Читать книгу Sieben Stunden Licht - Heinrich-Stefan Noelke - Страница 6

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„Kennel is away“, sagte Pentti und wies die Straße hinunter. Gleich dort sei die Hundefarm. Er ging ins Haus und knipste im Laden ein Licht an, das von den braunen Holzregalen fast vollständig verschluckt wurde. Neben der Treppe stand ein Besen, mit dem sie sich die Schuhe reinigten, bevor sie eintraten. Im Vorraum hing Winterkleidung zum Trocknen. Die Regale waren halb leer. Ein Geruch nach Staub, Schmierfett und Ruß empfing Max. Da lagen Eisbohrer und Eisangeln herum. Es gab Filzmützen, Filzschuhe, derbe Overalls aus dunkelblauem Cordura, Konserven und andere haltbare Lebensmittel. Gepökelten Fisch, Schneeschaufeln, Schneefräsen und Defrostermittel in Fünfliter-Kanistern. Ein Plakat wies auf einen Skilanglauf hin, ein anderes auf eine Rallye, die im letzten Sommer ausgetragen worden war. Ganz im Hintergrund ein Verkaufstresen, davor ein Tisch mit zwei Bänken. Kinderzeichnungen von Engeln und Teufeln. Eine Kreidetafel hing an der Wand. Die Frau saß dort. Sie hatte von irgendwo her eine dampfende Tasse Kaffee geholt und schaute ihnen zu.

In einer Ecke stand Ausrüstung zusammengestellt.

„Take“, sagte Pentti und deutete auf zwei Boxen aus Styropor, die Max und Paul sich nahmen. Die Frau sagte etwas auf Norwegisch, was unhöflich klang. Pentti antwortete nicht, sondern ging mit einer dritten Box voraus nach draußen.

Sie schoben die Kästen in einen der Käfige auf dem Bulli. Pentti hieß sie einsteigen und startete den Wagen. Die Frau trat aus der Tür und Max sah zum ersten Mal ihre Augen. Sie waren blau. Ihr langes blondes Haar trug zu einem dicken Zopf geflochten, der ihr in den Rücken hing. Sie wich seinem Blick aus und stieß mit einem Fuß gegen den Holzstoß, den Pentti aufgeschichtet hatte. Der Stoß kam ins Rutschen und fiel in sich zusammen. Sie kümmerte sich nicht darum.

„Is wife“, sagte Pentti, gab Gas und ließ seine Frau im Dunkeln stehen. Er lachte sein schiefes Lachen und zeigte die Zähne. „Is Grete aus Deutschland. Must stay home.“ Rückwärts fuhr Pentti aus dem Licht heraus.

Max schätze ihn auf Anfang vierzig. Dann wären sie gleichaltrig. „Das kommt vor“, sagte er zu seinem Sohn nach hinten. „Manchmal streiten sich Mann und Frau.“

„Aha“, sagte Paul und Max verstand nicht, was er damit meinte.

Die Farm lag nur ein paar hundert Meter die Straße entlang, die jetzt leicht bergan stieg. Eine Rampe führte auf einen Hof, der von drei Gebäuden umschlossen wurde. Ein großer Zwinger begrenzte die offene Seite, der in der Dämmerung kaum auffiel.

Rechts lag ein zweistöckiges Blockhaus. Über der Haustür in der Mitte der Langseite brannte eine Glühbirne und darunter leuchtete gelb ein schmales Fenster.

Alle anderen Gebäude waren dunkel. Pentti fuhr quer über den Platz und hielt vor einem Klafterschuppen.

„Hütte“, sagte er auf Deutsch und zeigte auf das Licht. Max und Paul stiegen aus, der Wind riss ihnen die Autotüren aus den Händen. Pentti kümmerte sich nicht weiter um sie, sondern machte sich an einem Schneemobil zu schaffen, das im Schuppen stand.

„Was sollte das denn?”, fragte Max, ohne eine Antwort zu erwarten.

Ihr ganzes Gepäck war in zwei kleinen Taschen verstaut. Max verließ sich auf Holdin. Nur eine Art grünen Köcher hatte er noch mitgenommen, der kaum Platz bot für ein paar Skistöcke. Die Taschen trugen sie zum Blockhaus, hinter der Tür fand sich eine Diele, wo sie sie abstellten. Eine Stiege führte hoch in die Wohnräume.

„Lass mir noch ein paar Minuten“, sagte Max und zündete sich eine Zigarette an. „Geh zu Holdin. Er müsste oben sein.“ Murrend verschwand Paul hinter der Holztür.

Max nahm einen Zug aus der hohlen Hand und stellte sich in die Mitte des unebenen Platzes. Der Sturm fegte brüllend durch ein Tal, das ihm kaum Widerstand bot. Die Kälte biss Max in die Wangen und klebte in den Nasenlöchern. Der Wind war so stark, dass man sich auf ihn legen wollte. Er zog die Kapuze mit dem Fellrand über den Kopf. Jetzt drangen alle Geräusche von vorn zu ihm. Ihre Richtung ließ sich nicht mehr deuten. Max spürte die lächerliche Angst, die ihn seit einiger Zeit quälte, und die er immer wieder suchte wie eine Wunde, die man ständig betastet. Er hörte knirschende Schritte und drehte sich um, doch da war niemand.

Der Sturm schmeckte wie ein Kupferpfennig, an dem man lutscht. Max’ Kopf dröhnte. Kälte ist Leere und scheinbar wollte ihm der Schädel in diese Ödnis bersten … aber es war auszuhalten und ging vorbei.

Manchmal wäre er gerne tot. Das kam so über ihn in der letzten Zeit. Wie Sodbrennen kam der Gedanke immer wieder hoch.

Das zweite Blockhaus war größer. Das musste das Haus von Torben sein. Im Schuppen startete Pentti im Licht einer Stirnlampe das Schneemobil und fuhr davon. Max ging mit dem Wind auf den Zwinger zu. Der war innen in neun kleinere Käfige unterteilt. Zwischen ihnen lag ein Gang in der Form eines liegenden T. In den einzelnen Verschlägen standen mehrere Hundehütten im Schnee. Die Hunde schlugen nicht an, als Max näher kam. Die meisten hatten sich wohl in den Hütten verkrochen, denn nur wenige liefen unruhig hin und her oder hockten stumm im Wind und schauten zu ihm herüber. Das Rasseln von Ketten machte ihn auf einen umzäunten Auslauf links vom Zwinger aufmerksam. Hier gab es eine ganze Reihe weiterer Hütten, diese in Form eines einfachen Zeltes. Davor war jeweils ein Hund angekettet. Max lockte sie pfeifend. Ein fast völlig schwarzes Tier erhob sich, streckte sich und bemerkte ihn, gähnte in den Wind hinein und jaulte ganz kurz auf. Es schnüffelte die Hütte entlang, hob ein Bein, kam zurück, schüttelte rasselnd sein Halsband und legte sich schnaufend wieder in den Schnee.

Die Hände in die Taschen des neuen Parkas gestopft breitete Max die Arme aus wie Flügel und ließ sich vom Wind an den Zwingern vorbei treiben. Hier ging es zu dem Fluss hinunter, der das Tal gegraben hatte. Eis und Schnee schimmerten blau in der Ferne und legten eine leere Landschaft bloß. Das Tal lag weit offen, es schien viel breiter zu sein, als es ihm während der Fahrt vorkam. Südöstlich war der See Altevatn gestaut. Den Damm konnte Max nicht sehen, doch er wusste, wo er lag.

Die Daunenjacke hielt den Wind ab, die dünne Hose ließ die Kälte durch. Max spitzte die Lippen erneut, um zu pfeifen, wie man es im Wald tun soll. Es gelang ihm nicht, der Wind riss jeden Laut mit sich. Aus dem Schutz der Gebäude heraus war er noch stärker geworden. Er stellte sich vor, wie er zu Hause in Großbeesen durch den Ort lief und die Leute sich wegdrehten. So ließ er sich treiben und bald verloren die Schuhe auf dem frei gefegten Eis jeden Halt.

Da klingelte und vibrierte es in seiner Hosentasche. Wütend kramte er unter all der Kleidung das Handy hervor. Sein Vater, sagte das Display. Der alte Achnitz.

„Nicht jetzt!“, schrie Max das Telefon an und warf es in hohem Bogen in die Dunkelheit. Er fiel hinten über, so wild hatte er geworfen … und rutschte weiter, bis ein Fuß eine Wurzel fand, die ihn stützte.

Das Handy klingelt noch eine Weile.

Max atmet zu kurz. Schweiß bricht ihm aus und der Magen will sich umdrehen. Er bekommt keine Luft. Der Wind weht ihm die Kapuze vom Kopf. Es bläst ihm mehr in den Mund hinein, als er ausatmen kann. Ruhig bleiben ... obwohl das schier unmöglich ist. Er wird wütend und verliert zu viel Kraft. Nichts, um sich daran festzuhalten.

Da ging oben am Blockhaus ein Licht an. Eine Frau erschien am Fenster. Schwarzes Haar. Mittellang. Ein bleiches, rundes Gesicht. Sie hob eine Hand an die Stirn gegen die Spiegelung und starrte ins Dunkle, als hätte sie etwas gehört.

Max rief und winkte, aber sie sah ihn nicht. Er kroch auf allen Vieren auf sie zu und wollte sie festhalten ... als sich ihm plötzlich ein Handschuh entgegenstreckte.

Da standen Schneeschuhe vor ihm. Eine schwarze Thermohose, ein vermummter Kopf unter einer Fellmütze.

Die Frau am Fenster tauchte kurz ab, richtete sich wieder auf und verschwand. Das Licht ging aus. Einer der Hunde fing zu heulen an und alle anderen folgten ihm, als ob es ein großer Spaß sei, bis der Lärm schließlich abebbte.

„Kommen Sie“, rief eine männliche Stimme.

Max ergriff die Hand und richtete sich auf. Der Mann war groß und hager, schien aber sehr kräftig zu sein. Er griff Max unter die Achsel und stützte ihn, als er erneut stolperte.

„Danke“, sagte Max, als sie den Windschatten des Blockhauses erreichten. „Ich stehe in Ihrer Schuld.“

Der Mann zog sich die Maske vom Kopf. Er war strohblond und hatte ein bleiches und weiches Gesicht. Blaue Augen.

„Wollen Sie Morgen mit auf Tour gehen?”, fragte er.

„Ja“, sagte Max. „Ich heiße Maximilian von Achnitz.“

„Kurt Henkelmann. Hören Sie“, antwortete Kurt, „ich werde die nächsten Tage nicht auf Sie aufpassen können. Verstehen Sie?“

„Das wird nicht nötig sein.“

Endlich betrat Max das Blockhaus. Da war zunächst die Diele, um Schuhe und Überkleidung auszuziehen. Die Stiege führte hoch in den Wohnbereich. Max nahm seine Taschen mit, während Kurt sich noch auszog.

Sieben Stunden Licht

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