Читать книгу Sieben Stunden Licht - Heinrich-Stefan Noelke - Страница 5
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ОглавлениеFalls man sich am Nordpol flach auf den Rücken legt, nachts vor allem, wenn oben eine maßlos übertriebene Menge an Sternen leuchtet, dann fühlt man den Schwindel. Unser Planet dreht sich im Norden langsamer als anderswo. Dennoch ist gerade hier das Schwanken zu spüren. Es ist die Angst, die Welt gleite weg und ziehe die Füße mit. Die Erde ist eine Scholle, auf der man leicht ins Rutschen kommt.
Manche Menschen geraten in Panik, wenn sie eine derart weite Ebene überqueren. Sie zittern und schwitzen und lassen sich auf alle Viere nieder, um an den Rand zu kriechen, wo sie Halt suchen. Später meiden sie derlei Orte.
Andere sind reinweg unempfindlich und langweilen sich.
Sobald Maximilian von Achnitz auf dem Beifahrersitz die Tür öffnete und sein Gewicht verlagerte, neigte der greise Bulli sich ächzend auf die Seite. Vorsichtig tastend mit spitzem Fuß prüfte Max die Standsicherheit der Schneedecke. Er saß in einem verrosteten Kastenwagen. VW-LT in Rot mit Doppelkabine. Hinten drauf bot ein hölzerner Aufbau mit Zwingern Platz für viele Hunde. Oben auf dem Dach hatte jemand fünf Tourenschlitten festgezurrt. Der Wind fing sich in den Riemen, er ließ ein Brummen hören. Eine Frau saß am Steuer, die Max nicht kannte.
„Is’ nicht glatt“, sagte er zu seinem Sohn Paul, der hinten saß.
Damit hatte Max nicht gerechnet, dass sich die Dämmerung derart auf das Gemüt legen würde. Es war erst sechzehn Uhr. Vor einer Stunde war das Flugzeug im norwegischen Bardufoss gelandet. Von zu Hause aus betrachtet lag der Nordpol zum Greifen nah. Max war hier bereits auf halbem Wege. In der Luft hatte er links die Lofoten wie Hütchen im Meer treiben gesehen und rechts die kahl gefegten Berge.
Es war nicht die Dunkelheit, die ihn erdrückte, sondern der endlose Weg dahin. Die stundenlange Dämmerung, die vorausging. Das bisschen Licht würde den Tag nicht lohnen, der dazwischen lag. Die Flamme des Feuerzeuges vor dem Wind schützend, zündete er sich eine Zigarette an. Die hintere Tür des Bullis öffnete sich.
Sein Sohn stieg aus. Hier draußen war es zu kalt für den Jungen. Max zog ihm den Reißverschluss an der Daunenjacke hoch.
„Jetzt lass mich“, maulte Paul.
„Es ist zu kalt“, sagte Max. „Der Wind ist zu stark.“ Max hatte es nicht erwarten können, einen ersten Schritt aus der Behaglichkeit des Bullis heraus zu tun. Er hatte sich umsehen wollen. Einen Moment nur den Sturm hören und die eiskalte Luft schmecken.
Groß und breit war er. Ein kräftiger Schnauzbart und dichte Augenbrauen. Jeder Anzug an ihm sah grob aus, deshalb vermied er solche Kleidung. Lieber trug er seine weite braune Cordhose und einen dunklen Pullover. Hemden mochte er nicht. Die schoben sich ihm nach einer Weile unweigerlich hinten aus der Hose heraus und ließen eine haarige Pospalte sehen, falls er sich bückte. Das zog ihm den Rücken hinauf bis zu den Haaren, die einem braunen Fell glichen.
„Jetzt mach schon“, sagte Paul. „Es ist kalt.“ Der Junge wurde bald sechzehn.
Max nahm zwei, drei schnelle Züge und warf die Zigarette mit dem Wind in den Wald hinein. Sie stiegen zu der Frau ins Auto zurück, die sie am Flughafen abgeholt hatte.
Sie fuhr schnell und sicher, doch sprach sie kein Wort. Als ob es ihr lästig sei. Sie hatte sich nicht vorgestellt und nichts gefragt. Touristen schien es hier kaum zu geben. Das Flugzeug war voller Soldaten gewesen, die zu einem Manöver eingeflogen wurden. Die wenigen Zivilisten an Bord hatten sich wenig um das Schwanken gekümmert, als der Sturm das landende Flugzeug verriss.
Paul und Max hatten ihr Gepäck hinten in einem der Käfige verstaut. Die Frau hatte ihnen nagelneue rote Daunenparkas mitgebracht, die sie überzogen. Sie selbst hatte ihre Pudelmütze aufbehalten und fuhr mit Handschuhen. Sie war groß gewachsen, hatte blondes Haar und mochte recht hübsch sein.
Der Wind blies durch unzählige Rostlöcher herein, doch der Wagen bot einen gewissen Schutz. Auf dem Weg trat das blanke Eis frei hervor, sodass der Bulli in der Spurrinne hin und her rutschte. Eben noch, zwischen Bardufoss und Setermoen, hatte sich eine breite Straße durch das Land gezogen. Über Narvik führte sie an den Fjorden vorbei Richtung Süden bis Oslo, wo man eine Fähre zurück nach Dänemark nehmen konnte. Da war man fast wieder zu Hause. Die Frau jedoch war hinter Setermoen nach links in ein enges Tal abgebogen und folgte einem Wasserlauf, bis Max um den kurzen Halt bat.
Es lag wenig Schnee. Rechts sah man zwischen den Bäumen den gefrorenen Fluss.
„Können Sie bitte langsamer fahren?”, fragte Max, als sie über eine Brücke rutschten. Die Frau schaute zu ihm herüber und nickte, ohne vom Gas zu gehen.
„Die fahren hier mit Spikes“, sagte Max nach hinten zu seinem Sohn. Wolken stoben am Himmel vorbei und ein fast voller Mond ließ den Schnee blau leuchten. Auf den Bergen konnte man Skipisten sehen. Sie hingen die Hügel hinunter und verschwanden im Wald. Zum Greifen nah, so schien es.
„Siehst du die Pisten?”, fragte er.
„Ja“, sagte Paul.
„Wie hingehängt“, bemerkte Max. „So, als habe man sie auf den Berg genäht.“
Er wähnte sich als übergroßen Skifahrer dort straucheln und hielt sich am Bulli fest. Das Stürzen war nicht so erschreckend, doch das Fallen machte ihm Angst.
Sie waren unterwegs nach Innset am Rande des norwegischen Dividal-Parkes, um dort zehn Tage lang mit Hundeschlitten zu reisen. Max hatte sich sehr spontan entschlossen und seinen Freund Holdin Rose gebeten, mitzufahren. Er hatte ihn vorausgeschickt, um die nötige Ausrüstung zu kaufen. Max besaß eine Schnapsbrennerei im Emsland. Achnitzer Torfbrand. Holdin arbeitete als Buchhalter für Max. Er war der Pate seines Sohnes und sie spielten zusammen Golf. Er war es vermutlich, der die dicken roten Parka geschickt hatte, die sie jetzt trugen. Statt wie beabsichtigt, Paul in den Skiferien nach Hause zu holen, war Max gestern gen Süddeutschland gefahren, um seinen Sohn im Internat zu überraschen, in dem er lebte. Die beiden waren sehr hastig nach Norwegen aufgebrochen.
„Du wirst im Anschluss an die Sommerferien bei mir in Großbeesen bleiben und dort zur Schule gehen“, sagte Max nach hinten und fand, dass das jetzt ein geeigneter Moment für diese Nachricht war.
„Wieso?“
„Die Firma läuft nicht gut. Wir sprechen darüber.“
„Wartet Holdin auf uns?“
Selbst das Hundefutter würden sie mitschleppen müssen. In Innset am Rande des Sees Altevatn lag die Hundefarm von Torben Haag, einem Deutschen, der vor Jahren hierher ausgewandert war. Er würde nicht ihr Guide sein, denn er war längst ausgebucht. Sie wollten mit einem Norweger fahren, der mit Torben zusammenarbeitete. Pentti Aalto hieß der Mann, mehr wusste Max nicht. Es interessierte ihn nicht.
Max hatte keine Ahnung, wer die Frau war, die fuhr, doch sie hatte nicht gezögert, als sie in den Bulli einstiegen. Vermutlich sprach sie Deutsch, wollte nur nicht.
Eine Gestalt tauchte im Scheinwerferlicht auf. Mitten im Wald dem Wind und dem Wetter trotzend schob jemand einen Kinderwagen auf Kufen die Straße entlang. Rechts und links standen jetzt Häuser zwischen den Birken. Ein einsamer Ort, doch es schien eine Siedlung zu sein. Die Wege waren vom Schnee geräumt. Unter einer Laterne am Straßenrand verbreiterte sich die Fahrbahn zu einem Parkplatz.
Dort hielten sie rutschend an. Ein Schaufenster war zu sehen, das vor Monaten schon verhängt worden war. Max fiel ein Schild auf, das den Platz zur Bushaltestelle erklärte. Das Haus schien bewohnt zu sein. In der Mitte führten drei Stufen hoch. Daneben stand ein Mann und schaute von der Arbeit auf, als sie hielten. Er hackte Holz und hatte bereits einen ansehnlichen Stoß unter dem Schaufenster gestapelt. Auf dem Kopf trug er eine Fellmütze mit Ohrenklappen, die er jetzt mit dem Handrücken zurecht schob.
„Sehe keine Hunde“, sagte Paul.
„Vielleicht hinter dem Haus“, antwortete Max. „Das scheint ein Laden zu sein.“
„Bleiben Sie sitzen“, sagte die Frau, aber Max war schon ausgestiegen. Es genügte jetzt.
Sie knallte die Wagentür zu und ging ohne Gruß in das Gebäude. Paul stieg ebenfalls aus. Der Mann kam auf Max zu und reichte die Hand.
„Pentti?”, fragte Max. „Pentti Aalto?“ Der Mann lächelte ein wenig schief. Ihm fehlten der kleine und der Ringfinger an der rechten Hand, sodass man sie nicht richtig greifen.
„Welcome!”, sagte Pentti. Er sprach es „welcum“ aus. „Cum in.“
„Denk daran“, sagte Max zu Paul, „dass wir hier zu Gast sind.“