aussehen sollen, doch er wirkte plump. Die feisten Backen und das dünne Haar ließen ihn drollig wirken. Das hatte seiner Karriere als Rechtsanwalt fast so sehr geschadet wie die Tatsache, dass er niemanden kannte, der ihn hätte protegieren wollen. Die Kollegen in der Wirtschaftskanzlei schätzten und fürchteten seine Machenschaften zugleich und nur wenige Klienten vertrauten ihm persönlich ihre Vertretung an. Meist arbeitete er deshalb seinen Partnern zu.
Hohe Bäume umgaben die Driving Range, das Flutlicht verlor sich im kalten Nebel, der auf der Wiese lag, die in etwa die Ausmaße eines Fußballfeldes besaß. Wagner ging an einem durchwühlten Sandbunker vorbei auf eine Abschlaghütte am Ursprung des Lichtkegels zu. Fächerförmig von diesem Verschlag ausgehend lagen auf der Wiese verstreut weiße Bälle herum, die eifrige Golfer im Laufe des Tages dort hingeschlagen hatten. Im hintersten Drittel des Rasens zog ein Elektrokart seine Runden und bot ein lohnendes Ziel. Auf dem Dach blinkte ein gelbes Licht. Das Gerät war zu groß, um ein Aufsitzmäher zu sein, und zu klein für einen Traktor. Der Fahrersitz war von einem Drahtkäfig umgeben, der vor Golfbällen schützte. Wie Schnee sammelte es die Bälle ein, die auf dem Boden lagen.
Ein mechanischer ‚Klick’ drang aus der Hütte, wenn die Spielgeräte geschlagen wurden … und manchmal ein trockenes Scheppern, falls ein Ball als sein Ziel das Fahrzeug traf. Wagner lachte still beim Zuschauen. Er hatte schon eine Weile gewartet und sich die Füße vertreten. Sie steckten in warmen Schuhen aus Kalbsfell.
Es war genau achtzehn Uhr, als er schließlich vorsichtig um die Ecke schaute und in das Licht trat.
Die Hütte war in drei Boxen unterteilt, doch nur die erste davon wurde genutzt. Hermann von Achnitz schien Wagner nicht bemerkt zu haben … oder er ignorierte ihn. Er war groß, Anfang siebzig und hatte schneeweißes Haar, das früher sehr dicht gewesen sein musste, jetzt jedoch zurückging. Ein Schnauzbart und die fleischigen Falten unter dem Kinn gaben ihm etwas von einem Walross, zu dem die Hornbrille nicht passen wollte.
„Spielen Sie Golf, Herr Wagner?“ Von Achnitz sprach, ohne aufzublicken. Seine mit Nägeln bespickten Schuhe sahen so teuer aus wie die in allen Farben karierten Hosen und der schimmernde graue Rollkragenpullover. Der Golfschläger wirkte zierlich in seinen Händen. Ein Baseballschläger hätte besser dort hineingepasst. Wagner schwieg, während von Achnitz etwas hüftsteif ausholte und den Ball schlug, der in einer langen Kurve nach rechts flog.
„Es interessiert mich“, sagte Wagner mit ehrlichem Gefallen in der Stimme.
„Golf lehrt Sie Demut“, sagte von Achnitz und fügte ‚Mein Junge’ hinzu. Wagner war achtunddreißig Jahre alt, und bald würde es zu spät sein, um seine Karriere vorwärts zu bringen. Wenn Demut ein Maß für golferische Fähigkeiten war, dann wies die Stimme des Mannes auf deutliche Mängel hin, denn sie war zu laut.
„Demut!“, wiederholte er drohend. „Sobald Sie meinen, Sie hätten verstanden, worum es geht, entzieht sich das Spiel und Sie fangen ganz unten wieder an. Der Ball, den ich eben geschlagen habe, ist geradeaus gestartet und hat sich dann nach rechts vom Ziel entfernt. Das nennt man einen Slice. Er ist mein größtes Problem. Derselbe Schlag, von einem Könner geschnitten, heißt Fade. So jemand schlägt einen Ball mit Absicht nach links und lässt ihn zurück ins Ziel drehen. Ich kann das nicht. Im Prinzip ist es die gleiche Flugbahn … nur, dass der eine Schlag einem Willen folgt, und der andere nicht. Man benutzt den Fade, um Hindernisse zu umspielen oder um eine bessere Landerichtung für den Ball zu finden. Wussten Sie das?“
Von Achnitz dampfte in der feuchten Kälte. Er keuchte, als er sich bückte, um neue Munition auf der Matte zurechtzulegen.
Wagner wartete, bis er geschlagen hatte. „Nein“, sagte er dann.
„Wissen Sie, wer ich bin?“
„Hermann von Achnitz. Achnitzer Torfbrand hier in Großbeesen. Sie haben das Unternehmen groß gemacht, das jetzt von Ihrem Sohn geleitet wird. Sie sind Kunde unserer Kanzlei.“
„Das bin ich in der Tat.“ Von Achnitz lachte. „Dann wissen Sie auch, dass es dem Unternehmen nicht gut geht.“
„Es steht in der Zeitung.“ Wagner war vorsichtig geworden, während von Achnitz ruhig weiter schlug. „Ihr Sohn möchte verkaufen.“
„Richtig. Mein Sohn hat mir vor Jahren meine Anteile abgekauft und das Geld nie verdient, das er mir gab. Er steht vor dem Ruin, während es mir gut geht. Sie sollen ihn finden. Ich will meinen Betrieb zurück.“
Der alte Mann hackte wütend in die Matte, sodass der Golfball quer durch die Hütte flog und Wagner nur knapp verfehlte.
„Wie kann ich helfen?“, fragte der Rechtsanwalt.
„Er ist in Norwegen“, sagte von Achnitz. „Zusammen mit meinem Enkel und einem Buchhalter, mit dem er befreundet ist. Niemand weiß, wo genau er in Norwegen steckt. Weder seine Sekretärin, noch irgendein Reisebüro. Meine Anrufe beantwortet er nicht. Sie wurden mir als diskreter Ermittler empfohlen.“
„Meist finde ich, was ich suche“, sagte Wagner.
„Finden Sie meinen Sohn Maximilian“, fuhr Hermann von Achnitz fort. „Er will nicht hören. Hat noch nie hören wollen. Sagen Sie ihm, dass ich den Betrieb zurückkaufe.“
Er zögerte, stützte sich wütend auf den Golfschläger.
„Es ist nicht zu glauben, was der Junge zu tun gedenkt“, sagte er kopfschüttelnd. „Ich kann ihn nicht erreichen. Er will die Firma an einen Investor verkaufen. Der wartet nur auf den Anruf von meinem Sohn, dann ist der Betrieb weg. Es ist alles vorbereitet.“ Von Achnitz griff in seine Gesäßtasche, um ein Portemonnaie hervorzuholen, dem er eine American Express Platin-Karte entnahm. Er reichte sie Wagner und schaute ihn forschend an.
„Sie müssen hinten unterschreiben. Sie ist auf Ihren Namen ausgestellt und hat kein Limit. Sie nutzen sie für Ihre Ausgaben und suchen meinen Sohn. Er muss mir das Unternehmen zurückgeben. Wenn er es nicht will, dann soll es mein Neffe haben. Bitte … finden Sie die beiden. Gehen Sie jetzt.“
Von Achnitz schien ihn augenblicklich zu vergessen und fuhr fort, Bälle zu schlagen. Wagner drehte sich um. Er trug eine schwere Lammfelljacke und einen Schal. Beides lag ihm schwer auf dem dicken Bauch. Er schwitzte.
„Sie berichten an ihre Kanzlei“, rief ihm von Achnitz nach. „Dort liegen die Verträge bereit. Und … Wagner!“
Wagner drehte sich um.
„So heißen Sie doch? Wagner? Mit Demut kommen Sie bei der Suche nicht weiter. Falls Sie hier im Verein Mitglied werden wollen ... ich kann das arrangieren. Selbst in Bremen steht Ihnen jeder Klub offen. Falls Sie ihn nicht finden, wird es schwierig, wenn Sie sich für Golf interessieren.“
Wagner ging zum Klubhaus zurück. Er fand die Bar und bestellte sich einen Espresso, dazu einen Whiskey ohne Eis. Dann setzte er sich in eine dunkle Ecke. Sogar der Barmann schien ihn zu vergessen. Nach einer Weile kam von Achnitz herein, er trank eine Tasse Kamillentee, ohne Notiz von Wagner zu nehmen. Eine gute Viertelstunde später verließ der alte Mann die Bar. Wagner hörte eine Zeit lang der Musik zu, die im Hintergrund spielte, dann rief er den Kellner zu sich.
„Wissen Sie, was das ist?”, fragte er ihn und gab ihm die Kreditkarte.
„Das ist eine American Express Platin-Karte“, sagte der Kellner und drehte sie in der Hand. „Sie haben noch nicht unterschrieben.“
„Wissen Sie, was man tun muss, um so eine Karte zu bekommen?“
„Nein.“
„Wenn Sie es wüssten“, sagte Wagner, „dann würden Sie sich verdammt beeilen, mich zu bedienen. Bringen Sie mir noch einen Whiskey. Ich habe eine lange Nacht vor mir.“