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Montag, 10. September 2007, Bad Fallingbostel

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Uwe Hartmann war ein geduldiger Mensch. Auf seiner Dienststelle, der Polizeiinspektion Soltau, galt er als einer, den so leicht nichts aus der Ruhe bringt – weder die manchmal etwas gleichgültigen bis schlampigen Kollegen, noch die oft sehr aufgeregten Beteiligten der üblichen Kriminal- oder Verkehrsunfälle. Auch im Kreise seiner Familie bewahrte der Kriminalhauptkommissar normalerweise die Ruhe, auch wenn seine Frau Gudrun und seine Tochter Sarah hektisch durchs Haus rannten und wüste Flüche, wenn nicht gar Beschimpfungen ausstießen. Normalerweise.

Dieser Zustand aber konnte leicht aus dem Gleichgewicht geraten, wenn Hartmann einmal wieder im Begriff war, seiner großen Leidenschaft nachzugehen: der Jagd. Dann nämlich geschah es nicht selten, dass er bei den häuslichen Vorbereitungen von seiner Frau belächelt und verhöhnt und von seiner Tochter als »Mörder« beschimpft wurde – und zwar so hartnäckig, dass er irgendwann die Fassung verlor.

So war es auch an diesem Montag, einem milden Septemberabend kurz vor sechs Uhr. »Mein Gott, kannst du nicht einmal deine blöden Kommentare für dich behalten«, herrschte er Sarah an, als sie ihn in ihrer bissigen Art gefragt hatte, ob wieder die Mordlust in ihm erwacht sei.

»Ich weiß, dass du mich dämlich findest«, erwiderte Sarah. »Aber ich finde dich abartig, wie du da in dem komischen grünen Pullover und der Bundeswehrhose rumläufst und glänzende Augen kriegst, wenn du deine Knarre streichelst wie so ’n Berufskiller. Abartig! Echt!«

»Du hast sie doch nicht mehr alle.«

»Bitte?«

»Ich hab gesagt: ›Du hast sie nicht mehr alle‹ – und dazu steh ich, ich hab einfach keine Lust mehr, mich von einer durchgeknallten Zicke wie dir beleidigen zu lassen.«

»Häh? Durchgeknallte Zicke? So gehst du also mit Kritik um, du verkappter Sadist.«

»Nicht zu glauben! Weißt du, was du bist? Eine Hexe, eine giftige kleine Hexe.«

»Was ist denn hier los?« Zu allem Überfluss kam jetzt auch noch Gudrun Hartmann dazu. Die Grundschullehrerin hatte gerade Diktate korrigiert.

»Papa findet, dass ich eine Hexe bin«, sagte Sarah. »Eine giftige Hexe sogar.«

»Bitte?« Gudrun Hartmann sah ihren Mann an, als habe er die gemeinsame Tochter brutal geschlagen.

»Ich weiß, ich weiß, ich bin wieder der Bösewicht«, klagte Hartmann beleidigt. »Sarah darf mich als Mörder beschimpfen, und wenn ich mich wehre, dann …«

»Also bitte, komm mal runter, entspann dich, Uwe.« »Kommt ihr mal runter. Ich bin es langsam leid, mich hier maßregeln zu lassen, nur weil ich alle paar Wochen mal zur Jagd geh. Du weißt, dass ich das als aktiven Naturschutz …«

»Zur Jagd?« Gudrun Hartmann tat, als verstehe sie die Welt nicht mehr. »Davon weiß ich ja noch gar nichts. Heute Abend ist doch Elternabend, wir hatten doch schon vor zwei Wochen besprochen, dass du da hingehst. Du weißt doch, dass ich nicht kann, weil ich selbst Elternabend habe. Hast du das etwa vergessen?«

»Elternabend? Ich weiß von keinem Elternabend.«

»Typisch«, fauchte Sarah dazwischen. »Er weiß wieder mal von nichts. Wenn er an seine Ballerei denkt, ist alles andere ausgelöscht.«

»Halt die …«

»Sag mal«, fuhr Gudrun dazwischen. »Was ist das denn für ein Ton? Ich glaube wirklich, du bist etwas überreizt. Da sollte man sowieso besser nicht mit ‘ner Waffe losziehen.«

»Ein Elternabend bietet aber wahrscheinlich auch nicht die passende Entspannung«, entgegnete Hartmann.

Doch im nächsten Moment hielt ihm seine Frau schon den Wandkalender vor die Augen, wo für den 10. September tatsächlich nicht »Jagd«, sondern »Elternabend« eingetragen war – und zwar mit dem Zusatz »Uwe«.

Uwe aber war bereits in seine Jägermontur mit dem olivfarbenen Pullover und der reißfesten Hose geschlüpft und zu keinen Zugeständnissen bereit. »Dann schwänzen wir den Elternabend heute eben mal«, schlug er schon leicht schuldbewusst vor. »Da wird sowieso immer nur dumm rumgelabert.«

»So einfach kann man sich’s natürlich auch machen«, erwiderte Gudrun, und Sarah höhnte: »Ich glaube, seine Mordlust ist einfach schon zu stark, das kann man den anderen Eltern vielleicht wirklich nicht zumuten.«

Uwe Hartmann wollte seine Tochter zuerst noch zurechtweisen, entschloss sich dann aber, mit einem gegrummelten »Ihr könnt mich alle mal« den beiden Frauen den Rücken zuzukehren.

Wenige Minuten später stiefelte er auch schon mit »Amigo« zu seinem Geländewagen. Der zum Stöberhund ausgebildete Dackel sah mit seinen Schlappohren und Triefaugen genauso bedröppelt aus wie sein Herrchen.

Uwe Hartmann hatte einen Monat zuvor seinen 54. Geburtstag gefeiert, war also nicht mehr der Jüngste. Doch er hatte sich gut gehalten. Sein dunkelblondes Haar war noch voll und nur von wenigen grauen Fäden durchzogen, er war zwar nicht mehr ganz so schlank wie in der Zeit, in der er noch Fußball gespielt hatte. Doch es war ihm immer noch gelungen, seinen kleinen Bierbauch unter großzügig bemessenen Hemden oder weiten Pullovern zu verbergen. Zehn Jahre zuvor hatte er mit seiner Familie ein nagelneues Haus im Neubaugebiet von Fallingbostel bezogen, der alten Kreis- und Kurstadt, die sich neuerdings »Bad Fallingbostel« nennen durfte. Schon viele Jahre zuvor hatte Hartmann, ein Bauernsohn aus einem nahe gelegenen Heidedorf, sich der Jagdgenossenschaft Düshorn angeschlossen, dem einzigen Verein, dem er angehörte – von den Grünen vielleicht einmal abgesehen. Aber das war natürlich eine Partei, kein Verein. Nein, Feuerwehr und Schützenverein waren nicht sein Ding, ihm reichten die Uniformen, die er auf seiner Dienststelle zu sehen bekam, und er schätzte sich glücklich, seit der Versetzung zur Kripo seiner Arbeit in Zivil nachgehen zu dürfen.

An diesem Tag hatte er sich mit seinen Jagdkollegen zu einer kleinen Stokeljagd im Düshorner Wald verabredet. Paar Hasen, Kaninchen, vielleicht ein Fuchs. Mit einer größeren Strecke war nicht zu rechnen.

Die anderen Jäger, so um die zehn Männer zwischen achtzehn und achtzig und eine junge Frau, standen mit ihren jaulenden, fiependen Hunden schon auf dem Waldparkplatz herum, als er vorfuhr. Aus Fulde war auch Bauer Hansen zu Gast. Als Hartmann den stämmigen Kreislandwirt in seinem Lodenmantel bemerkte, fiel ihm ein, was er Ende vergangener Woche in seiner Dienststelle erfahren hatte: Mahnke war wieder auf freiem Fuß – dieser Studienrat, den er damals wegen des Mordes an der Schülerin hatte einbuchten lassen.

Er war von seinen Vorgesetzten sehr dafür gelobt worden. Schon nach zwei Wochen hatte die Soko »Moorsee«, deren Chef er war, den Fall aufgeklärt. Die Indizien waren so dicht, dass der anschließende Prozess reine Formsache gewesen war. Auch Heiko Hansen, der Sohn seines Jagdfreundes aus Fulde, war am Rande in den Fall verstrickt gewesen – der Bauernsohn ging mit Annika in eine Klasse, hatte angeblich zeitweise ein Auge auf sie geworfen und wohnte auch nicht weit vom Tatort entfernt. Doch nach einer mehr routinemäßigen Überprüfung war der Junge aus dem Schneider gewesen. Sein Vater hatte bezeugt, dass er zu der fraglichen Zeit auf dem Hof geholfen hatte.

Hartmann fühlte sich verpflichtet, den Waidgenossen über die letzte Entwicklung der lange zurückliegenden Geschichte in Kenntnis zu setzen, während er mit ihm ins Revier ging, um eine Schützenlinie zu bilden.

Hansen zeigte sich empört. »Was? Der Kerl ist schon wieder draußen? Ich dachte, der hat lebenslänglich.«

»Lebenslänglich heißt ja nicht ein Leben lang«, erläuterte Hartmann. »Nach fünfzehn, sechzehn Jahren haben die normalerweise die Chance, vorzeitig rauszukommen, wenn nichts dagegen spricht. Und Mahnke hat mittlerweile knapp siebzehn Jahre abgesessen, da ist es nicht ungewöhnlich, dass er wieder rauskommt.«

»Siebzehn Jahre? So lange ist das schon her?«

»Ja, Heinrich, die Zeit vergeht.«

»Von mir aus brauchten sie diese Kerle gar nicht wieder rauszulassen«, sagte Hansen. Er stieß einen schweren Seufzer aus. »Hoffentlich geht das jetzt nicht wieder von vorn los.«

»Wieso? Der Fall ist doch abgeschlossen.«

»Klar, aber der Mahnke hat doch nie gestanden, dass er’s war. Hoffentlich spielt der jetzt nicht verrückt.«

Hartmann spürte, dass die Neuigkeit den Jagdgenossen nicht kalt ließ. Als wenig später keine zwanzig Meter vor Hansen ein Kaninchen vorbeirannte, starrte der erfahrene Jäger geistesabwesend ins Leere. Er horchte erst auf, als ein anderer einen Schuss abgab.

Das Mädchen im Moor

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