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Оглавление»Jeder Mensch is’ ein Abgrund,
es schwindelt einen, wenn man hinabsieht.«
Georg Büchner
18. Mai 1990, Walsrode
Das Wasser ist so trüb, dass man den Grund nicht sieht. Vermutlich hat der See daher seinen Namen: Grundloser See – ein 4,7 Hektar großes Moorgewässer wenige Kilometer nordöstlich der niedersächsischen Kleinstadt Walsrode. Grundlos aber ist dieser See in Wirklichkeit nicht, an den tiefsten Stelle reichen Wasser und Schlamm höchstens drei Meter weit hinab.
Entstanden ist das Moorloch am Ende der Eiszeit. Ein riesiger Eisblock soll sich hier in den Boden gesenkt haben und allmählich geschmolzen sein. Ursprünglich bedeckte das Schmelzwasser eine weitaus größere Fläche. Doch der größte Teil verlandete und hinterließ eine Torfschicht.
So bildete sich das Grundlose Moor. Wollgras, Moos- und Rauschbeere gedeihen hier ebenso wie Torfmoos und Glockenheide, und wenn man Glück hat, kann man auch den Großen Brachvogel hören.
Ein anderer Vogel fällt ins Reich der Sagen und Gespenstergeschichten. In klaren Vollmondnächten, wird erzählt, soll sich ein weißer Greif aus dem Grundlosen See erheben und nach einiger Zeit mit einem Beutetier im gekrümmten Schnabel zurückkehren. Einem Hasen, Kaninchen oder Lamm. Ein Wanderer will zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts gesehen haben, wie der weiße Vogel mit einem kleinen Kind angeschwebt kam.
Doch der Greif entstammt den Schauergeschichten vergangener Zeiten. Unsere Geschichte dagegen beginnt an einem Maiabend des Jahres 1990.
Die Große Moosjungfer tanzte über dem schwarzen Wasser. Wie winzige Hubschrauber schwirrten die blauen Libellen am Ufersaum, eine Entenfamilie zog gemächlich ihre Bahn. Sonst rührte sich nichts. Verschwiegen spiegelten sich Birken und Kiefern auf der fast glatten Wasseroberfläche.
Kein Wind kräuselte die Wellen, kein Spaziergänger zeigte sich. Moose und Sträucher dampften ihre Nässe aus, selbst das Gezwitscher der Vögel aus den umliegenden Wäldern klang gedämpft.
Mathias Mahnke blickte zum wiederholten Mal auf seine Armbanduhr. Es war schon kurz vor halb sieben. »Wo bleibt die denn?«, murmelte der hoch aufgeschossene Mann mit dem kurz geschnittenen mittelblonden Haar. »Mein Gott, wie lange lässt die mich hier noch warten?«
Bereits um sechs war er mit Annika verabredet gewesen. Wie üblich wollten sie sich auf dem Waldweg treffen, der hinter dem großen Findling mit dem eingemeißelten Pfeil zum See führte. Heimlich wie fast alles zu geschehen hatte, was ihn mit seiner Schülerin verband.
Mahnke war seit einer halben Stunde den zweihundert Meter langen Waldweg auf und ab gegangen. Aber Annika hatte er nicht gesehen. Nur zwei ältere Frauen hatten den See umrundet. Um unerkannt zu bleiben, war er schnell in einen Trampelpfad abgebogen.
Es ist warm. Ein Teil des Sees liegt noch im Glanz der Abendsonne. Von Frühlingsstimmung kann jedoch keine Rede sein. Von dem schwarzen Wasser geht etwas Düsteres, Schwermütiges aus. Überall ragen abgestorbene Baumstümpfe aus dem Moor. Totholz.
Mahnke liebt das Moor und vor allem den See, in dem er an warmen Tagen schon verbotenerweise geschwommen ist. Besonders schön ist es jetzt im Mai, wo der Kuckuck ruft, Wollgras und Sonnentau blühen und die Birken und Kiefern ihre Düfte verströmen. Farne und Moosbeerenbüsche überziehen den Waldboden in so üppiger Pracht, dass abseits der Wege kein Durchkommen ist. Auch die Moos- und Grasflächen gestatten es nicht, dass man sich auf ihnen bewegt. Mahnke weiß, wie schnell man hier einsinken kann, wenn man die Wege verlässt. Setzt man den Fuß ins Gras, quillt sofort Wasser auf. Ein Paradies auf schwankendem Grund.
Doch in diesem Moment fehlt es ihm an der inneren Ruhe, die geheimnisvolle Schönheit auf sich wirken zu lassen. Wo bleibt Annika?
Mit wachsender Nervosität wehrt er Stechmücken und Bremsen ab, blickt sich um, horcht angestrengt lauschend auf. Doch nichts deutet darauf hin, dass die, auf die er wartet, in der Nähe ist. Nichts.
Während seine Augen umherschweifen, tritt er fast auf eine Ringelnatter. Ganz reglos liegt die kleine anthrazitfarbene Schlange vor ihm auf dem Sandboden. Als er sie mit dem Fuß antippt, zuckt sie sofort zusammen und schlängelt sich fort.
Nach dem Regen der letzten Tage haben sich die Löcher auf der seeabgewandten Seite neben dem Wanderweg mit Wasser gefüllt.
Plötzlich sieht er, dass in einem dieser Löcher etwas liegt. Es ist etwas, was da nicht hineingehört. Sein Blut stockt, er schließt die Augen, um sie gleich wieder zu öffnen. Doch das Bild, das sich auf seiner Netzhaut abzeichnet, bleibt das gleiche: In dem abgestandenen Wasser schwimmt ein menschlicher Körper, eine junge Frau – Annika, keine Frage, das ist Annika. Sie liegt auf dem Rücken, die langen blonden Haare aufgelöst zwischen Gräsern und Entengrütze, der Mund geöffnet, die Augen aufgerissen wie bei einem Schrei.