Читать книгу Das Mädchen im Moor - Heinrich Thies - Страница 8
Freitag, 7. September 2007, Langenhagen
ОглавлениеEr rannte, keuchte, schwitzte, spielte sich frei, ließ den Pass auf sich zukommen, stoppte den Ball, zirkelte ihn an zwei, drei gegnerischen Abwehrspielern vorbei – und schoss. Dem Torwart blieb keine Chance, unmittelbar unter der Latte schlug der Ball ins Netz.
»Nicht schlecht, Alter.« Markus bekräftigte das Kompliment, schlug Sören freundschaftlich auf die Schulter.
Sören war stolz. Es war zwar nur ein Trainingsspiel, aber er spürte, dass er gut in Form war, super in Form. Ein Mann am Seitenrand nickte anerkennend. Kurz vor Trainingsbeginn hatte der Mann noch Rasen gemäht. Es schien der neue Platzwart zu sein. Ein großer, hagerer Kerl von ungewöhnlich blasser Gesichtsfarbe, wie Sören auffiel. Seine Haare waren schon grau, fast weiß, doch bei näherem Hinsehen erkannte man, dass der Mann jünger war, als die Haare erwarten ließen. Besonders die Augen deuteten darauf hin, dass er vom Rentenalter noch weit entfernt war. Sören schien es, als würden sie ihm zulächeln. Komisch, schon von Anfang an hatte er das Gefühl gehabt, als wollte der Kerl etwas von ihm. Regelrecht angestarrt hatte der ihn, als er vor drei Wochen das erste Mal während des Trainings auf dem Platz gewesen war.
»Ey, was is’n los? Träumst du, Alter?« Simons Stimme riss ihn aus seinen Grübeleien. Er hatte gar nicht gemerkt, dass das Spiel weiterlief.
Mathias Mahnke war wie gebannt. Er sah sich außerstande, seinen Blick von diesem rotblonden Jungen mit dem gelben Trikot abzuwenden, der mit dem Ball umgehen konnte wie kein Zweiter auf dem Platz. Wieselschnell, athletisch, elegant, ausdauernd. Wie der sich den Ball erkämpfte, flankte oder aus zwanzig Metern Entfernung das Leder ins Tor beförderte, mit einem Schuss, der gleichzeitig kraftvoll und präzise war. Wahnsinn! Mahnke konnte es nicht fassen, empfand Freude und Stolz bei all seiner Nervosität.
Von wem er das wohl hat?, ging es ihm durch den Kopf. Von wem wohl? Von mir bestimmt nicht, ich bin nie ein großer Fußballspieler gewesen.
Aber es war keine Frage: Der große, breitschultrige Junge war sein Sohn. Anfangs hatte er noch gezweifelt. Aber als er dann noch mal die Fotos betrachtet und später mit dem Original verglichen hatte, stand es fest. Es war Sören. Sein Fleisch und Blut, wie man so sagte.
Er spürte, dass der Junge seinen Blick erwiderte, fühlte sich ertappt, blickte in eine andere Richtung. Aber im nächsten Moment fragte er sich, was das für einen Sinn machte. Und er sah zurück, sah seinem Sohn in die Augen. Er war wie elektrisiert. Sören war anzusehen, dass es ihn verunsicherte, so angestarrt zu werden. Doch sein Gesichtsausdruck hatte nichts Abweisendes. Er war offen. Das gefiel Mahnke. Seine Erstarrung löste sich, wandelte sich in ein Lächeln.
Ihm war, als würde die Zeit stillstehen. Die Sekunden dehnten sich. Dann aber wurde Sören von einem Mitspieler ins Spiel zurückgeholt, und der Platzwart nahm seine Harke und harkte weiter das trockene Gras zusammen. Das war schließlich sein Job.
Mahnke fasste sich an die Stirn. Ein Schwindelgefühl. Die Eindrücke waren so stark, dass sie ihn fast umwarfen. Vier Wochen zuvor erst war er aus dem Gefängnis entlassen worden, aus der Justizvollzugsanstalt Celle, dem Knast für Schwerverbrecher. Sicher, er hatte schon seit einem Jahr Ausgang gehabt, war in den letzten Monaten im offenen Vollzug gewesen. Aber nun auf einmal wieder allein auf eigenen Füßen zu stehen, das war doch etwas anderes, etwas ganz anderes.
Zum Glück stand ihm seine Schwester zur Seite. Sabine hatte für ihn eine kleine Wohnung in Hannover gemietet und auch den Kontakt zu dem Sportverein in Langenhagen hergestellt. Vor allem hatte sie für ihn herausgefunden, dass Sören in diesem Verein Fußball spielte – sein Sohn Sören, den er bisher nur von Fotos kannte. Welch Glück, dass die Sportfreunde Silbersee gerade jetzt auf der Suche nach einem Platzwart gewesen waren. Vor allem: Dass sie ihn genommen hatten, den entlassenen Sträfling, den verurteilten Mörder. Das war mehr, als er zu hoffen gewagt hatte.
Plötzlich fliegt ein Ball an ihm vorbei. Mahnke reagiert sofort, lässt seine Harke fallen, läuft dem Ball hinterher und schießt ihn zurück aufs Spielfeld, nicht etwa mit der Fußspitze, sondern, wie er es einmal gelernt hat, mit dem Innenrist – und er schießt den Ball nicht irgendwohin, sondern direkt auf Sören zu. Der stoppt das Leder, hebt in Mahnkes Richtung die Hand und ruft »Danke«.
Mahnke ist überwältigt – und noch entschlossener als zuvor, die Gelegenheit zu nutzen. Nach dem Training will er Sören ansprechen. Nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen, nein, das wäre zu viel, aber auf jeden Fall einen ersten Kontaktversuch wagen.
Er muss nicht lange warten.
»Schluss für heute, Leute«, ruft der Trainer nach wenigen Minuten, und Mahnke schlendert so unauffällig wie möglich in Richtung des Sportlerheims, wo die jungen Spieler gleich die Umkleidekabinen ansteuern und seinen Weg kreuzen werden.
Er spürt, wie sein Pulsschlag heftiger wird, wie ihm das Blut bis in die Fingerspitzen schießt, die Hände feucht werden, doch er müht sich, die Aufregung niederzukämpfen, es möglichst beiläufig wirken zu lassen, als Sören näher kommt und er die Chance erhält, ihn anzusprechen.
»Sah nicht schlecht aus, Kompliment. Wenn du im Spiel genauso gut bist wie beim Training, können eure Gegner einpacken …«
Die Worte sprudeln nur so aus ihm heraus.
Der Angesprochene ist verunsichert. »Danke.«
Mahnke lächelt. »Wirklich, ich glaub, du hast Talent, Sören, du spielst großartig.«
Sören ist anzusehen, dass ihn die Ansprache irritiert. Woher kennt der Typ seinen Namen? Doch dann fällt ihm ein, dass seine Mitspieler ihn ja ständig beim Training mit seinem Namen anrufen, und seine Verwunderung legt sich. Aber schon während er unter der Dusche steht, fragt er sich, warum dieser Mann ein solches Interesse an ihm zeigt.