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Sonntag, 9. September 2007, Langenhagen

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Kevin ging mit schmerzverzerrtem Gesicht zu Boden. Ein Abwehrspieler des SV Linden hatte ihn mit voller Wucht in die Beine getreten. »Brutale Sau«, riefen sie am Seitenrand, »Rote Karte«. Doch der Schiedsrichter ließ weiterspielen.

Es ging auf die Halbzeit zu. Die Anfeuerungsrufe wurden lauter, die Fouls härter. Gerade hatte der SV Linden einen Ausgleichstreffer erzielt, es stand 2:2. Das hätte nicht passieren dürfen. So viele Gegentore! Auf eigenem Platz! Bei einem Gegner, der schon seit Jahren als Punktelieferant galt.

Sören beobachtete im Rückwärtsschritt, wie sich ein Mitspieler mit dem Ball aus einem Knäuel herauskämpfte, stürmte zur Seitenlinie, verfolgte den geglückten Pass, rief Simon an, um das Leder zu übernehmen – und fing die Flanke auch schon im nächsten Moment ab. Ohne zu zögern, trieb er den Ball weiter in Richtung Tor, umspielte einen Abwehrspieler, hielt Ausschau nach einer Abspielmöglichkeit und dribbelte, da er niemanden fand, weiter, um eine Schussposition zu finden. Schließlich entdeckte er eine Lücke und hielt aufs Tor zu. Ein Abwehrspieler jedoch hechtete in die Schusslinie und beförderte den Ball hinter die Torlinie. Immerhin Eckstoß.

»Bravo«, rief da jemand. »Bravo, Sören.« Es war der Platzwart, der jetzt beim Punktspiel eine schwarze Baseballkappe trug, um sein blasses Gesicht vor der Sonne zu schützen.

Sören fiel auf, dass sich der Mann weit entfernt vom Anhang der Langenhagener aufhielt, näher bei den Vätern und Müttern der Lindener. Im Pulk der Langenhagener entdeckte Sören auch seine Mutter. Wie üblich war sie mit Tobias gekommen. Sie lehnte an der Absperrung. Aber anders als sonst zeigte sie kein Interesse am Spielgeschehen. Zorn, Entsetzen spiegelte sich im Blick der braunhaarigen, dezent geschminkten Frau, die in ihrem weißen Hosenanzug ausgesprochen elegant wirkte. Was hatte sie nur? Immer wieder richteten sich die Augen von Sibylle Häcking für den Bruchteil einer Sekunde auf den Mann an der gegenüberliegenden Seite des Spielfelds, und wer dicht neben ihr stand, hätte bemerken können, dass sie die Lippen aufeinanderpresste und vor Entrüstung bebte.

Was ging da vor? Sören spürte, dass etwas nicht stimmte, zwang sich aber, seine Aufmerksamkeit wieder dem Spiel zuzuwenden. Denn gerade in diesem Augenblick führte ein Mitspieler den Eckstoß aus, und Kevin gelang es, den Ball mit dem Kopf ins Tor zu lenken. 3:2. Der Jubel war groß.

Mathias Mahnke hatte sie sofort entdeckt. Sie war kaum gealtert. Eine attraktive Erscheinung, ohne Frage. Der Junge, der neben ihr stand und sie drängte, ihr Portemonnaie zu öffnen, war vermutlich Tobias, ihr Sohn, Sörens fünf Jahre jüngerer Halbbruder, der Tobi genannt wurde, wie Mahnke von seiner Schwester wusste.

»Klasse, Sören.« Er konnte nicht anders, als seine Begeisterung herauszuschreien. Als er jedoch auf die andere Seite blickte, um zu sehen, wie Sibylle Häcking auf ihren talentierten Sohn reagierte, sah er in die Augen einer Fassungslosen. Wie ein Bannstrahl traf ihn dieser Blick. Doch er hielt stand, spürte, dass es kein Zurück mehr gab, wandte sich wieder dem Fußballspiel zu und nahm sich vor, gleich in der Pause den Schritt zu tun, der unvermeidlich war.

Behutsam nähert er sich dem Anhang der Langenhagener, lässt sich von Männern grüßen, die ihn bereits beim Rasenmähen gesehen und als neuen Platzwart identifiziert haben, hält auf Sibylle Häcking zu, die mit mehreren Frauen an der Getränkebude steht, einen Becher mit Mineralwasser in der Hand, schweigend und außerordentlich nervös, wie ihm auffällt. Schließlich löst sie sich von den anderen Müttern, um zur Toilette zu gehen. Kurz vor den Toiletten fängt Mahnke sie ab.

»Hallo, Sibylle.«

Die Angesprochene zuckt zusammen. Ihr Gesichtsausdruck wirkt gehetzt. »Was willst du hier?« Eine einzige Zurückweisung drückt sich in der Frage aus. Eine verbale Ohrfeige.

»Ich wollte nur …«

»Verschwinde«, zischt sie ihm zu, das Gesicht ist wutverzerrt, die Unterlippe bebt vor Zorn. »Verschwinde aus meinem Leben.«

»Sibylle, bitte, ich …«

»Lass mich in Frieden, bitte.« Sie betont jedes einzelne Wort, jedes Wort, jede Silbe ein Schlag in die Magengrube. »Was fällt dir ein, hierherzukommen?!«

»Aber ich …«

»Hau ab, hau sofort ab.«

Der Wortwechsel bleibt den Umstehenden nicht verborgen. Mahnke fühlt sich beobachtet, von argwöhnischen, feindseligen Blicken durchbohrt. Er stiehlt sich davon. Immer schneller werden seine Schritte. Am liebsten würde er laufen, rennen. Nur weg, nur weit, weit weg.

Sören wundert sich, dass er den Platzwart nach der Halbzeitpause nicht mehr sieht. Seine Mutter wirkt weiterhin verstört, fast aufgelöst. Entgegen ihrer Vorsätze zündet sie sich noch auf dem Sportplatz eine Zigarette an und saugt den Rauch mit tiefen Zügen und zitternden Händen ein. Dabei starrt sie mit einem so leeren Blick aufs Spielfeld, dass sie gar nicht mitbekommt, dass es am Ende 4:2 für die Sportfreunde Silbersee steht und ihr Sohn ein umjubeltes Tor geschossen hat.

»Was war denn los?«, fragte er, als er am frühen Abend nach Hause kam und sich noch schnell eine Tiefkühlpizza in den Backoffen schieben wollte.

»Warum? Was …, was soll denn los gewesen sein?«

»Also, Mama, echt, du hast ausgesehen, als hätte dir einer dein Todesurteil verkündet.«

»Wie bitte? Was soll denn das? Ich weiß gar nicht, was du …«

»Also, wirklich, wenn du denkst, du kannst mich für blöd verkaufen, dann …« Er bemerkte, wie sie hektisch den Kopf bewegte, wie ihre Augen flackerten. Wie aus einer plötzlichen Eingebung heraus fragte er: »Hat das vielleicht mit dem neuen Platzwart zu tun?«

Es gelang ihr nicht mehr, ihre Bestürzung zu überspielen. Sie knetete nervös die Hände, ihre Augen flackerten, sie rang nach Luft und passenden Worten. »Also, ich, ich …« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das geht jetzt nicht, wir können später darüber reden, später – wenn Tobi im Bett ist. Dann, äh, dann können wir darüber reden. Ich komm zu dir ins Zimmer. Ja? So, äh, gegen neun?«

»Okay.«

Wie geplant machte sich Sören über seine Pizza her. Doch mit seinen Gedanken war er bei der rätselhaften Begebenheit auf dem Fußballplatz. Er versuchte sich abzulenken, indem er sich auf die Geschichtsklausur vorbereitete. Aber das war sinnlos. So angestrengt er auch die Quellentexte zum Nationalsozialismus las, er begriff gar nicht, worum es ging. Schließlich öffnete sich die Tür, und seine Mutter befreite ihn von der mühsamen Lektüre.

Eine Sorgenfalte grub sich in ihre Stirn. Senkrecht und tief. Alles an ihr verriet ein verzweifeltes Bemühen, die Fassung zu bewahren. Sie ließ sich auf einem Sessel nieder und faltete die Hände, als wollte sie beten, dabei blickte sie Sören bekümmert an. »Ich muss dir was erzählen, Sören«, begann sie. »Es fällt mir nicht leicht, wirklich nicht, aber es hat einfach keinen Sinn, länger einen Bogen darum zu machen. Das wird nicht einfach für dich sein, mein Junge. Versprich mir also, dass du mich nicht verdammst, wenn …«

Dann musste sie schlucken und ihre Stimme erstarb in heftigem Schluchzen. Wenig später erfuhr Sören, dass er mit einer Lüge aufgewachsen war. Dass sein Vater nicht gestorben war, sondern im Gefängnis gesessen hatte. Wegen Mordes an einer Schülerin.

Das Mädchen im Moor

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