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Mittwoch, 5. September 2007, Benzen

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»Johanna Freifrau von Seewald.« Johanna musste lächeln, als sie den Namen las, der in akkurater, steiler Schönschrift auf das Kuvert geschrieben war. Auch der Absender ließ sie schmunzeln: »Marie-Luise Gräfin von Seewald-Stieglitz.«

Als sie den Brief las, verging ihr das Lächeln.

»Liebe Johanna,

ich hoffe, es geht Dir gut in Deinem Geisterhaus in der Heide. Ich lese mit Bewunderung Deine Artikel im ›Forum‹. Ganz großartig. Wir sind stolz auf Dich.

Leider gibt es von uns nicht so schöne Dinge zu berichten. Die Gebrechen des Alters verwandeln uns allmählich in schwachsinnige Greise. Dein Großvater hört nun auch immer schlechter. Da ich selbst, wie du weißt, schon lange so gut wie taub bin, müssen wir uns anschreien, wenn wir uns unterhalten wollen. Würdest Du zufällig bei uns hereinschneien – worauf ich immer hoffe –, dächtest Du wahrscheinlich, wir hätten einen heftigen Streit. Man könnte lachen, wenn es nicht so traurig wäre. Dabei verstehen wir uns noch recht gut. Wenn ich mich mal wieder über Deinen Großvaters ärgere – er ist immer noch so furchtbar vergesslich –, mache ich einfach einen kleinen Spaziergang durch den Drömling. Meine Beine tragen mich immerhin noch. Und wenn ich auch so kurzsichtig bin, dass ich zum Schreiben und Lesen eine Lupe brauche, so kann ich wenigstens noch den Wald und den Himmel sehen.

Aber diese Wehwehchen sind es nicht, deretwegen ich Dir schreibe. Ich wollte Dir berichten, dass mich Dein Vater besucht hat. Ja, ich weiß, Du wirst denken, ich sei verrückt geworden, einwenden, dass Dein Vater tot ist und ich mir das alles nur einbilde. Aber so ist es nicht, nein. Ich schwöre dir: Dein Vater war bei mir – so leibhaftig wie die beiden Spaziergänger, die in diesem Moment gerade an unserem Haus vorbeigehen.

Es war am Sonntagabend, kurz nach acht. Ich war dabei, diese neue Biografie über Friedrich den Großen zu lesen, da stand er auch schon vor mir.

›Guten Abend, Mutter‹, sagte er. Mehr nicht. Nur: ›Guten Abend, Mutter.‹

Ich muss gestehen, dass ich im ersten Moment zusammengezuckt bin, denn im Wohnzimmer war es schon ziemlich dämmrig und ich war ganz vertieft in meine Lektüre, sodass ich die Tür gar nicht gehört hatte. Außerdem sah Dein Vater etwas blass aus und brachte einen Kälteschub mit herein. Aber dann ist alles Erstaunen von mir abgefallen und ich habe mich nur noch gefreut, riesig gefreut.

Alles war wie damals, als er noch als Geschäftsführer für diese Schweizer Firma gearbeitet hat und immer in der Weltgeschichte herumgereist ist. Immer in Eile. Auch diesmal wieder. Ich habe ihm angeboten, schnell die Reste unseres Mittagessens warm zu machen, aber dafür hatte er gar keine Zeit. Er sei müde, sagte er, müsse bald weiter.

Aber er gehört immer noch zu den wenigen Menschen, die einen nicht nur fragen, wie es einem geht, sondern auch zuhören, wenn man die Frage beantwortet.

Er hat auch von Dir gesprochen, liebe Johanna, gesagt, wie stolz er auf Dich sei. Ich hatte den Eindruck, dass er ein wenig beunruhigt war. Er scheint sich Sorgen um Dich zu machen. ›Johanna muss aufpassen‹, hat er gesagt. ›Es gibt Leute, die nicht sehr begeistert davon sind, wenn sie irgendwelche Sauereien aufdeckt.‹ So ähnlich hat er sich ausgedrückt, von ›Sauereien‹ gesprochen, das hab ich mir genau gemerkt. Und: ›Sie muss aufpassen, Mutter.‹

Als ich ihm gesagt habe, dass er Dich mal in Walsrode besuchen soll, hat er nur traurig den Kopf geschüttelt. Ich glaube, er denkt immer noch, Du habest Dich mit Deiner Mutter gegen ihn verbündet. Ich habe es natürlich unterlassen, ihn darauf anzusprechen. Ich weiß ja, wie schmerzlich das alles für ihn war.

Stattdessen haben wir über alte Zeiten gesprochen. Ich musste ihm nur ein Stichwort geben, und schon sprudelte es aus ihm heraus. Ein Jugendstreich nach dem anderen. Herrlich.

Über all dem Gerede habe ich ganz vergessen, Deinen Großvater zu rufen, der wie üblich vor dem Fernseher eingeschlafen war. Ja, und dann war es auch schon zu spät. Auf einmal hatte es Dein Vater sehr eilig, und ehe ich mich versah, war er auf und davon. Wie immer: die Geschäfte!

So, jetzt tun mir aber auch schon wieder die Finger weh vom vielen Schreiben.

Es wäre schön, wenn Du Dich mal wieder bei uns melden würdest. Deine alten, törichten Großeltern würden sich über einen Besuch riesig freuen. Wir warten auf Dich! Lass uns nicht zu lange warten, Liebes!

Bis hoffentlich bald. In Liebe,

Deine Großmutter«

Johanna waren während der Lektüre immer wieder Kälteschauer über den Rücken gelaufen. Ihr Vater war vor fünfzehn Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen – während einer Geschäftsreise, die er offenbar mit dem Besuch seiner Geliebten verbunden hatte.

Seine Mutter hatte den Verlust nie verwunden, er war ihr einziger Sohn. Ein bisschen verrückt war sie immer schon gewesen, sie legte großen Wert auf ihre aristokratische Herkunft, war stolz, eine geborene von Stieglitz zu sein, Nachfahrin einer Kammerfrau, die der berühmten Prinzessin von Celle gedient hatte. Ebenso stolz war sie darauf, dass sie in eine Familie eingeheiratet hatte, deren Ahnherr das uneheliche Kind des Kurfürsten Ernst August von Hannover gewesen sein soll. Immer wieder hatte sie Johanna von diesen komplizierten Geschichten aus der glanzvollen Vergangenheit der Familiendynastie erzählt. Die Gegenwart war daran gemessen eher trist und schal. Johannas Großeltern, die einen Gutshof in der Altmark besessen hatten, waren 1945 im Zuge der Bodenreform enteignet worden und auf die niedersächsische Seite in den Landkreis Gifhorn nach Kaiserwinkel übergesiedelt – auf ein immer noch stattliches Gehöft, das Marie-Luise Gräfin von Seewald-Stieglitz von ihren Eltern geerbt hatte.

Johanna war oft in den Ferien in dem kleinen Gutshaus mit der roten Klinkermauer und der riesigen Kastanie gewesen. Es befand sich in unmittelbarer Nähe zur innerdeutschen Grenze, sodass dem Hof und der Landschaft etwas Unwirkliches innewohnte – ein Gutshof am Ende der Welt.

Passend zu dieser Grenzlage war Johannas Großmutter immer schon offen für grenzüberschreitende Erfahrungen gewesen, hatte Patiencen gelegt, die ihr einen Blick in die Zukunft gestatteten, und von Menschen erzählt, die das »zweite Gesicht« hatten. Nach dem Tod ihres Sohnes wuchs sich diese Marotte zu einem besorgniserregenden Geisterglauben aus. Sie entdeckte das Pendeln für sich, nahm an spiritistischen Sitzungen teil, sprach von Botschaften aus dem Jenseits. Aber noch nie zuvor war ihr Realitätssinn derart aufgeweicht, dass sie mit der größten Selbstverständlichkeit der Welt vom Besuch eines Toten berichtet hatte. Noch dazu in der Form eines Briefes!

Johanna machte sich Sorgen. Sie liebte ihre Großmutter. Sicher, sie hatte zwar immer schon ihre Schrullen gehabt, stets aber in rührender Weise Anteil an der Entwicklung ihrer Enkelkinder genommen. Schon seit früher Kindheit waren sie und ihr Bruder von ihren Großeltern mit Geschenken und Zärtlichkeit überhäuft worden. Johanna hatte es stets genossen, sich die wunderbaren Geschichten ihrer Großmutter anzuhören. Aber jetzt, schien es ihr, war eine Grenze überschritten. Eine Grenze, hinter der sich ein Abgrund auftat.

Zu ihrer Schwiegertochter, Johannas Mutter, hatte die »Gräfin« schon bald nach dem Tod ihres Sohnes jeden Kontakt abgebrochen. Sie bezichtigte sie der Untreue, hielt ihr vor, dass sie sich mit anderen Männern vergnüge, anstatt ihren toten Gatten in Würde zu betrauern. »Flittchen« nannte sie ihre Schwiegertochter, »gewissenloses Flittchen«.

Eigentlich hatten sich die beiden Frauen noch nie verstanden. Christine von Seewald war in den Augen ihrer Schwiegermutter einfach nicht standesgemäß. Die Gräfin unterstellte ihr, Christoph auszunutzen, um als Malerin groß herauszukommen. Anfangs hatte sie noch einige der Bilder ihrer Schwiegertochter gekauft und ihrem Sohn zuliebe im Haus aufgehängt – alles Aquarelle mit maritimen Motiven. Aber mittlerweile moderten die Gemälde, die sie als »scheußlich« bezeichnete, auf dem Dachboden vor sich hin. Schon vor dem Unfall hatte sie die Bilder abgehängt.

Johanna dagegen hielt die Gemälde ihrer Mutter in Ehren. Obwohl auch sie die »fliegenden Fische« nicht schön fand, hätte sie es niemals übers Herz gebracht, die beiden Bilder von der Wand zu nehmen.

Sie schrak zusammen. Mit langgezogenem Ächzen öffnete sich die Tür; langsam, ganz langsam, als würde sich ein Gespenst ins Wohnzimmer schleichen. Unsichtbar, unaufhaltsam. Natürlich war Johanna schon im nächsten Moment klar, dass ein Windstoß die unverschlossene Tür bewegt hatte. Gegen die Gänsehaut konnte sie sich trotzdem nicht wehren. Nach dem Brief ihrer Großmutter war sie doppelt empfänglich für das Eigenleben des alten Kastens.

Sie hatte sich das Backsteinhaus am Rande von Benzen bei Walsrode vor sechs Jahren gemeinsam mit ihrem Freund gekauft. Jens stammte aus der Gegend, er hatte in einem Chemieunternehmen im Nachbarort Bomlitz als Diplomkaufmann gearbeitet. Dann aber war die Beziehung in die Brüche gegangen, Jens wechselte zu einem Betrieb nach Hannover und sie war hier hängen geblieben. Sie konnte sich einfach nicht von dem »Hexenhaus« mit den knarrenden Holzdielen trennen, liebte es, von Frühjahr bis in den Spätsommer hinein, draußen im Garten am Waldrand zu sitzen.

Aber sehr praktisch war es nicht. Ständig war irgendetwas kaputt. Mal regnete es durchs Dach, mal zog es durch die Fenster. Und an den langen Herbst- und Winterabenden wurde es ihr bisweilen auch unheimlich in dem alten Gemäuer. Wenn sie dann auch noch nachts durch das Knistern und Knacken auf dem Dachboden aus dem Schlaf gerissen wurde, war sie oft so verängstigt, dass sie bis zum Morgen keinen Schlaf fand. Besonders schlimm war es, wenn die Marder unter dem Dach herumtobten. Wie Kobolde hörten die sich an, wie böse Zwerge.

Das Telefon klingelte. In der Hoffnung, durch den Anruf wieder in die Realität zurückgeholt zu werden, nahm sie ab.

»Seewald.«

»Hallo, Johanna, mein Schatz.«

»Hallo, Mama.«

»Ich hoffe, es geht dir gut in deiner Waldeinsamkeit. Alle schwärmen von deinen tollen Artikeln. Wahrscheinlich bist du jetzt auch gerade wieder beim Schreiben und ich störe.«

»Nein, ich …«

»Ach, da bin ich ja beruhigt. Ich bin nämlich vollauf mit meiner Ausstellung in Worpswede beschäftigt, weißt du. Die Vernissage rückt immer näher, und es sieht wirklich so aus, dass die Bude rappelvoll werden wird. Stell dir vor, Schatz, sogar aus den USA haben sich einige Sammler und Galeristen angekündigt. Ich kann kaum mehr schlafen vor Aufregung. Du hast dir doch hoffentlich den Termin rot im Kalender angestrichen?«

»Klar, Mama, das war der, der …«

»Du Schlingel, du hast es vergessen, gib es zu. Also zum Mitschreiben: Es ist der 22. September, ein Sonnabend. Okay?«

»Ja klar, steht natürlich längst bei mir im Kalender.«

»Sag mal, hast du eigentlich deine Kollegin vom ›Forum‹ informiert? Wird sie kommen?«

»Ich weiß es nicht, Mama. Ich habe ihr eine Mail geschickt.«

»Eine Mail? Denkst du, das reicht? Ihr Journalisten kriegt doch wahrscheinlich Tausende von Mails. Wäre es nicht besser, sie anzurufen?«

»Das, äh, fände ich, ehrlich gesagt, ziemlich peinlich.«

»Peinlich? Wieso? Bin ich dir etwa peinlich?«

»Mama, bitte.«

»Gut, gut, ich will nicht weiter in dich dringen. Die Hauptsache ist ja auch, dass du da bist. Mit deinem Bruder rechne ich schon nicht mehr. Der sitzt mit seiner Familie in München und schafft es gerade noch, mir zu Weihnachten eine billige Karte zu schicken. Aber glücklicherweise kenne ich den Grund, ich weiß, dass seine Frau ihn gegen mich aufhetzt.«

»Mama, bitte.«

»Ja, du hast vollkommen recht. Jeder muss sein eigenes Leben leben. Ich jedenfalls kann zurzeit nicht klagen.«

»Das ist schön für dich, Mama.«

»Ja wirklich, seitdem ich mit Florian zusammen bin, fühle ich mich wie auf Wolke sieben. Du musst ihn unbedingt kennenlernen.«

»Mal sehen.«

»Mal sehen? Na, sag mal! Habe ich dir eigentlich schon gesagt, dass wir daran denken zu heiraten? Da ist es doch wohl eine Selbstverständlichkeit, dass du ihn vorher kennengelernt hast. Aber glaub mir: Der ist wirklich total süß.« Sie kicherte. »Der wird dir auch gefallen, glaub mir. Und obendrein ein genialer Maler. Die Kunstwelt singt Hymnen auf ihn …«

So ging es noch eine ganze Weile. Johanna war erschöpft und wütend, als ihre Mutter endlich aufgelegt hatte. Sie glaubte ihr kein Wort. Seit Jahren schon kündigte sie an, dass sie unmittelbar vor dem Weltruhm stehe, bedrängte Galerien und Kunsthäuser, ihre Bilder auszustellen, hielt sich junge Liebhaber aus der Künstlerszene, die sich in Wirklichkeit nur über sie lustig machten und ihr Geld verschlangen. Schon kurze Zeit nach dem Tod ihres Mannes hatte sie sich in den Trubel des Kunstbetriebs gestürzt – bemüht, ihren Jugendtraum wahr zu machen. Doch nur Freunde und Verwandte kauften ihre Werke, die Experten rümpften die Nase über sie oder verhöhnten sie hinter ihrem Rücken.

Und bei aller Großspurigkeit schien sie diese Verachtung, diese Geringschätzung zu spüren, in seltenen Momenten brach ihre Verzweiflung durch, und dann konnte sie bitterlich weinen. Johanna hasste diese Momente fast noch mehr als die egozentrische Selbstüberschätzung ihrer Mutter. Wahrscheinlich würde sich auch diese Ausstellung wieder als große Luftnummer herausstellen.

Johanna war nicht entgangen, dass ihre Mutter gelallt hatte. Sie hatte sich vermutlich wieder Mut angetrunken, ihre Selbstzweifel mit hochprozentigen Cognacs heruntergespült. Gut, dass sie ihr bei dem Gespräch nicht gegenübergesessen hatte. So war ihr wenigstens diese widerliche Schnapsfahne erspart geblieben. Bei der letzten Begegnung hatte sie sich fast übergeben.

Johanna musste sich jedes Mal überwinden, wenn sie ihre Mutter in Bremen besuchte. Schon bald nach dem Tod ihres Vaters hatte ihre Mutter die Villa am Stadtrand verkauft und sich in einer Dachwohnung im Schnoor-Viertel niedergelassen, das sie auch als Atelier nutzte. Witwenrente und Lebensversicherung hätten ihr ein sorgenfreies Leben ermöglichen können. Da sie aber mit ihrem Geld um sich warf, um sich Anerkennung zu erkaufen, bewegte sie sich in jüngster Zeit immer häufiger an der Grenze des finanziellen Ruins.

Johanna graute davor, diese Ausstellung in Worpswede zu besuchen. Aber wahrscheinlich würde sie nicht darum herumkommen.

Regen prasselte an die Fensterscheiben. War das etwa schon der Auftakt zu den düsteren Tagen, die das Leben in ihrem einsamen Hexenhaus noch trüber machten? Johanna kam nicht dazu, den Gedanken zu Ende zu denken. Das Telefon klingelte erneut. Diesmal war ihre Freundin Sabine dran. Doch es war kein entspanntes Geplauder unter Freundinnen, was folgte, sondern eine Art Dienstgespräch. Johanna war im Begriff, sich in einen Kriminalfall verstricken zu lassen – in der ungewohnten Rolle einer Enthüllungsjournalistin. Egal. Besser, als noch tiefer in diesem familiären Schlamassel zu versinken.

Das Mädchen im Moor

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