Читать книгу Einer kam heim aus Afghanistan - Heinz-Joachim Simon - Страница 9

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Endlich saß ich im Flieger nach Dubai. Ich hatte einen Platz in der ersten Reihe – First Class natürlich. Ein Vertreter des Gernot–Konzerns reist nicht in der Holzklasse. Nach dem Abheben, als die Leuchtzeichen erloschen waren, ging ich den Gang hinunter zur hinteren Toilette. Aber ich konnte Djamila nicht entdecken. In den hinteren Reihen saßen einige Frauen in sackartigen Gewändern mit Kopftüchern. Doch Djamila war nicht unter ihnen. Entweder hatte sie es sich mit dem Flug in die Heimat überlegt, oder sie hatte eine andere Maschine genommen. Also blieb mir nichts anderes übrig, als die Bücher durchzuackern, mit denen ich mich eingedeckt hatte.

«Geliebtes Land» von Koelbl und Ihlau sowie einige von Scholl–Latour. Kein gleichwertiger Ersatz für meine Tagträume, wie bereits auf dem Flug mehr aus unseren Blicken werden könnte. Aber die Bücher waren hilfreich. Ich bekam einen ersten Überblick über das, was mich erwartete. Doch ich hätte lieber den Alexander bei meiner Roxane gespielt. Der Flug verlief angenehm ruhig. Da die Sitzplätze neben mir frei waren, stieß mir auch keiner seinen spitzen Ellbogen in die Rippen. Die Stewardessen waren nett und das Essen genießbar, was auf einem Flug eine Ausnahme ist. Bei einem feinen Margaux vom Chateau Siran ließ ich den letzten Tag in Hamburg noch einmal Revue passieren. Abdu hatte mich am Morgen nach dem Afghanistan–Abend gefühlvoll dafür gelobt, dass ich nicht noch einmal zum Atlantic losgezogen war.

«Wir sind doch gemeinsam nach Hause gefahren», wehrte ich verwundert sein Lob ab.

«Du hättest danach trotzdem noch einmal zum Atlantic fahren können.»

«Stimmt. Doch woher weißt du, dass ich es nicht getan habe.»

«Patricia hat mich angerufen und gefragt, ob du schon auf dem Weg bist. Sie war sich ziemlich sicher, dass du kommen würdest.»

«Eine selbstbewusste Frau. Sie hält sich für unwider­stehlich.»

Alles wusste er doch nicht. Mir hatte die schöne Patricia am nächsten Morgen eine SMS geschickt: Ich habe dich vermisst. Warum bist du nicht gekommen? Wir sehen uns heute Abend.

So war es dann auch. Es hatte sich eingespielt, dass sie mehrmals in der Woche zum Abendessen da war. Sie kam direkt aus dem Geschäft, einer renommierten Unternehmensberatung. Sie war nicht nur verwöhnte Tochter, sondern auch zielstrebig und clever, und das, gepaart mit ihrer Optik, hatte sie eine ganz nette Karriere machen lassen. Das Essen verlief in bedrückter Stimmung, da Vater vom Krisenstab erfahren hatte, dass man noch immer ohne Kontakt zu den Entführern war. Nach dem Essen verdrückte ich mich, da mir Patricias Blicke und heimliche Avancen ein wenig auf die Nerven gegangen waren. Ich ging auf mein Zimmer. Doch bald klopfte es. Ich entkam ihr nicht. Mit großen Schritten stürmte Patricia herein und musterte herausfordernd die Umgebung.

«Ein bisschen infantil, nicht wahr? Das ist das Zimmer eines Neunzehnjährigen!» stellte sie ironisch lächelnd fest.

«Das ist es auch. Ich war schon seit zehn Jahren nicht mehr hier. Ich bin ja erst seit ein paar Tagen wieder im Kreis der Familie aufgenommen. Wenn man nicht einen Feuerwehrmann benötigen würde, wäre ich nicht hier.»

«Ich komme mir ein bisschen dumm vor», sagte sie und setzte sich auf mein Bett. Sie schlug die beachtlichen Beine übereinander und seufzte mit Augenaufschlag: «Ich habe mich in den Bruder meines Verlobten verknallt.»

Das Mädchen legte ein Tempo vor, dass einem schwindelig werden konnte. Ich fühle mich immer ein wenig hilflos, wenn die Initiative vom weiblichen Geschlecht ausgeht, zumal wenn sie nicht die Richtige ist.

Sie war sich ziemlich sicher, dass sie zum Ziel kommen würde. Wenn ich Djamila nicht getroffen hätte, wären ihre Chancen beachtlich gewesen. Natürlich hätte ich ein schlechtes Gewissen gehabt. So ganz koscher war es nicht, die Braut des Bruders flach zu legen.

«Das kommt ein bisschen überraschend», sagte ich, zündete mir eine Partagas Club an und ging zum Schrank. «Willst du einen Whisky?»

«Könnte ich vertragen», stimmte sie zu. «Was hast du für einen?»

«Ballentines und Johnny Walker.»

«Ist in Ordnung. Einen Johnny Walker, bitte.»

Ich drückte ihr das Glas in die Hand.

«Auf die Überraschungen!» versuchte ich cool zu bleiben.

Sie nickte. Wir tranken schweigend, sie räkelte sich wie in Gedanken, und ihr kurzes Kleid rutschte immer höher.

«Ich werde mich von Detlef trennen, sobald er wieder zurück ist.»

Ich zuckte mit den Schultern, so andeutend, dass dies nicht mein Bier war.

«Ich meine es ernst!»

«Doch nicht wegen mir?»

«Nein. Es wäre ohnehin passiert. An Detlef ist nur der Name interessant. Ich weiß jedes Mal, was er sagen wird, bevor er den Mund aufmacht.»

«Ja. Er ist sehr berechenbar, aber eben auch sehr zuverlässig.»

«Ein ganzes Leben nur Zuverlässigkeit ist mir zu wenig.»

«Hättest du dir das nicht ein wenig früher überlegen können?»

«Ja. Aber mein Vater drängte aufs Tempo. War ein Fehler, dass ich mich breitschlagen ließ. Aber wir sind ja noch nicht verheiratet. Eine Verlobung lässt sich leicht lösen.»

Sie trank ihren Whisky aus und beugte sich jäh über mich und küsste mich. Sie war schön und jung, ich hatte schon lange keine Frau mehr gehabt, und die Begegnung mit Djamila war zu kurz gewesen, dass ich darin bereits eine Verpflichtung sah. Es passierte also. Ich küsste zurück und fuhr ihr in den Ausschnitt, und sie sah mich herausfordernd an.

«Lass uns ficken», flüsterte sie.

Die Senatorentochter hatte ein durchaus plebejisches Vokabular. Sie hatte wunderbare Brüste, und da ihr Griff in meine Hose nicht gerade schüchtern geriet, kam es, wie es kommen musste. Mein Zimmer bekam etwas zu hören und zu sehen, was hier schon lange nicht mehr abgegangen war. Sie war begabt im Bett und liebte es hart und ausdauernd. Mein Bruder war ein Esel, dass er ihr nicht gab, was sie brauchte. Sie hatte in der Tat großen Nachholbedarf und war auch für einige Dinge bereit, die man bei einem Mädchen aus gutem Hause nicht so ohne weiteres erwarten konnte. Was sie mit ihrem Mund anstellte, hätte jeder Dame auf St. Pauli zur Ehre gereicht. Als wir es hinter uns gebracht hatten, rauchten wir eine von meinen Partagas. Sie sah mich, während sie den Rauch ausstieß, nachdenklich an.

«Du bist ein guter Ficker.»

«Danke für die Blumen. Das Kompliment gebe ich gern zurück.»

«Wir wären ein gutes Paar. Lass es uns versuchen.»

«Ich bin nur der Bastard. Bei mir ist kein Geld zu holen. Willst du in einer Mansarde hausen?»

«Ich habe genug Geld.»

«Nun bin ich erst einmal mit Afghanistan verabredet», wich ich aus.

«Komm schnell zurück! Dann schaffe ich hier Klarheit, und wir könnten eine gute Zeit haben.»

Ich hatte ohnehin vor zurückzukommen. Aber ich war mir sicher, dass aus der Geschichte mit ihr kaum mehr als ein paar heftige gymnastische Übungen werden würden. Mich schüchterten Frauen ein, die die Eroberinnen spielten. Beim Dinner war sie oberhalb der Tischkante die kühle Senatorentochter gewesen, und darunter hatte sie mir eifrig den Hosenstall poliert. Irene hatte dies bemerkt und mir ein Augenzwinkern zukommen lassen. Schwesterchen war immer auf meiner Seite, wenn sie das Ganze vielleicht auch ein wenig befremdlich fand. Ich ließ Patricia gegenüber offen, ob unsere gymnastische Übung weiterreichende Folgen haben würde. Sie beharrte darauf, auf mich zu warten. All zu heftig wehrte ich mich nicht gegen das Versprechen.

Am Morgen hatten mich Vater und Irene zum Flughafen gebracht, und ich musste ihnen versprechen, mich täglich zu melden.

«Wenn irgend etwas aus dem Ruder läuft, ruf mich an», sagte mein Vater zum wiederholten Male. «Wir müssen Detlef in den nächsten Tagen frei bekommen. Wer weiß, was er alles in den Bergen aushalten muss.»

Über meine Sicherheit verlor er kein Wort.

«Begib dich nicht in zu große Gefahr!» hauchte mir dafür Irene ins Ohr. «Abdu sagte mir, dass dich Vater auf einen Höllentrip schickt. Komm zurück aus Afghanistan!»

Genau dies hatte ich vor.

Mit diesen Gedanken schlief ich ein. Der gute Margaux war daran vielleicht auch nicht ganz unschuldig. In Dubai musste ich feststellen, dass mein Flugzeug nach Kabul, die Ariana Airline, technische Probleme hatte und erst am nächsten Tag fliegen würde. Ich war deswegen nicht sehr betrübt und nahm mir eine Suite im Interconti. Dubai ist der betongewordene Traum einer neureichen Scheichfamilie. Es ist das, was die Franzosen bei ihrem neuen Präsidenten «Blinkie– blinkie» nennen. Alles ist neu und auf Wirkung gebaut. Die kühne Architektur und die neu geschaffenen Inseln für die Milliardäre dieser Welt können nicht übertünchen, dass hier ein unsicherer Geschmack am Werke war. Die Stadt ist nicht organisch gewachsen, sondern aus miteinander nicht harmonierenden Hochhäusern zusammengekleistert und ein Beispiel dafür, dass Geld allein nicht reicht, eine menschenwürdige Umgebung zu schaffen. Es war alles zu laut, zu sehr Bulgari. Zu viel Marmor, zu viel Glas, zu viele Springbrunnen – zu viel Geld. Von meinem Zimmer hatte ich einen guten Blick über die Stadt. Sie erinnerte mich an Hongkong, das nur nachts schön und geheimnisvoll ist und als Attraktion nur das gute alte Hotel Peninsula hat.

Ich warf den Kleidersack aufs Bett und packte meine Toilettensachen aus. Neben ein paar Jeans hatte ich nur Unterwäsche und blaue Lacostehemden eingepackt. Das schwerste in dem Kleidersack waren meine Bücher. Neben den Afghanistanbüchern hatte ich noch einige Taschenbücher von Hemingway und Fitzgerald dabei. Ich hatte sie schon hundertmal gelesen, und sie waren ziemlich zerfleddert, aber ohne die Bücher ging ich nicht auf Reisen. Ich las ein wenig in «Paris – ein Fest fürs Leben», das ich teilweise auswendig kannte. Paris war auch meine Lieblingsstadt. Ich konnte tagelang durch Paris laufen und stundenlang im Louvre oder Musée d’Orsay die Bilder betrachten, ohne dass mir langweilig wurde. Wenn ich Monets Bilder der Kathedrale von Rouen ansah, wurde ich jedes Mal so andächtig wie Hemingway beim Anblick der Bilder Cézannes. Nach einer Prise des guten alten «Hem», als ich über dessen Hunger in der Rue Cardinal Lemoine las, hatte ich ebenfalls Hunger und fuhr hinunter in die Lobby. Vor dem Fahrstuhl stieß ich mit einem Pulk aufgeregt schnatternder Frauen zusammen. Ich wollte eine Entschuldigung murmeln, aber sie blieb mir im Hals stecken. Meine Roxane sah mich spitzbübisch lächelnd an. In ihrem dunklen Kostüm sah sie wie eine Italienerin aus – wie eine sehr dunkle Italienerin.

«Ich habe Sie im Flugzeug vermisst!» gestand ich ihr.

«Wir sind von Köln/Bonn geflogen. Ich will nur meine Sachen aufs Zimmer bringen. Warten Sie hier auf mich?»

Sie schien davon überzeugt zu sein, dass ich mich nach ihren Wünschen richtete. Dabei hatte ich gelesen, dass die afghanischen Frauen in ihrem Land nicht viel zu sagen hatten. Meine Roxane stieg lächelnd in den Fahrstuhl, ich setzte mich in einen Clubsessel, bestellte ein Ginger Ale und betrachtete in Ruhe die rein– und rausströmenden Gäste. Die jungen Araber sahen so aus, als hätten sie bei ‚Lawrence von Arabien’ mitgespielt, und einige von ihnen ähnelten Omar Sharif. Die älteren erinnerten mich an den dickbäuchigen Syrer aus «Casablanca». Die meisten trugen lange weiße Gewänder. Die älteren Männer sahen darin aus, als wenn sie schwanger wären. Die Frauen trugen Kopftücher und einige wenige sogar eine Burka. Aber sie waren alle mit Schmuck behangen, als müssten sie einen Christbaum ersetzen.

Djamila trat aus dem Fahrstuhl, und sie war so schön, dass mir die Hände feucht wurden. Stöhnend warf sie sich neben mich in den Sessel:

«Puh, das war vielleicht ein unruhiger Flug. Ich bin fix und fertig.»

Sie schlug die langen Beine übereinander und warf einen zustimmenden Blick auf mein Getränk.

«Ginger Ale? Das ist gut. Sie beginnen sich auf Afghanistan einzustimmen. Ich nehme eine Cola.»

Der Ober, ein smart aussehender junger Mann, kam diensteifrig auf meinen Wink herbei und stellte ein zweites Schälchen mit Nüssen auf den Tisch. Ich bestellte die Cola. Er entblößte eine prächtige Zahnreihe und fragte freundlich:

«Mit Eis?»

«Mit viel Eis», erwiderte Djamila.

Nach einem bewundernden Blick auf ihre Beine rauschte er ab.

«Freundliches Völkchen. Guter Service», sagte ich anerkennend zu Djamila.

«Ja. Aber das hier ist eine Kunstwelt. Wie ist Ihr Eindruck von Dubai?»

«Neureich. Protzig. Ordinär.»

Sie nickte zögernd. Aber mein Urteil schien ihr nicht zu gefallen.

«Nicht anders sah es in der Gründerzeit in Europa aus. Dieser Zuckerbäckerstil mit den Gipsköpfen war nicht gerade ein Ausdruck von Geschmack und Stil. Und eure Banktürme in Frankfurt sind auch ziemlich einfallslos und genauso trostlos wie die in Hongkong oder Manhattan.»

Da hatte ich es. Ihr Urteil war nicht einmal falsch.

«Pardon», entschuldigte ich mich. «Aber was Architektur betrifft, bin ich furchtbar altmodisch. Ich mag die Opéra in Paris, obwohl sie auch kitschiger Zuckerbäckerstil ist. Diesen blinkenden Türmen kann ich nichts abgewinnen.»

«Und doch passiert hier etwas Wunderbares!» verteidigte sie Dubai energisch. «Sie schaffen hier den Sprung in das 21. Jahrhundert. Sie bereiten ihr Land auf die Zeit nach dem Öl vor. Sicher ist hier einiges zu bombastisch und manches geschmacklos. Aber Dubai wird das Monte Carlo der Zukunft. Sie schaffen es mit eigener Kraft. Das ist schon bewundernswert.»

«Mit der Kraft des Ölgeldes!» setzte ich entgegen.

«Na und? Was ist daran verkehrt? Sie schaffen das Ferienparadies der Zukunft. Eines Tages wird statt des Öls der Tourismus eine sprudelnde Einnahmequelle sein. Leider haben wir in Afghanistan kein Öl. Für uns wird der Weg unendlich viel schwieriger sein.»

«Ja. Darüber hat mich Abdu aufgeklärt.»

Ein junger Mann blieb an unserem Tisch stehen. Djamila wurde bleich. Ich bekam ein kurzes, kühles Nicken. Djamila begrüßte er mit einem formvollendeten Handkuss.

«Darf ich vorstellen, Rashid Markan», sagte Djamila mit schmalen Lippen und nannte dann meinen Namen, und der junge Mann entspannte sich. Er trug einen dunklen Anzug und einen schmalen Oberlippenbart, wie man ihn in den Zwanziger Jahren in Deutschland und Frankreich trug. Ein Belami–Typ.

«Sie sind ein Gernot von der Gernot–Hoch– und Tiefbau–Aktiengesellschaft?»

Ich nickte, und Rashid Markan setzte sich zu uns, winkte dem Ober zu und bestellte einen Whisky.

«Ich freue mich, Sie kennen zu lernen. Sie fliegen wegen Ihres Bruders nach Kabul?»

Ich nickte. «Sie wissen davon?»

«Ja. Natürlich. Wir sind mit Sayed Khan, dem Repräsentanten Ihrer Firma, befreundet.»

«Woher kommen Sie? Hatten Sie in Dubai zu tun?» fragte ich höflich, obwohl ich über sein Aufkreuzen nicht gerade begeistert war.

«Nein. Ich war in Geschäften in London. Mein Vater hat mich kurzfristig wegen einer Familienangelegenheit nach Afghanistan zurückberufen.»

Er warf Djamila einen scharfen Blick zu und sagte etwas auf Paschtu, und sie antwortete genauso scharf. Rashid lehnte sich bleich im Sessel zurück und trank seinen Whisky. Beide Gesichter zeigten, dass sie miteinander recht unzufrieden waren.

«Ich habe im letzten Jahr Ihren Bruder in Kandahar kennen gelernt», unterbrach Rashid schließlich das Schweigen. «Ich habe ihn bei der geologischen Bestimmung des Baugrundes beraten. Er ist ein sehr aktiver, energischer Mann. Ein typischer Deutscher!» setzte er lächelnd hinzu.

«Rashid ist Geologe», erklärte mir Djamila mit angestrengtem Gesicht. «Ja. Ich konnte Ihrem Bruder, glaube ich, sehr nützlich sein», erklärte der Afghane selbstbewusst.

An Minderwertigkeitsgefühlen litt er nicht.

«Was ich an Ihrem Bruder mochte, war die Klarheit des Denkens. Problem – Zielsetzung – Aufgabe – Handlung», lobte er Brüderchen. «Man merkte an ihm, dass Kant und Hegel Deutsche sind.»

«Ja. Mein Bruder hat ein paar herausragende Eigenschaften», stimmte ich in sein Loblied ein. «Hat nur leider nicht verhindert, dass er sich von irgendwelchen Mudjaheddin einfangen ließ.»

«Warum wollen Sie nach Kabul? Sie werden dort nichts erreichen. Sie sollten es der afghanischen Regierung und dem Krisenstab in Berlin überlassen, ihn frei zu bekommen.»

«Ja. Das wäre sicher das Beste», gab ich zu.

Er sah mich ratlos an.

«Ich will nur sehen, ob man den ganzen Prozess beschleunigen kann.»

«Ach so!» erwiderte er unzufrieden.

Es schien ihm nicht zu passen, dass ich nach Kabul ging. Später war mir klar, dass es ihm nicht passte, dass Djamila und ich zusammen saßen.

«Mein Vater hat auch in Deutschland studiert», sagte er, um das sich hinschleppende Gespräch wieder in Gang zu bringen. Afghanen sind höfliche Menschen.

«Wo?»

«In München. Er spricht sogar … bayrisch.»

Ich lachte höflich.

«Ich habe ein paar Semester in Bochum studiert, bin aber dann nach Cambridge gegangen. Ein paar Brocken Deutsch kann ich auch. Guten Tag. Wie geht es Ihnen. Danke, mir geht es gut.»

Diesmal lachten wir alle.

«Aber wir sind Afghanen geblieben», fügte er ernst hinzu. «Wir achten unsere Sitten und Traditionen.»

Wieder warf er Djamila einen ärgerlichen Blick zu. Sie sagte etwas in scharfem Ton, und er antwortete genau so scharf, stand auf und sagte zu mir:

«Wir sehen uns dann morgen im Flieger!»

Hoch aufgerichtet und mit rotem Kopf ging er zum Fahrstuhl.

«Was hat er denn?»

«Er ist wütend, weil ich noch westliche Kleidung trage, wütend, dass ich hier mit Ihnen zusammen sitze, wütend, dass ich mich nicht auf mein Zimmer begebe. Und geplatzt ist er geradezu, als ich ihm sagte, dass ich Ihnen die Stadt zeigen will. Er wird sich daran gewöhnen müssen, dass ich nicht nach seiner Pfeife tanze. Ein Afghane bleibt ein Afghane, auch wenn er einen westlichen Anzug trägt und in Cambridge studiert hat.»

«Tut mir leid, dass Sie meinetwegen Ärger bekommen haben.»

«Ich werde noch mehr Ärger bekommen, wenn ich meinem Vater sage, dass ich ihn nicht heiraten will.»

Das war ein Geständnis, das meinen Blutdruck erhöhte. Was war passiert? In Hamburg hatte sie so getan, als sei dies unabänderlich. Ich hatte nun die verwegene Hoffnung, dass es vielleicht an mir lag.

«Wird Ihr Vater darauf eingehen?»

«Ich weiß es nicht. Mein Vater ist überaus großzügig. Er hat auch in Deutschland studiert. Er liebt die Deutschen. Er hat mich studieren lassen, obwohl dies eigentlich den Männern vorbehalten ist. Aber er ist nun einmal Afghane. Wir werden sehen.»

Sie saß also ganz schön zwischen den Stühlen. Ich bewunderte sie für ihren Mut.

«Kann es … gefährlich für Sie werden?»

«Gefährlich? Nein. Unangenehm auf jeden Fall. Es könnte sein, dass man mich trotzdem mit ihm verheiratet. Unfolgsame Frauen oder Töchter wurden in Afghanistan vor kurzem noch gesteinigt.»

Aus der Bar war Musik zu hören. Eine Band spielte Strangers in the night. Der Sänger war kein Frank Sinatra, aber es klang trotzdem sehr schön und melancholisch und romantisch.

«Wollen Sie noch in die Stadt?» fragte sie.

«Nur wenn Sie es wollen.»

«Nein. Ich weiß jetzt, dass Ihnen die Stadt nicht gefallen wird. Sie können mich zu einem Whisky an der Bar einladen. Noch einmal werde ich mich wie ein Westler benehmen. Morgen ist das vorbei.»

Wir gingen in die Bar, die mit bläulichem Licht wie ein Raumschiff aussah. Die Wände waren verspiegelt, und an der Decke drehte sich eine Kugel, deren Facetten wie Diamanten aufleuchteten. Auf der Tanzfläche klammerten sich einige Paare aneinander. Alle waren westlich gekleidet. Nach ihrer Physiognomie zu urteilen, waren die Damen ausschließlich Europäerinnen.

«Die Mädchen sind sicher alle aus Osteuropa», sagte Djamila mit unzufriedenem Blick.

Wir setzten uns an die Bar, und ich bestellte zwei Chivas. Die Bar war, was Alkohol betraf, exterritoriales Gebiet.

«Die Herren sind doch Araber.»

«Ja. Unsere Männer dürfen sich alles erlauben.»

Wir sahen den tanzenden Paaren zu.

«Würden Sie auch einmal mit mir tanzen?» fragte sie nach einer Weile mit schüchternem Lächeln.

«Sehr gern. Aber werden Sie dadurch nicht noch mehr Ärger bekommen?»

«Hier nicht. Den Ärger werde ich erst bekommen, wenn Rashid zu Hause erzählt, wie er mich hier angetroffen hat.»

Wir rutschten vom Barhocker und gingen zur Tanzfläche. Die Kapelle spielte nun Samba Pa Ti von Santana. Djamila drückte sich an mich und legte ihren Kopf an meine Schulter. Ihr Haar kitzelte meine Wange. Ich spürte, wie sie mir mit ihrem Unterkörper entgegenkam, und mein Herz schlug schneller. Ich musste ein Zittern unterdrücken.

«Entspann dich!» flüsterte sie mir ins Ohr, was nicht so leicht ist, wenn man aufsteigende Gefühle hat.

Wir tanzten eine Weil eng umschlungen, und jedes Blatt Papier wäre zwischen uns versengt. Von wem hatte sie gelernt, wie man beim Tanzen den Beischlaf ersetzt? Samba Pati hatte leider auch ein Ende, und wir klatschten höflich.

«Da ist Rashid!» flüsterte mir Djamila zu.

Er stand mit einer rothaarigen, großen Frau mit hohen Wangenknochen am Eingang und warf uns einen hasserfüllten Blick zu. Ich war noch nicht in Afghanistan und hatte dort bereits einen Todfeind. Ich konnte nur hoffen, dass er uns beim Tanzen nicht beobachtet hatte.

«Wollen wir uns setzen?» bot ich Djamila an.

«Nein. Er soll ruhig begreifen, dass ich nicht die Frau bin, die er braucht.»

Rashid setzte sich mit der Rothaarigen in eine Ecke, sie steckten die Köpfe zusammen und sahen dabei zu uns herüber. Die Band spielte «In the Ghetto». Der Sänger bekam auch diesen Song von Elvis gefühlvoll hin. Djamila schmiegte sich so eng an mich, dass sich mein Glied wieder versteifte. Ich wollte ihretwegen ein wenig abrücken, aber sie drückte sich weiter gegen mich, hob den Kopf und fragte schelmisch:

«Ist der deutsche Mann so schüchtern?»

Wenn das keine Aufforderung war, mutiger zu werden. Ich zog sie noch enger an mich, und sie rieb sich an mir gleichmäßig und beständig wie ein Automat. Es war ein Stehfick, wie ich ihn auch in meiner Sturm– und Drangzeit nicht besser hinbekommen hätte. Ich sah, wie ihre Wangen sich röteten und merkte, wie ihr Atem schneller ging. Plötzlich löste sie sich von mir.

«Wollen wir gehen?»

Ich nickte, denn wenn es so weitergegangen wäre, hätte ich bald eine nasse Hose gehabt. Ich unterzeichnete die Rechnung, und wir verließen die Bar. Rashid sah uns mit einem Blick nach, der die Hitze eines Flammenwerfers hatte.

«Er macht nicht gerade einen fröhlichen Eindruck.»

«Nein. Ich habe Schande über ihn und mich gebracht. Vielleicht überlegt er sich doch, ob er einen beschädigten Krug heiraten will.»

Ich konnte mit der Bemerkung nicht viel anfangen.

Wir stiegen in den Fahrstuhl und fuhren zu meiner Suite in die oberste Etage. Als die Tür hinter uns zufiel, küsste sie mich. Dieser Kuss hatte noch ein paar Hitzegrade mehr als Rashids Blick. Wir warfen uns aufs Bett und fielen übereinander her, als wäre es für uns beide das erste Mal. Als sie zum Höhepunkt kam, schrie sie etwas auf Paschtu, und ihre Hände krallten sich in meinen Hintern. Ihre Augen waren weit offen, und ihrem Mund entflohen Satzfetzen, die ich nicht verstand. Wir konnten lange nicht genug voneinander bekommen und schliefen in dieser Nacht noch einige Male miteinander. Als wir gegen Morgen erschöpft nebeneinander lagen und uns an den Händen hielten, flüsterte sie:

«Peter, ich habe mich in dich verliebt.»

«Ich bin schon seit unserer Begegnung im Afghanischen Club in dich verliebt. Du bist meine Roxane.»

«Roxane? Du bist ja romantisch, Peter!» rief sie überrascht, richtete sich auf und zeichnete mit dem Finger mein Gesicht nach.

«Ich staune über mich selbst», gestand ich.

Ich streichelte ihre samtene Haut, die wunderschönen kleinen Brüste, bewunderte im Mondlicht ihre grazile, schlanke Figur und konnte mich nicht satt sehen.

«Es ist eine amour fou, wie die Franzosen sagen. Wir wissen nicht, wie es ausgehen wird.»

«Du kannst französisch?», staunte ich.

«Un peu. Nicht sehr gut. Aber amour fou trifft es. Es geschieht nicht so oft, dass sich Orient und Okzident vermischen.»

«Alexander hat es versucht. Die Hochzeit zu Susa.»

«Ja. Alexander. Bist du mein Alexander?»

«Ich werde mir Mühe geben.»

«Du weißt gar nichts von mir», sagte sie seufzend. «Ich war schon einmal verheiratet!» setzte sie in trotzigem Ton hinzu.

Das war eine Eröffnung, die überraschend kam. Aber im Grunde war es mir gleichgültig.

«Bist du geschieden?»

«Es war Rashids älterer Bruder. Er ist bei den Kämpfen der Warlords in Kabul umgekommen. Die Horden von General Dostum haben ihn umgebracht.»

«Hast du ihn … geliebt?»

«Nein. Du Dummer!»

Sie drückte meine Hand gegen ihre Wange und küsste sie.

«Wir afghanischen Frauen werden schon als Kinder verheiratet. Ich hätte es schlechter treffen können. Er war ganz anders als Rashid. Sehr kultiviert. Ein Westler, der mit seinem Afghanentum haderte. Als er starb, habe ich meinen Vater so lange bearbeitet, bis er mich nach Deutschland gehen ließ. Ich habe in Köln Orientalistik studiert und mich für den Afghanischen Frauenverein nützlich gemacht.»

«Und nun sollst du Rashid heiraten?»

«Es ist nicht unüblich, dass der Bruder die Frau seines getöteten Bruders unter seine Frauen aufnimmt. Aber darum geht es in diesem Fall nicht. Es ist Politik. Vater braucht die Unterstützung von Scheich Markan, und dieser braucht Vaters Verbindungen zu Gulbuddin Hekmatyar und seiner Partei Hezb–e–Islami. Hekmatyar ist Afghanistans mächtigster Warlord. Ich soll also verschachert werden.»

«Ich denke, dein Vater ist so großzügig.»

«Er ist Politiker und … Afghane. Er will die Familienbande zu Markan verstärken. Er ist das Familienoberhaupt, und wir Frauen sind seine …Tauschobjekte.»

«Ihr lebt noch im Mittelalter.»

«Richtig. Wir sind ein Volk von Stämmen, das nach archaischen Regeln lebt. Wir nehmen den Koran noch wörtlich. Es ist ein wunderbares Buch. Aber es stehen auch schlimme Dinge drin – genau so wie in der Bibel. Wir verstehen ihn noch nicht – wie ihr eure Bibel – im Kontext der damaligen Zeit zu lesen.»

«So lange die Mohammedaner einen Teil ihrer Gläubigen nicht gleichberechtigt behandeln, werden sie schwach bleiben. Mit euren Bräuchen allein kommen die islamischen Länder nie in der Neuzeit an.

«Ja. Wir leben noch immer in der Zeit und mit den Regeln der Wüstenstämme.»

«Hast du darüber einmal mit deinem Vater oder … deinem Mann diskutiert?»

«Mit meinem Mann schon. Er war meiner Meinung. Aber bei den Diskussionen mit Vater ist nicht viel herausgekommen. Er hat immer Angst, dass ich Schande über ihn bringe und die Gesetze des Paschtunwali verletze. Aber Faiz ist auf dem Weg, so zu denken wie ich. Mit ihm kann man diskutieren.»

Wir redeten bis in den Morgen hinein. Schließlich schlief ich erschöpft ein. Als ich aufwachte, war sie fort. Auf dem Spiegel des Bades stand ein Abschiedsgruß:

Vergiss mich nicht. Vielleicht gibt es ein Wiedersehen in Deutschland. Deine Djamila Roxane.

Ich war ratlos. Warum erst in Deutschland? Ich hatte trotz der Bücher keine Ahnung von Afghanistan.

Ich duschte lange, um richtig wach zu werden und rasierte mich gründlich, zog die Jeans an und legte die schwarze Pilotenlederjacke über die Schultern. Ich hoffte, sie beim Frühstück wiederzusehen.

Einer kam heim aus Afghanistan

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