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Rückkehr in die alte Heimat

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Elmar machte sich also auf den Weg nach Waldstädten. Kaum hatte er die letzten Häuser des Dorfes hinter sich gelassen und die Auffahrt zur Autobahn genommen, als es heftig zu regnen anfing. Herbstlich kühle Schauer stürzten pausenlos vom Himmel, nicht enden wollende Wolkenbrüche peitschten heran und trommelten von links, rechts, von oben und von vorne an die Scheiben seines Wagens. Der Wald, die hügelige Landschaft, die er eben noch deutlich sehen konnte, waren hinter einer ge­waltigen Regenwand verschwunden. Sturmböen trieben den Regen vor sich her, wir­belten die Tropfen immer wieder gegen die Fenster, wo sie prasselnde und knisternde Geräusche verursachten. Blitze jagten in grotesk gezackten Linien über den Himmel und schleuderten ihr fahles Licht über die Lande, und als der Wald, bislang nur als dunkle, unförmige Masse sichtbar, im bengalischen Licht der Blitze kurz aufschien, krachte es auch schon, beängstigend lange mit einem Getöse, als splittere im nahen Wald ein Baumriese auseinander. Fasziniert betrachtete er das Naturschauspiel. Gleichzeitig wunderte er sich, war doch ein Gewitter zu dieser Jahreszeit, im Okto­ber, nicht gerade üblich. Obwohl die Regengüsse die Sicht erschwerten und er nur mit gedrosseltem Tempo fahren und konzentriert auf den Verkehr achten musste, eil­ten seine Gedanken öfter zu den Ereignissen voraus, die in Waldstädten vermut­lich auf ihn zukamen. Vor allem stellte er sich die Situation vor, wie er wohl von Frau Lambertz empfangen und in ihr Haus geführt werde. Das große Wohnzimmer der Lambertz, eigentlich eine größere und kleinere Zimmerhälfte, stieg mit all sei­nem Inventar in seiner Erinnerung auf. Wie oft hatte er dort auf dem langen Famili­ensofa gesessen, verabredet mit Julia, die er abholen wollte, um sie Gott weiß wohin auszuführen, wie viele Feste hatte er mit ihr und ihren zahlreichen Geschwistern in diesen Räumen gefeiert! Über zwanzig Jahre waren das nun her. Im Geiste schon wandelte er durch die beiden Zimmer, warf Blicke auf den massiven Bücherschrank mit all den unbenutzten Klassikerreihen, oder er inspizierte die Gemälde in der klei­neren Zimmerhälfte. Zeitlebens war ihm eines in Erinnerung geblieben, welches das Werk eines Großonkels von Julia war, eines ehemaligen Rektors der Realschule von Waldstädten. „Der Geist des Bettelweibes“, lautete sein Titel oder so ähnlich. Gemalt war eine unheimliche Szene aus einer Novelle von Heinrich von Kleist, die der Rek­tor vermutlich sehr geschätzt hatte. Ein Ritter mit blutrotem Umhang steht in der Mitte einer Kemenate, schlägt mit seinem Degen wild in die Luft, als kämpfe er ge­gen einen unsichtbaren Feind. Seine Augen starren voller Entsetzen auf eine Stelle des Zimmers. Neben ihm weicht sein Hund mit gefletschten Zähnen vor irgend et­was zurück, vermutlich vor dem unsichtbaren, aber hörbaren Geist des Bettelweibes. Der Ritter sollte der Marchese der Kleist - Novelle sein. Er hatte das Bettelweib einst in barschem Ton hinter den Ofen verwiesen, wo das Weib zusammenbrach und verstarb. Später erschien es ihm als Gespenst, das heißt, er hörte stets nur ihre schlur­fenden Schritte; immer wieder schlurfte es nachts in dem Zimmer und an dem Ofen, wo das arme Weib jämmerlich zugrunde gegangen war. Der Marchese aber, wahnsin­nig geworden, zündete sein Schloss an und kam in den Flammen elendig um. Was für eine rätselhafte, absonderliche Verstrickung!, dachte Elmar immer, wenn er das Bild betrachtete oder die Novelle von Kleist las; er kannte sie von seinen Deutsch­stunden her. Irgendeine Schuld des Marchese am Tod des Bettelweibes war nicht er­sichtlich, ja man konnte noch nicht einmal annehmen, er hätte sich später, als das Gespenst auftauchte, an den Vorfall überhaupt erinnert; trotzdem erscheint das Ge­spenst, als wäre es sein personifiziertes schlechtes Gewissen, als wäre es von der Göttin Nemesis geschickt, um ihn für eine schlimme Tat büßen zu lassen.

Noch an andere düstere Gemälde in diesem Zimmer glaubte sich Elmar zu entsinnen, und er wundert sich noch heute, warum Julias Vater an solchen wenig anheimelnden Schicksalsbildern Gefallen fand. Denn nicht nur das „Bettelweib“ erzählte von ei­nem furchtbaren Geschick, auch die anderen kündeten - soweit er sich erinnerte - von Verhängnis und Unglück. Sollte das Unheilvolle, Chaotische dieser Bilder an die ewige Drohung der Himmelsmächte gemahnen, oder hatte Herr Lambertz aus die­sem Kontrast zu seinen wohlgeordneten Verhältnissen ein überhöhtes Selbstbewusst­sein geschöpft?

Elmar hatte inzwischen die Autobahn verlassen und war Waldstädten schon recht nahe gekommen. Auf einem Schild las er: „Waldstädten, 15 Kilometer“. In den nächsten Minuten durchfuhr er ein größeres Waldstück, und er hielt an einem Wan­derweg an, da ihm dieser bekannt vorkam.

‚Ja, dieser Weg!’ murmelte er, durch das Seitenfenster auf das Waldstück blickend, ’so gerade läuft er in den Wald hinein, und hinten verliert er sich im Ungewissen, Dunklen! Ja, er ist es, ich bin ihn so oft mit meinen Eltern gegangen.’

Es war keine erbauliche Geschichte, die sich da in seine Gedanken drängte, zuerst in flüchtiger Gestalt, mit wenigen schemenhaften Erinnerungsfetzen, doch nicht lange dauerte es, bis die Bruchstücke sich mehr und mehr zu wahren Schreckensbildern formten, und er war außerstande, sich der Gewalt dieser unentwegt aus seinem See­lenabgrund emporschießenden düsteren Erinnerungen zu entziehen. Einst nämlich - so erzählten ihm diese Bilder - war er in sein Elternhaus zurückgekehrt, nicht ge­schmückt mit dem Lorbeer irgendeines gelungenen Abschlusses, auch nicht gestählt durch einen anderen Erfolg, auf den er stolz hätte verweisen können; nein, er konnte auf nichts verweisen, er war buchstäblich mit leeren Händen zurückgekehrt, er war beruflich gescheitert! Ohne fremde Hilfe konnte er damals nicht existieren, und also blieb er lange bei seinen Eltern wohnen, die ihn wie in früheren Zeiten umsorgten und ernährten. Zu allem Unglück hatte noch eine gefährliche Viruskrankheit alle sei­ne Kräfte gelähmt.

‘Himmel noch mal’, dachte er, ‘was für Zeiten waren das! Wären seine Eltern nicht gewesen, er wäre jämmerlich zugrunde gegangen, in jenen dunklen Verliesen, die das Schicksal für manchen Zeitgenossen bereithält.’

Nachdenklich schaute er den Weg entlang. Er führte zunächst durch ein Stück Hoch­wald, um bald darauf im schwarzen Nadelgehölz eines Fichten­waldes zu verschwin­den. Da es schon lange aufgehört hatte zu regnen, stieg er aus und schloss den Wa­gen ab. Dann, nach einigem Zögern, indessen er sich weiter jene fernliegende, un­glückliche Lebensphase vergegenwärtigte, gab er sich einen Ruck und bog in den Weg ein, der auf den genannten Fichtenwald zulief. Die Vergangenheit hielt ihn jetzt fest im Griff, und er konnte sich diesem nicht entziehen; ja, das Merkwürdige war: er wollte das gar nicht. Als ob er auf seine Vergangenheit süchtig geworden wäre, hielt er seinen Blick, beinah wie ein Voyeur, unverwandt auf all das Unangenehme, Kata­strophale gerichtet, das ihn einst heimgesucht. Und Julia Lambertz hatte dabei eine wichtige Rolle gespielt, eine verhängnisvolle Rolle! Doch er war redlich genug, nie­mand anderem als sich selbst die Schuld an sei­nem Unglück zu geben, ein Unglück, das sich bald verschärfte, dass sich wie ein scheußlicher, triefäugiger Begleiter an ihn kettete, als hätte dieser Ge­selle eine maßlose Zuneigung zu ihm entwickelt und er wäre außerstande gewesen, dieses hässliche, pockennarbige und krankmachende In­dividuum abzuschütteln. Als Unbill und Verhängnis bei ihm nicht aufhören wollten, glaubte er sich schon von wütenden Erinnyen verfolgt; dann wieder verglich er seine heillose Lage mit einem Labyrinth, in das man ihn zur Strafe hineingestoßen. Aber zur Strafe weswegen? Und wer hätte die Strafe befohlen? Das Schicksal? Gott? - El­mar hatte sich schon Hunderte Male über diese Fragen das Hirn zermartert. Doch an irgendeine gemeine, niederträchtige Tat, die er je begangen haben könnte und die vielleicht die rächende Nemesis auf den Plan gerufen, erinnerte er sich nicht. Jeden­falls fühlte er sich damals wie in einem Labyrinth gefangen: Monate­lang, wenn nicht Jahre kam es ihm vor, als stolperte er auf endlosen Wegen umher oder er irrte in ver­schachtelten Gängen von Tür zu Tür, ohne eine offen zu finden, offen für einen Weg zurück in die Freiheit, zurück in ein halbwegs normales, bürgerliches Dasein. Hinzu kam die rätsel­hafte Erkrankung: Ein unbekanntes Virus sei schuld an den wiederkeh­renden Fieberschüben, sagten ihm die Ärzte, schuld auch an der nur schwer zu behe­benden körperlichen Schwäche. Auch Gedächtnis- und Konzentrations­störungen suchten ihn heim, verbunden mit Reizbarkeit und Grübelzwang!

Erst nach langer Zeit wendeten sich die Ereignisse wieder zu seinem Vorteil, und sein Leiden fand allmählich ein Ende: Ein Arzt entdeckte gegen alle Erwartung ein Medikament, welches seiner Krankheit endlich Einhalt gebot; die Fiebersymptome verschwanden, die Reizbarkeit und die körperliche Schwäche ließen nach, die alten Kräfte kehrten zurück. So konnte er endlich doch noch einen Ausweg aus diesem un­heimlichen Labyrinth finden, in dem er sich die ganze Zeit wähnte, buchstäblich in letzter Sekunde kroch er aus den Gewölben seiner Erniedrigung heraus und kehrte in ein freies, respektables Leben zurück. -

Elmar schaute auf die Uhr. Er musste seinen fatalen Überlegungen Einhalt gebieten, denn er hatte noch viel vor in Waldstädten. Vor allem wollte er Frau Lambertz und Julia, falls sie schon eingetroffen war, nicht zu lange warten lassen. So schob er die unaufhörlich auf ihn einstürzenden Erinnerungen beiseite, warf sie einfach weg, wie man ein zu schwer gewordenes Gepäckstück wegwirft, und kehrte eiligen Schrittes zu seinem Wagen zurück. Rasch ließ er den Motor an und fuhr bald darauf auf der Landstraße weiter, Richtung Waldstädten.

Nicht lange dauerte es, und er war in Waldstädten angekommen. Da er nun seit lan­ger Zeit wieder einmal in seiner alten Heimatstadt weilte, überlegte er, ob dieser Auf­enthalt nur dazu dienen sollte, einer Bekannten, die ihm eigentlich herzlich fremd ge­worden, einen Besuch abzustatten. Gewiss, seine einstige Verlobte sollte auch zuge­gen sein, und nicht zuletzt diese Aussicht, Julia wiederzusehen, hatte den Ausschlag gegeben, dass er sich zu diesem Abstecher nach Waldstädten heute früh entschloss. Aber Julia wäre ja morgen auch noch da und übermorgen ebenso. Die erneute Be­gegnung mit ihr könnte er also verschieben, ja, der Gedanke eines Aufschubs war ihm ganz recht, er könnte sich dann auf dieses Zusammentreffen, das ihn bereits seit seinem Aufenthalt bei den Kerners in eine lange nicht gekannte Erregung versetzte, etwas besser einstimmen. Die Zwischenzeit könnte er dazu nutzen, Waldstädten und Umgebung neu zu entdecken und natürlich auch alte Orte seligen Angedenkens auf­zusuchen, an denen er früher oft verweilte und mit denen er viele gute, leider oft auch unschöne Erinnerungen verband. Da er ohnehin schon auf zahlreichen Wegen der jüngeren und auch der ferneren Vergangenheit gewandelt war, sträubte er sich gar nicht mehr gegen dieses Verlangen, in die früheren Zeiten zurückzublicken, ja, er war fast schon, wie auch zuvor in dem Waldstück nahe Waldstädten, auf seine Ver­gangenheit süchtig geworden. Dieses Suchtempfinden war sogar noch stärker, noch über­wältigender geworden als vor einer halben Stunde. Erinnerungen voller Weh­mut zogen ihm auf einmal in bunten Bildern durch die Seele, bemächtigten sich ihrer mit betörender Zaubergewalt und brachten alle seine Ent­schlüsse des Vortages, unter kei­nen Umständen in die Vergangenheit zurückzutauchen, zum Einsturz. Von der Faszi­nation ständig neu aufsteigender Erinnerungen überwältigt, war er jetzt fest ent­schlossen, länger in Waldstädten zu bleiben, nicht nur einen Tag, sondern zwei, viel­leicht sogar drei Tage länger, und die Gelegenheit wollte er dazu nutzen, sein Eltern­haus und seine nähere, ihm einst so teure Umgebung noch einmal zu besuchen, ein letztes Mal und dann nie wieder! Oder sollte es vielleicht doch noch mehrere, am Ende sogar viele, viele Male geschehen, dass er solche erinnerungsseligen Streifzüge in die Vergangenheit unternehmen könnte; dann nämlich, wenn Waldstädten und auch seine Umgebung für ihn zur neuen alten Heimat avancierte? Doch solche Vorstellungen entsprangen zunächst nur seinen irrationalen Wünschen - rief er sich zur Ordnung - , man könnte das auch törichte Spekulation nennen – oder noch besser: Hirngespinste! Als ob Julia zu so etwas.....; doch er wollte diesen Wahnsinnsgedanken nicht zu Ende

denken. Es war einfach...., und er sagte das jetzt laut zu sich: „Es ist alles zu albern, was ich mir da zurechtphantasiere!“ – So sprach er, im entschiedenen Ton. Vielleicht aber, überlegte er weiter, seinen ursprünglichen Plan endgültig über den Haufen wer­fend, vielleicht könnte er dem einen oder anderen Be­kannten aus alter Zeit einen Be­such abstatten, vorausgesetzt, sie lebten noch in Waldstädten oder in seinem Heimat­dorf, sie seien zurückgeblieben dort in dem Nest hinter den Wäldern, seien von An­fang an sesshaft geworden, heimatverbunden, verwurzelt mit ihrer Scholle, von der sie nicht lassen konnten oder nicht lassen wollten.

Da der Herbstregen, der ihn auf der Fahrt vorübergehend begleitete, schon lange auf­gehört, die dunklen Wolken sich längst verzogen hatten und die Sonne immer öfter durch die nun aufgelockerten Wolken hindurchschaute, zuerst schüchtern, verstoh­len, dann immer ungenierter, schließlich ihr volles strah­lendes Antlitz vorzeigend und ein freundliches Licht über die Lande ausgießend, beschloss er, sein Vorhaben sofort in die Tat umzusetzen. Er fuhr zu dem Hotel Krone, das ihm von früher her ein heimatlicher Begriff war, buchte dort ein Zimmer für zunächst eine Nacht. Dabei blickte er neugierig in das Gesicht der Hotelangestellten, ob es ihm bekannt vorkam und das Mädchen vielleicht, einen Alteingesessenen wiedererkennend, freudig rea­gierte. Jedoch stand da eine fremde Person vor ihm, die ihn nur geschäftsmä­ßig-freundlich anlächelte.

Sein Gepäck ließ er von einem Hotelboy auf sein Zimmer bringen, dort zog er sich rasch eine saloppe Wanderjacke über und wechselte die Schuhe. Dann verließ er das Hotel und ging die Straße zum Marktplatz hinunter, wo die Enkdorfer Straße ein­mündete, auf der er die beträchtliche Strecke bis zu seinem Heimatdorf Enkdorf wandernd zurücklegen wollte. Er hatte die ganze Zeit nur gesessen, zuerst bei seiner Mutter, dann bei den Kerners und immer wieder in seinem Wagen, und jetzt sollte er schon wieder sitzen, in einem Bus nach Enkdorf? Nein, er brauchte endlich wieder Bewegung! So entschloss ich sich also, die sechs Kilometer nach Enkdorf zu Fuß zu­rückzulegen.

Als er gerade das Ortsausgangsschild von Waldstädten passierte, fuhr ein Opel Re­kord an ihm vorbei, bremste plötzlich mit quietschendem Geräusch und blieb stehen. Indem Elmar auf den Wagen zuging, wurde dessen Tür geöffnet und ein untersetzt wirkender Mann stieg aus und lächelte ihm entgegen.

„Ist er’s oder ist er’s nicht?“, rief der Mann aus, „Elmar Redlich! Tatsächlich, er ist es! Guten Tag, Elmar!“

Aus einem rundlichen Gesicht blickten ihn kleine, fast schlitzartig zugeknif­fene Au­gen an. Während er ein kräftiges Händeschütteln über sich ergehen lassen musste, überlegte er krampfhaft, mit wem er es zu tun hatte.

„Erinnerst du dich nicht? Jörns mein Name, Holger Jörns, drei Klassen unter dir - ge­meinsames Pfadfinder-Zeltlager in Obermais 19**! - Na, klickt es?“

Nein, es klickte nicht! Elmar tat aber so, höflicherweise, als käme ihm gerade die Er­leuchtung. Jörns, der seine Verlegenheit nicht bemerkte, gab ihm in Sekundenschnel­le einen Abriss über sein Leben: Elmar erfuhr, Jörns sei Journalist geworden und zur Zeit als Redakteur beim Waldstädter Tagesblatt tätig. Er sei gerade unterwegs nach Waldgirmes, wo sich ein schwerer Lasterunfall mit zwei Schwerverletzten ereignet habe. Das schwere Unwetter heute Morgen, verbunden mit einem Erdrutsch, habe den Unfall verursacht, sagte er. Er beabsichtige, an der Unfallstelle für seine Zeitung nähere Erkundigungen einzuholen, die er für die morgige Ausgabe schnell noch ver­werten wollte.

Indem Elmar immer noch angestrengt nachdachte, wo er diesen Jörns einordnen soll­te, hörte er ihn plötzlich fragen:

„Willst wohl ein bisschen Heimatluft schnuppern, was?“

„Ja, das auch! Bin unterwegs nach Enkdorf, meinem Heimatort,“ erwiderte Elmar.

„Was, die weite Strecke! Komm, steig’ ein, ich fahr’ dich hin. Enkdorf liegt ja auf meinem Weg. Wir können uns unterwegs ein bisschen unterhalten, über die alten Zeiten!“

Elmar zögerte. Nein, verlockend war das nicht, was Jörns ihm da vorschlug. Erstens wollte er sich ja ein bisschen bewegen und zweitens ganz gerne alleine seinen Ge­danken und Betrachtungen nachhängen und nicht mit so einem Journalisten plau­schen, den er gar nicht mehr kannte und der ihm womöglich seine schönen Erinne­rungen zerredete und zerquatschte. Doch rücksichtsvoll, wie er nun einmal war, wollte er nicht unhöflich sein. So nahm er das Angebot an, stieg in Jörns’ Wagen, und bald fuhren sie auf der immer noch nassen Fahrbahn in Richtung Enkdorf. Jörns war ein aufgeschlossener und, wie von Elmar erwartet, redseliger Mann, der seine Gedanken geschickt und fließend formulierte. Elmar schätzte ihn auf knapp über 40. Nachdem Jörns ihm noch einiges über seinen Werdegang erzählt hatte, erkundigte er sich nun, wie es seinem Mitfahrer in seinem Leben ergangen sei, und dieser berichtete ihm darüber in knappen Ausführungen.

„Aha, Lehrer am Gymnasium bist du; Studienrat also; interessant! - Wir haben übri­gens auch Kinder, zwei Töchter, beide gehen noch zur Schule, aufs Gymnasium von Waldstädten, beide!“

„Aha!“

Jörns wandte sich jetzt, während er den Wagen in mäßigem Tempo auf der Landstra­ße durch den Mönchswald steuerte, mit einer plötzlichen Wendung den früheren Zei­ten zu, mit einer Entschiedenheit, die Elmar verblüffte. Der Journalist rechtfertigte das so:

„Also, zwischen uns ist damals ja etwas Gemeinsa­mes entstanden, Elmar, weißt du? Etwas - wie soll ich sagen: etwas Verbindendes. Wir haben diese Zeiten zusammen erlebt - nicht als Freunde, so meine ich das nicht, auch nicht in einer engeren Kame­radschaft; das ging ja gar nicht, wir gehörten ja ver­schiedenen Jahrgängen an. Aber ich möchte doch sa­gen: Wir haben in einer Art lockerer Verbindung diese Zei­ten er­lebt, denn immerhin sind wir uns in der Schule recht häufig begegnet, auch auf der Universität, nicht wahr? Du kannst dich sicher erinnern!? - Einmal auch auf einem Pfadfinderzeltlager - Ja, ja, lang ist’s her - ich glaube...., wenn ich nicht irre - mehr als 20 Jahre! Kann das sein?“

„Ja, ja, man soll’s nicht für möglich halten“, erwiderte Elmar, „ .....wie die Zeit ver­geht....!“

Ihm fiel jetzt tatsächlich ein, dass der junge Jörns am äußersten Rande seines jugend­lichen Bekanntenkreises eine gewisse, wenn auch sehr bescheidene Statistenrolle ge­spielt hatte, und so war er doch etwas gespannt, auf welche gemeinsamen, „verbin­denden“ Erlebnisse sein alter Bekannter zu sprechen kommen würde.

„Also!“

Jörns räusperte sich und begann mit seinem Rück­blick:

„Eins habe ich damals nicht ganz begriffen, Elmar; warum ist deine Familie, warum seid ihr so mir nichts, dir nichts von Enkdorf weggezogen? Dein Vater war doch ein Alteingesessener. Auch bei uns in Waldstädten war er sehr bekannt - und hochgeach­tet! Schon wegen seiner er­folgreichen politischen Tätigkeit. War er nicht sogar Ab­geordneter im Kreistag?“

„Ja, das stimmt, er war Kreistagsabgeordneter“, sagte Elmar, und er legte sich einige passende, unverbindliche Erklärungen zurecht, um Jörns Neugierde zu befriedigen: „Nun, warum wir weggezogen sind, Herr Jörns....?“

„Holger!“, rief Jörns dazwischen, „sag’ Holger zu mir; wir duzen uns doch, als ehe­malige Waldstädter Gymnasiasten, was?“

„Also gut: Holger! – Tja, warum sind wir weggezogen, damals...? Dafür gibt es eine ganz einfache Erklärung: Mein Vater ist versetzt wor­den, und da musste ihm die gan­ze Familie wohl folgen. Übri­gens hatte man ihm die Versetzung mit einer Beförde­rung schmackhaft gemacht: Aus dem Oberförster wurde bald ein Forstrat! Die größe­re Verantwortung lockte ihn wohl, denn er fühlte sich körperlich und geistig ausge­zeichnet, so konnte er den Wegzug aus der Heimat, aus seiner Verwurzelung sozusag­en, leicht verschmerzen. Ganz sicher hat er aber nicht nur mit einem lachen­den, sondern auch mit einem weinenden Auge die Heimat verlassen!“

„Aha, das leuchtet ein, leuchtet vollkommen ein!“, erwiderte Jörns und schaute El­mar mit seinen Schlitzaugen lange ver­stohlen von der Seite an, als wollte er dessen Gesichtsausdruck prüfen, ob dieser vielleicht mehr als die eben glatt formulierten Er­klärungen preisgab, mehr an eigentlichen Beweggründen und innersten Gedanken. „Weißt du, Elmar, ich will ehrlich sein: Ich dachte, es hätte da einen anderen Grund gegeben; aber, na ja, man soll halt nicht denken, nicht wahr? Das heißt, man soll nicht spekulieren; sonst liegt man allemal da­neben!“

Jörns räusperte sich auffällig und schaute angestrengt auf die nassgeregnete Land­straße, als erwarte er dort ein Hindernis oder ein Schlagloch, dem es auszuweichen gelte. „Anderseits gibt es .Leute“, begann er von neuem, „und das ist gewiss keine Spekulation von mir, denen wird die Heimat einfach zu eng; die Decke fällt ihnen auf den Kopf - du weißt, Tapetenwechsel ist manchmal ein gutes Mittel, um Abstand zu bekommen, Abstand von ...., sagen wir: Konflikten, die..... einen belasten, die ei­nem das ganze Leben in einer bestimmten Umgebung vermiesen. Aus dieser Umge­bung muss man dann einfach raus, und zwar so schnell wie möglich! - Ich möchte dir mal ein Beispiel geben...., pass’ auf!“

Ulrike D.

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